Wir schreiben das Jahr 1940, und das 20. Jahrhundert ist bereits vier Jahrzehnte alt, aber es fühlt sich an, als hätte es gerade erst begonnen. Du lebst in St. Louis, Missouri, frisch verheiratet mit einer wunderschönen Frau. Dein Lieblingsgericht ist Steak. Auf dem täglichen Weg in die Universität, wo du unterrichtest, siehst du Werbeplakate, auf denen irgendein Mist angeboten wird: Reifen, Strumpfhosen, Suppen, Golfbälle, Schinken – alles Mögliche. Und doch ist das alles durchaus verführerisch: Die Brüste der Frauen hängen nie herunter, die Männer sind gebaut wie Boxer und die Produkte so fantastisch, dass man es kaum glauben kann. Du willst darauf hinweisen, wie absurd diese bunte aufgemotzte Welt teilweise ist, aber das geht nicht, weil Massenkultur in den Schulen kein Thema ist, und den Studenten ist es egal. Wozu sich damit beschäftigen? Ist doch nur Werbung. Du bist der Meinung, dass Werbung eine ästhetische Erfahrung ist, und trotzdem dauert es noch fünfzehn Jahre, bis die ersten Anzeichen von Pop-Art dir Recht geben. Wenn du dich auf dem Planeten umschaust, gibt es in keiner Kultur eine andere Kunstform – ob verbal oder visuell –, die die Massenkultur auf so analytische, aufgeschlossene und wenn nötig großzügige Weise anspricht. Die Dadaisten hatten sich für Urinale und Schneeschaufeln begeistert – immerhin waren sie offen für neue Ideen. Und die Kubisten hatten bereitwillig mit neuen Perspektiven experimentiert, aber das war drei Jahrzehnte her, also bitte. Salvador Dalí? Ein Spinner … und außerdem Freudianer.
Niemand sonst auf der Welt, bei einer (damaligen) Bevölkerung von 2,5 Milliarden, schien irgendetwas davon mitzubekommen. Hey! Seht euch doch mal an, was hier los ist, Cheerleader-Mädchen haben Fellatio mit Colaflaschen, Geschäftsmänner lassen Hosen fallen, die nie gebügelt werden müssen. Tyrannen werden mit denselben Strategien beworben wie Waschmittel. Du Armer! Du Armer! Du bist allein, mitten auf einem großen, unbeschriebenen Kontinent, läufst zur Arbeit und glaubst, verrückt zu werden, weil niemand außer dir die kranke Schönheit erkennt, die in all dieser beschissenen Werbung überall steckt. Und wie viel Geld da hineinfließt! Die besten und hellsten Köpfe, mit Geld gekauft, geplündert und verdorben. Na ja, jetzt klingst du allmählich wie eine kaputte Schallplatte, und irgendwo in deiner Seele fragst du dich, ob vielleicht wirklich etwas mit dir nicht stimmt, wenn du glaubst, dass diese billig-aufreizenden Werbebilder, die überall die Landschaft verschandeln, eine Bedeutung haben, die über das Offensichtliche hinausgeht.
Wenn eine Information sich an einer anderen reibt, ist das Ergebnis aufrüttelnd und fruchtbar.
M. M.
Fast alle neuen Ideen haben zum Zeitpunkt ihres Entstehens etwas Törichtes an sich.
Alfred North Whitehead
Bumstead
Marshall und Corinne kehrten 1940 nach St. Louis zurück. Marshall nahm seine Lehrtätigkeit an der St. Louis University wieder auf, aber es war nicht mehr dasselbe wie vorher. William McCabe war durch den weit weniger wagemutigen Norman Dreyfus ersetzt worden, der McCabe nicht ausstehen konnte und den Schützlingen seines Vorgängers das Leben zur Hölle machte. Vor allem Marshall, den er mit Routinearbeiten betraute wie zum Beispiel Studienanfänger in Englisch zu unterrichten. Und als die USA Ende 1941 der Krieg erreichte, wurde Marshall eingezogen, um – in Wellblechhütten, nach seiner regulären Arbeit – junge Rekrutinnen im Abfassen von Berichten zu unterrichten.
Zwischen Marshall und Dreyfus verlief ein tiefer Graben, eine Gegensätzlichkeit in der Einstellung und im wissenschaftlichen Standpunkt, wie sie Marshall seine gesamte Karriere über begegnen sollte. McLuhan war berüchtigt dafür, Entscheidungen zu treffen und sich erst im Nachhinein um eine Erklärung zu kümmern – ein rotes Tuch für jeden orthodoxen Fakultäts-Torero. Es machte ihm Spaß, Ideen aufeinanderprallen zu lassen und zu sehen, was dabei herauskam. (Meine Güte, wie viel Freude er doch mit dem Internet gehabt hätte).
