Marshalls Gehirnoperation im Alter von sechsundfünfzig Jahren war ein extremer Eingriff und signalisierte den Anfang eines Endes: den Höchststand seines Ruhms, seiner Verdienstmöglichkeiten, seiner Vitalität und seiner Fähigkeit, Informationen aufzusaugen und Muster zu erkennen. Nach einer mehrere Monate langen Genesungsphase war er wieder der Alte, aber etwas hatte sich verändert, und nicht bloß in seinem Körper. Der McLuhan-Moment war vorbei, auch wenn es erst Jahre später offensichtlich wurde. Die Gänseblümchen, Flötenmusik und Love-ins der Sechziger wurden überschattet von Vietnam, Charles Manson und der Ermordung Robert Kennedys. Quasi über Nacht breiteten sich Angst, Zynismus und Kälte in der Welt aus.
Marshalls Einladungen zu Vorträgen wurden seltener. Gary Wolf, ein amerikanischer Autor, der für Wired eine Titelgeschichte schrieb, in der er als Marshall McLuhans Geist online interviewt wurde, fasste Marshalls Selbstvermarktung folgendermaßen zusammen:
McLuhans seltsames Forschungsgebiet und keinen Gewinn bringende wirtschaftliche Beratung hoben ihn von so bekannten Rednern wie Alvin Toffler, Peter Drucker und selbst John Naisbitt, mit dem er zusammenarbeitete, ab. McLuhan war erstaunlich wenig daran interessiert, wie die Führungskräfte aus der Wirtschaft seine Erkenntnisse umsetzten und welche Ergebnisse sie damit erzielten. Seine Vorträge entfernten sich weit von den angekündigten Themen, und sein Publikum blieb oft ähnlich ratlos zurück wie seine Leser.
In den frühen Sechzigern trat Pierre Trudeau als neues Gesicht für Kanadas Fortschritt und Zukunft auf den Plan. Wie die meisten Menschen lernte Marshall gern Prominente kennen, und Pierre Trudeau stand für ihn an erster Stelle – er war frommer Katholik und offen für neue Ideen und Sichtweisen auf die Welt. Ihre gegenseitige Zuneigung äußerte sich vor allem in Briefen. Marshall hoffte stets, seine Entdeckungen könnten für Trudeau von Nutzen sein, und konfrontierte ihn häufig mit Ideen, die dieser sich aufmerksam anhörte. Das Problem war nur, dass sie keinen direkten politischen Nutzen hatten. Politiker, die sich von seinen Büchern neue Strategien und dadurch kurzfristige Vorteile erhofften, wurden enttäuscht.27 Nicht nur verhielt sich Marshall in der Öffentlichkeit politisch neutral, auch seine Arbeit war im Grunde apolitisch, zumindest auf kurze Sicht. Die Einzigen, die davon profitierten, waren die Werber und Medienleute, die zu ihm kamen (und in der Regel fröhlich mit dicken Schecks winkten, was seine akademischen Kollegen nur noch mehr erzürnte). Da hatte er doch tatsächlich eine wirklich neue Theorie aufgestellt, mit der sich die Sicht des Einzelnen auf die Welt formulieren ließ, und trotzdem gab es keine Revolution, weder marxistisch, industriell, freudianisch noch sonst irgendetwas.
In anderer Hinsicht waren seine Schriften äußerst politisch, nur dass die Veränderungen, die er voraussagte (nicht unbedingt »vorhersah«), nicht über Nacht eintraten. Es ging um Veränderungen in der Wahrnehmung – ein kultureller Wandel, der sich auf die Evolution der Menschheit auswirkte und erst in Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden abgeschlossen sein würde.
Was das globale Dorf betraf, war Marshall eher ein Gegner davon: »Wenn Menschen sich zu nahe rücken, gehen sie immer wilder, primitiver und ungeduldiger miteinander um … das globale Dorf ist ein Ort, an dem die Schnittstellen hart aufeinander treffen und aggressive Situationen entstehen.« Und: »Alle Formen von Gewalt sind ein Streben nach Identität … der alphabetisierte Mensch ist empfänglich für Propaganda … ein Eingeborener lässt sich nicht von Propaganda verleiten. Man kann ihm billigen Schmuck verkaufen, aber keine Ideen.«
Vielleicht weil er merkte, dass sein Werk keine offensichtliche politische Dimension hatte, arbeitete Marshall 1968 mit dem Team von Massage, dem Grafiker Quentin Fiore und dem Autor Jerome Agel, an einem neuen Buch. War and Peace in the Global Village ist eine Collage von Bildern und Texten, die die Auswirkungen der elektronischen Medien und neuen Technologien auf den Menschen illustrieren. Anhand eines komplizierten Bildes von der Evolution, das zum großen Teil von Joyces italienischem Lieblingsphilosophen aus dem 18. Jahrhundert, Giambattista Vico, beeinflusst ist, beschäftigt sich das Buch unter anderem mit den zehn Stufen der Menschheit, die Marshall im Dickicht von Finnegans Wake ausmachte und die Joyce »Donner« nannte.
Es ließe sich darüber streiten, ob die Wahl von zehn Stufen nicht eher theoretischer als indexikalischer Natur ist – Joyce-Experten sind sich darin immer noch nicht einig –, aber indem er daran festhielt, hatte Marshall eine Reihe von Parametern, die ihn davon abhielten, zu weit vom Thema abzuschweifen.
Tatsache ist, dass Marshall einen langen schmerzhaften Prozess vorausgesagt hat, bei dem technologische Umbrüche überall auf der Welt einen enormen Identitätszerfall auslösen und zu einer erschreckenden Kluft zwischen der Realität dessen, was der Einzelne tatsächlich erreichen kann, und der Irrealität einer von den elektronischen Medien bebilderten Welt führen würden. Das Ergebnis seien Auseinandersetzungen, Gewalt und Krieg.
Aber Marshalls Visionen waren eher künstlerischer Natur als eine Do-it-yourself-Anleitung. Sie stellten Behauptungen auf, ohne irgendwelche Daten oder Zahlen mitzuliefern. In Marshalls Büchern nach Andeutungen darüber zu suchen, was uns in, sagen wir, einem Jahr erwartet, ist ein poetisches oder künstlerisches Experiment – man bekommt eine Ahnung von der Zukunft, aber kein Rezept oder eine konkrete Voraussage. Es wäre sicherlich wünschenswert, dass die Menschen Marshall auch nur einen Bruchteil der Zeit widmeten, die sie Schwachköpfen wie Nostradamus schenkten, die tatsächlich behaupteten, in die Zukunft sehen zu können. Man kann es Religion nennen oder Optimismus, aber Marshalls Hoffnung war, dass der Mensch zuallererst ein soziales Wesen ist und dass unsere Fähigkeit, Intelligenz auszudrücken und Kulturen zu errichten, auf unseren natürlichen sozialen Bedürfnissen als Individuen beruht.