Also dann, wie geht es weiter?
In Marshalls Werk lesen zu wollen, wie es mit unserer Kultur weitergeht, ist eine verlockende und gleichzeitig fragwürdige Idee. Wenn es einem beim Lesen des Zitats von 1962 auf Seite 10 kalt über den Rücken läuft, dann weiß man, dass Marshall vier Jahrzehnte vor der größten Veränderung in der menschlichen Kommunikation seit der Erfindung der Druckerpresse den Nagel auf den Kopf getroffen hat. Abgesehen von ein paar flüchtigen Bemerkungen gibt es kaum Grund zu glauben, er könne sich in anderen, geringeren Aspekten irren. Wird unser Leben noch schneller werden, als es sowieso schon ist? Ja. Wird die Retribalisierung weiter voranschreiten? Ja, aber es sind nicht nur die großen Stämme, die zusammenwachsen, sondern auch die kleineren: die Nachbarschaftswache, die Lego-Sammler, die Bisam-Fans … man muss nicht immer nur das Große, Böse sehen. Wird es mehr Gottesstaaten und rechtsgerichtete Regierungen geben? Wahrscheinlich. Allerdings weiß man nicht, ob diese Kulturen nicht danach auch durch neue Technologien unterminiert werden, so wie es sich bei den Auswirkungen des Mobiltelefons auf die Nahost-Wahlen gezeigt hat. Gesellschaften werden wachsen und schrumpfen, wie sie es immer getan haben, aber auf andere, neue Weise, in anderen Proportionen. Wird es eine neue Technologie geben, die das Internet verschlingt und zu seinem Inhalt macht? Auch das ist wahrscheinlich, und die Frage ist, in welcher Richtung wir am besten danach suchen. Wie würde man das gesamte Internet als Inhalt nutzen – so wie das Internet sich Fernsehen und Film einverleibt hat? Spannende Frage. Vielleicht sollten wir Marshall noch mal ganz offen und unvoreingenommen lesen und dabei daran denken, dass es ziemlicher Quatsch ist, bewusst nach der nächsten großen Technologie suchen zu wollen. Wenn die Reichsten und Klügsten unter uns das nicht können, wird sie vermutlich wieder ganz organisch in irgendeiner Garage entstehen, so wie das immer läuft.
Jedenfalls denke ich nicht, dass Marshall sich fragen würde, welche Technologie wohl als Nächstes kommt. Er würde sich wahrscheinlich eher darüber Gedanken machen, wie er unsere Seelen retten kann und wie unser Selbstgefühl und unsere innere Stimme mit immer neuen Welten klarkommen. Marshalls letzte Botschaft wäre womöglich gewesen, dass der Körper das Medium ist und wichtiger als alles andere.
Ich habe das Gefühl, dass die meisten Menschen heutzutage glauben, andere würden in einer Datenflut ertrinken, während ich gleichzeitig feststelle, dass die meisten Menschen sich mehr an Geschichten, Bildern, Worten und Ideen erfreuen, als irgendjemand es sich je hätte träumen lassen. Die Welt besteht nicht nur aus Marketing, Überwachung und Horrorstorys – und selbst wenn das Internet die globale Finanzkrise ausgelöst hat, dürfen wir nicht vergessen, dass die Welt zyklisch verläuft. Irgendwann kehren wird dorthin zurück, wo wir schon waren, aber natürlich wird, wo wir waren, dann ganz anders aussehen.
Jeder von uns sehnt sich nach Drama im Leben. Wir sehnen uns nach einem Sinn und danach, gebraucht zu werden. Niemals zuvor waren die Möglichkeiten, diesen Bedürfnissen nachzukommen, so zahlreich vorhanden, und niemals zuvor ist so ziemlich jedem von uns so bewusst gewesen, welche Konsequenzen dumme Ideen und nachlässiges Verhalten mit sich bringen können. So wie Marshall müssen wir an das Naturrecht glauben – und hoffen, dass, egal, woran Gut und Böse gemessen werden, das Gute immer ein Stück weiter vorne ist als das Schlechte.
Marshalls Leben zeigt uns die Majestät des menschlichen Gehirns mit all seinen Mängeln, Schrullen und Wundern. Es erzählt außerdem von einer Zeit, die inzwischen lange abgeschlossen ist, in der Gesetze neu geschrieben wurden, Nationalstaaten sich definierten und die Zukunft so deutlich und wunderbar vor uns lag wie ein Ort, den man eines Tages hoffte, besuchen zu können, so wie Rom oder Neuseeland. Wir können wehmütig an diese Zeit zurückdenken oder wir können nach vorne schauen und das Beste aus ihr mitnehmen. Und ein Teil davon bleibt unbestreitbar erhalten.
Wie gesagt, wäre Marshall nicht geboren worden, wäre an seiner Stelle ein Loch in der Welt, und ein Loch im Himmel. Wir können froh sein, dass er gelebt hat.