Marshall war ein schneller Leser und erfasste Gedanken sofort, aber er hatte nicht die Geduld, sich durch ein Buch zu arbeiten, das ihn nicht von Anfang an interessierte. Für diese Fälle entwickelte er eigens eine Technik: Jedes neue Buch, das er in die Hand nahm, schlug er auf Seite 69 auf, und wenn die ihn nicht beeindruckte, las er es nicht.12 Die angespannte Stimmung, die sich in Dreyfus’ Abteilung breit machte, war noch die nächsten Jahrzehnte über spürbar. Ob abtrünnig oder nicht, Marshall konnte als Wissenschaftler ziemlich schlampig und ungenau sein, und schwammig in der Sprache. In den folgenden Jahren bekam die Akademie es regelmäßig mit der Angst zu tun, sobald er ein wichtiges neues Thema aufgriff, aber neben ein paar überflüssigen, bloß systemerhaltenden Regeln brach er dabei eben tatsächlich auch solche, die sinnvoll und wichtig waren. Und so wurde er von den Kollegen entweder geliebt oder gehasst. Nimmt man dann noch Marshalls paranoide Ader hinzu, überall Feindseligkeiten zu wittern, wo keine waren, wird klar, wie wenig geeignet er für dieses akademische Minenfeld war. Dass er es in der universitären Welt so lange aushielt, grenzt an ein Wunder.
Womöglich gab es noch andere Gründe für die Feindseligkeit, die McLuhan hervorrief. Dass er sich von seiner Zeit distanzierte und die Moderne ablehnte, dazu seine Tendenz zur Paranoia, all das entfernte ihn ganz klar von seiner Umgebung und machte ihn nicht unbedingt umgänglicher. Genau genommen war er ein verschrobener alter Kauz mit einem Haufen neuer Ideen, und manche Leute konnten Marshalls Erscheinungsbild und das, was aus seinem Mund kam, nicht miteinander in Einklang bringen (und das gilt heute noch). Hätte er ausgesehen wie Bob Dylan, wäre vielleicht einiges anders gelaufen.
Im Januar 1942 brachte Corinne einen Sohn zur Welt, Thomas Eric, das erste von sechs Kindern. Für Marshall begann eine neue Lebensphase, und mit ihr – bedingt durch die Vaterschaft und eine Faszination für die Insignien der modernen Konsumgesellschaft – eine seltsame Obsession für die Comic-Figur Dagwood Bumstead.13 Ja, das ist so merkwürdig, wie es klingt, und nein, er hat keinen Schrein mit vergilbten Zeitungsausschnitten und einer Voodoo-Puppe drum herum gebaut. In seinen Augen verkörperte Dagwood alles, was mit amerikanischen Männern nicht stimmte, und so wurde er zum Ausgangspunkt seines 1951 erschienenen Buches Die mechanische Braut, einer Sammlung analytischer Essays und häufig brillanter Tiraden gegen die Erzeugnisse der kurzlebigen Massenkultur, und vor allem dagegen, wie die Zeitschriftenwerbung den Menschen Nachkriegsträume von einem strahlenden Alltag verkaufte.
Marshall sah Dagwood als entmannte Drohne, die das Familienleben im industriellen Amerika auf drei täglich, und sonntags in Farbe, erscheinende rechteckige Bildchen reduzierte. Man muss kein Genie sein, um in dem tollpatschigen Dagwood Marshalls Vater Herbert zu erkennen und in der heimlichen Domina-Gattin Blondie seine Mutter Elsie. Nachdem er als Kind miterlebt hatte, wie sie den Vater tyrannisiert und immer wieder verlassen hatte (wenn sie beruflich auf Reisen war), fällte Marshall sein Urteil: Dagwood hatte seine täglichen Erniedrigungen mehr als verdient.
