Ich empfinde Kunst, die etwas zu sagen hat, als eine Art Verteidigungsfrühwarnsystem, bei dem man sich stets darauf verlassen kann, dass sie einer Kultur erklärt, was mit ihr passiert.
M. M.
Das Verteidigungsfrühwarnsystem
Marshall und Familie kehrten 1968 aus New York nach Toronto zurück. Ihr erster Schritt war der sofortige Umzug aus der Wells Hill Avenue in eine vornehme Gegend am Wychwood Park. Es war ein fast herrschaftliches Anwesen und Marshalls letztes Zuhause. Die ruhige Lage war wie geschaffen für Spaziergänge und zum Denken.
Das Centre for Culture and Technology bezog ebenfalls neue, größere Räumlichkeiten im ersten Stock einer nur wenige Meter vom alten Standort gelegenen ehemaligen Remise. Es war chaotisch, bis oben hin voll gestopft und bald überall beliebt. Für Marshall war es eine Festung, in der außer ihm seine Sekretärin Margaret Stewart, sein Freund Harley Parker, sein Bruder Maurice und sein Sohn Eric lebten, auch wenn die Atmosphäre etwas angespannter war als früher, da Marshall seit seiner Gehirnoperation zwar gottesfürchtiger, aber auch aufbrausender und zerstreuter war und dazu neigte, die Menschen um ihn herum nicht allzu freundlich zu behandeln.
Im Sommer 1968 beschloss Marshall außerdem, zusammen mit Eric und einem New Yorker namens Eugene Schwartz (der zur Verbreitung von Marshalls Lehren die Human Development Corporation gegründet hatte) einen monatlichen Newsletter namens The DEW-Line zu veröffentlichen. Die Distant Early Warning Line war eine Kette von Radarstationen entlang der kanadischen Arktis, in Alaska, den Färöer-Inseln, Grönland und Island. Ihre Aufgabe bestand darin, während des Kalten Krieges mögliche sowjetische Luftangriffe aufzudecken, bis sie mit dem Aufkommen der Internkontinentalraketen als überholt galten. Der Newsletter bestand aus wiederverwerteten McLuhanalien, erschien im Letter-Format mit Kunststoff-Einband und wurde wie folgt angekündigt: HIERMIT MÖCHTEN WIR SIE EINLADEN, EINER AUSGEWÄHLTEN GRUPPE VON FÜHRENDEN PERSÖNLICHKEITEN AUS WIRTSCHAFT, WISSSENSCHAFT UND POLITIK BEIZUTRETEN, DIE IN KÜRZE DEN WOHL AUFSEHENERREGENDSTEN NEWSLETTER ALLER ZEITEN ERHALTEN WERDEN. Das Ganze sollte dann als Buch veröffentlich werden, aber daraus wurde nichts. Und auch der Newsletter wurde eingestellt, nachdem eine von Eugene Schwartz organisierte Firmentagung auf den Bahamas (mit Vorträgen von McLuhan, Buckminster Fuller und anderen) sich als finanzieller Flop erwies und Marshall nicht bezahlt werden konnte. Marshall kam zu dem Schluss, dass Schwartz ihn bei seinen Unternehmungen übers Ohr haute, und so war 1970 Schluss mit The Dew-Line, die allerdings sowieso eher vor sich hingedümpelt hatte. Man darf nicht vergessen, dass Marshall ein Kind der Weltwirtschaftskrise war, ein Umstand, den jüngere Generationen nicht unterschätzen sollten. Aber Elsie hatte ihn gelehrt, sowohl den Erfolg als auch seine Risiken zu schätzen. Und so lebte er in dem ewigen Konflikt: Lebe sparsam, um zu überleben versus Wer sein Geld nicht ausgibt, kann auch gleich arm sein.
1969 veröffentlichte Marshall ein dünnes Buch mit dem Titel Counterblast. Es war in neofuturistischer Dada-Typografie von Harley Parker gesetzt und brachte damit Marshalls Einstellung zur Revolutionierung linearer Schrift zum Ausdruck. Der Titel war eine Anspielung auf Wyndham Lewis, der 1914 die in zwei Ausgaben erschienene Zeitschrift Blast herausgebracht hatte, und bezog sich demonstrativ auf einen bevorstehenden zweiten Ausbruch der Moderne, der jede Linearität über den Haufen werfen sollte. Das Buch kam heraus, verschwand wieder und ist heute nur noch als Sammlerstück erhältlich. Ebenso in der Versenkung verschwand ein gemeinsames Buchprojekt, an dem Marshall sieben Jahre lang mit seinem alten Freund Wilfred Watson gesessen hatte, wobei Marshall gegen Ende Probleme mit der Zusammenarbeit hatte. Es erschien 1970 unter dem Titel From Cliché to Archetype und war ein Sammelsurium, auf das keiner der beiden Männer stolz war. Und doch bietet es wie alle seine Projekte einen hervorragenden Nährboden – vor allem, weil es die wechselseitige Beziehung zwischen E- und U-Kultur, zwischen Pop-Art und den schönen Künsten betonte –, in den der Leser ein paar Samen pflanzen und darauf neue, unbekannte Blumen züchten kann.