Ich habe mich unter anderem dazu entschlossen, dieses Buch zu schreiben, weil Marshalls Familie meiner eigenen so sehr ähnelt. Vor einem Jahr las ich in seiner Biographie, und es fühlte sich an, als sähe ich in einen Spiegel. Ich hörte mir seine Stimme auf YouTube an, und es war die Stimme meines Großvaters, Arthur Lemuel Campbell, geboren 1900, gestorben 1971, der bestaussehende Mann der kanadischen Prärie, ein Vertreter, der jeden Tag bei Wind und Wetter von der Stadt ins letzte Nest bis zum nächsten Genossenschaftsladen fuhr, und dabei an was weiß ich dachte – vielleicht an die Weite, die ihn umgab? Den Himmel und die Lerchen? Der Chevrolet macht ein seltsames Geräusch, soll ich ihn in die Werkstatt bringen? Vielleicht kam er sich modern vor, wie er mit seinem preiswerten, benzinbetriebenen Wagen Hunderte von Meilen zurücklegte, über Schlamm, Steine und Stoppelfelder, durch Insektenwolken, vorbei an Rindern und verwitterten Scheunen, in das platte, eintönige Land, zu den Menschen der Prärie – den Engländern, Iren, Schotten, Ukrainern, Isländern, Norwegern und den Mennoniten in den Trachten der Alten Welt – und an Gott dachte, an die Verdammnis, an Polio, Gesundheitsvorsorge und Fürst-Pückler-Eis, und wie er knauserig war, und sich fragte, ob die Evangelisten die Wahrheit sagten oder logen oder vielleicht beides taten, ohne es zu merken. Sich an einem rostigen Nagel zu verletzen, konnte tödlich enden. Zu viel Stolz machte die Seele kaputt. Ungeerntetes Korn war schlecht für die Seele – die Seele! Immer die Seele! Vielleicht würde er abends etwas zu trinken bekommen, ein Bier, einen Flachmann. Vielleicht ein Zimmer, vermietet von einer verlassenen Ehefrau, einem verbitterten Weibsstück oder einer kleingeistigen Kleinstadtschlampe. Und in den anderen Zimmern saßen die anderen Männer, die durch diese flache Einöde streiften, die gerade erst ans Stromnetz angeschlossen worden war und jetzt in Radiowellen schmorte. Was für Gedanken gingen Arthur Lemuel Campbell durch den Kopf? Hasste er die Vergangenheit? Wollte er in die Zukunft fahren, und wenn ja, wo glaubte er, war die Zukunft – im Westen? Im Osten? Über ihm? Die ganze Fahrerei, nichts als plattes Land, all die Sonntage und die Herbergsessen mit aufgeworfenen Lippen, Haxe mit Maisbrei und jeder Menge Gottesfurcht. Vater unser, der Du bist im Himmel. Und die Familie weit weg – High River, Regina, Edmonton, Swift Current – die einen drehen durch, die anderen werden religiös, die nächsten sterben jung. Beklage dich nicht und suche nicht nach Erklärungen. Versuch, den Schaden klein zu halten. Vergiss deine Familie, bevor sie dich vergisst. Sei schwach. Sei verrückt. Sei wahnsinnig. Sei demütig. Verneige dich vor Gott. Tu so, als wärest du etwas, das du nicht bist. Gehe über deine Grenzen und bezahle den Preis. Behalte deine Meinung für dich. Stirb allein, wenn auch umringt von anderen. Man wird über dich urteilen. Du wirst nie Frieden finden. Du wirst nie Zuflucht finden, weil am anderen Ende des Horizonts immer etwas ist, das auf dich lauert und dich bedroht. Zahl’ immer bar. Kredit ist der Teufel. Dies ist das Jahr des Herrn 1930. Dies ist das Jahr des Herrn 1931. Dies ist 1932. 1933. Der Himmel ist kornblumenblau, und die Wolken sind aus Hollywood. Es gibt nicht genug zu essen, nur um gerade so über die Runden zu kommen. Fahr, Arthur, fahr – vor dir liegt eine Zukunft. Du wirst in Winnipeg leben. Du wirst Kinder haben. Sie werden Kinder haben. Diese Kinder werden das Band zwischen Himmel und Erde zerschneiden – werden sie das wirklich? Hat dieses flache Land etwas, das uns ewig an Gott bindet? Was werden diese Monsterkinder behalten, und was werfen sie weg? Technik schafft Generationen: Werden sie die Giftmörder sein oder werden sie bloß vergiftet? Denn all das sitzt irgendwo in deinem Kopf, Arthur Lemuel Campbell, und du weißt das, auch wenn du es nicht in Worten ausdrücken kannst, weil es alles in diesem Land steckt und du ein Produkt dieses Landes bist, und deswegen steckt es in dir. Es ist das 20. Jahrhundert, und du fährst mit einem Auto mitten durch einen Kontinent. Das 20. Jahrhundert wird zu Ende gehen, und die Ewigkeit wird weiter andauern, aber du wirst dann nicht mehr da sein. Du wirst nie erfahren, was als Nächstes kam – der nächste Schwung von Idioten, die Kinder der Idioten, die irgendwie immun gegen Gott geworden sind, ein roboterhafter kollektiver Geist, der überall und nirgends existiert. Metahirne mit unerklärlichen Neigungen und Bedürfnissen und unstillbarem Durst – Echtzeitangst rund um die Uhr –, und das alles unter einem Himmel, der wissenschaftlich, messbar und unbestreitbar so weit und eben und vielleicht genauso blau sein wird wie jetzt, bis die Sonne verglüht und Gott über alles siegt.
Marshall, dies war deine Prärie, es war dein Land. Du sehntest dich nach bestimmten Dingen, und manchmal bekamst du, was du wolltest. Du warst zur richtigen Zeit am richtigen Ort, und das war kein Zufall. Wie kommt es, dass wir von etwas Bestimmtem fasziniert sind und nicht von etwas anderem? Und warum tun so wenige von uns das, was sie tun wollen? Es war ein Abenteuer, Marshall, und war es nicht großartig? Du hättest es gehasst, wie alles gekommen ist, jawohl, aber du hättest es auch so unglaublich interessant gefunden.
Oh boy, oh boy, oh boy.30