Marshalls Dagwood-Fimmel machte deutlich, dass seine kritischen Texte erst dann wirklich frisch und lebendig wurden, wenn er formales akademisches Wissen mit der Beobachtung von Massen- und Medienkultur verschmolz – wenn er Jahrhunderte und Kontinente umspannte und sie mit seinen Worten zusammenbrachte. In einem Essay über Jukeboxes schrieb er:
Für den Stammesmenschen ist der Raum ein unkontrollierbares Geheimnis. Für den technischen Menschen ist es die Zeit. Zeit ist immer mit Tausenden von Entscheidungen und Unentschlossenheiten belastet, was einer Gesellschaft, die so viel Selbständigkeit an rein automatische Prozesse und Routinen abgetreten hat, Angst einjagt. Das Problem besteht deshalb darin, panisches Entsetzen durch »Zeit-Totschlagen« oder durch die Zerstückelung der Zeit in »Ragtime« unter Kontrolle zu bekommen.
Selbst ärgste Kritiker müssen zugeben, dass McLuhans Angriffe auf die Konsumkultur sowohl brillante Analysen sind – und dabei eine Sprache für eine Textgattung fanden, die bisher nie Gegenstand der Kritik gewesen war – als auch ein gurgelnder Kessel kluger Bösartigkeiten. Marshalls Soufflé fiel nur dann zusammen, wenn er vom Thema der Moderne und ihren neuen Ausdrucksformen abkam. Ob selbstvergessen oder nicht, jedenfalls erkannte er bald, dass seine Argumente und Sprache nur dann wirklich Anklang fanden, wenn er die Medien-Taste drückte. Falls er das nicht tat, galt er als junger alter Sack – was in Ordnung war, hätte er ein ganz normaler Akademiker sein wollen. Aber das war nicht der Fall. Elsies Sohn wollte glänzen. Schon damals in der tristen Eintönigkeit von St. Louis wusste Marshall, dass, wenn er sich einen Namen machen wollte, er aus dem Wissenschaftskäfig ausbrechen und dieser Bruch etwas mit Massenkultur zu tun haben musste.
Marshalls Fixierung auf Dagwood brachte außerdem seine Homophobie zum Ausdruck. Man kann es tatsächlich nicht anders beschreiben. Blondie (die die Entertainment-Industrie verkörperte) machte aus Amerikas Männern schwuchtelige Weichlinge. Marshall war der Meinung, Homosexualität »grassierte damals, dank Blondie, die Dagwood vor ihren Kindern Cookie und Alexander seiner Manneswürde beraubte. Diese Homosexualität war wahrscheinlich die größte Bedrohung der damaligen Moral.« Ehrlich, so etwas denkt man sich nicht aus. Genauso wenig freundete sich Marshall mit der Liberalisierung der Nachkriegszeit an, einschließlich der Frauenbewegung. Frauen beschrieb er als »von Natur aus fügsam, unkritisch und Routine liebend.« Im Jahr 2010 hätte er sich damit auf einem Campus etwa drei Minuten lang halten können. In vielerlei Hinsicht war er ein mehr als konservatives Kind seiner Zeit, und dass er über seine reaktionären Vorstellungen von Politik und Gesellschaft, Geschlechterrollen, Sünde und Sexualität so gut wie nie ein Wort verlor, hat ihn vielleicht gerade noch mal davor bewahrt, seinerzeit marginalisiert zu werden.14
Reden wir nicht über den Krieg
Der Zweite Weltkrieg war mitten im Gange, aber inwiefern Marshall darin verwickelt war, erwähnen seine Biographen nur beiläufig. Seine Einstellung zum Krieg – den er in Cambridge offenbar ignoriert hatte und der die USA einen Monat, bevor sein erstes Kind geboren wurde, erreichte – spiegelt seinen störrischen Konservatismus wider. Es ist verblüffend, wie wenig Einfluss der Krieg auf seine innere und äußere Welt hatte. Seinen Biographen zufolge hatte Marshall keinerlei Sympathie für die Alliierten und betrachtete den Krieg als eine aktualisierte Übung, bei der der Tötungsprozess durch moderne Technologien homogenisiert wurde. Das soll nicht heißen, er sei gegen den Krieg oder Pazifist gewesen, dem war nicht so. Er wollte keine Partei ergreifen – merkwürdig, wenn man bedenkt, wo und zu welcher Zeit er gelebt hat. Oder hegte er gar Sympathien für die Achsenmächte? Wie dem auch sei, als kerngesunder Kanadier mit Anfang dreißig war Marshall erstklassiges Kanonenfutter und hätte in die US-Armee eingezogen werden können, zumal seine Tauglichkeit bei der Einberufungsbehörde in St. Louis im Dezember 1943 auf 1A eingestuft worden war. Im selben Monat erhielt er in Cambridge seinen Doktor für »Thomas Nashes Rolle im Bildungswesen seiner Zeit«.