Das Schicksal wirft einen Ball
Marshall ist hier Gegenstand einer Biographie, obwohl er selbst dieser Form ablehnend gegenüberstand. Vor, sagen wir, 1990 waren Biographien die einzige Möglichkeit, wirklich etwas über jemanden zu erfahren, inzwischen kann man das auch in Dokumentarfilmen und im Internet. Hardcover-Biographien genießen aber weiterhin großes Ansehen, wahrscheinlich weil man als Mensch geboren wird, seinen Kram macht und dann stirbt, und zwar nur in die eine Richtung – und das hier ist ein Buch, und ob es einem gefällt oder nicht, man muss es in eine Richtung lesen und benötigt dafür soundso viel Zeit.
Nach dem, was Sie von einer Biographie erwarten, hoffen Sie also, etwas Neues über Marshall zu erfahren, wer er war und warum – und das kann auch unangenehm sein. Es ist manchmal nicht schön, Dinge zu erfahren, die nicht zu unserem ursprünglichen Bild passen. Menschen sind schwer zu durchschauen, Dinge laufen schief, Zufälle treten ein, und die meisten Menschen sind im Allgemeinen nicht darauf vorbereitet oder erkennen sie gar nicht. In Marshalls Fall war die (wenn auch nicht auf den ersten Blick) richtige Person zur richtigen Zeit am mehr oder weniger richtigen Ort und hat es nicht vermasselt, als das Schicksal ihr einen herrlichen Ball zuspielte. Und wer hätte gedacht, dass Toronto nach dem Zweiten Weltkrieg der richtige Ort und die richtige Zeit für irgendetwas gewesen wäre, ganz zu schweigen von solch einer Riesenchance? Kanada schlief unter Mutter Englands Decke und wagte nicht mal zu träumen. Für die Engländer war das Land so etwas wie Reihe sechs bis neun in einem kosmischen Haushaltswarenladen: Bauholz, Felle und Metallprodukte – und nebenan ein Gemüseladen. Was sollte Kanada mit sich anfangen? Was sollte aus Toronto werden, wenn nicht ein riesiges Kassen- und Buchhalterbüro? Ein Ort, an dem Kultur entstand? Ein Zentrum für was auch immer? Toronto war etwas für Schlafwandler, für den ambitionslosen Bodensatz schottischer, englischer und irischer Einwanderer, Leute, die froh über ihren Gehaltscheck waren und keine Lust auf Veränderungen und Überraschungen hatten.16 Der Letzte, den man an so einem Ort vermisste, war Marshall McLuhan. In gewisser Hinsicht machte er allein durch seine Existenz auf Torontos verschlafene Bedeutungslosigkeit aufmerksam.
Und doch …
Etwas war los in Toronto.
Allmählich entstand ein Bewusstsein dafür, dass die Medien etwas waren, mit dem man sich befassen musste, und dass sie neue Gesetze und Veränderungen mit sich brachten. Man darf nicht vergessen, dass es damals noch kein Vokabular für diese gerade erst im Entstehen begriffene elektronische Welt gab. Das Fernsehen war geboren und nahm seit den frühen fünfziger Jahren gewaltigen, irreversiblen Einfluss auf das Leben in den westlichen Gesellschaften – so nachhaltig wie das Radio und später das Internet. Sein unaufhaltsamer Aufstieg veranlasste Marshall anscheinend dazu, sich auf die Medien und die tägliche Informationsflut einzustellen. Das Fernsehen war ein weiteres Mittel, Kultur zu vereinheitlichen und päckchenweise zusammenzuschnüren, und selbstredend verabscheute Marshall das und wollte nicht in seinen Strudel hineingezogen werden.17
Toronto war in der einzigartigen Lage, objektiv beurteilen zu können, was sich sowohl auf der anderen Seite des Lake Ontario als auch auf der anderen Seite des Atlantiks abspielte. Es war eine große moderne Stadt in einem Land, das im Gegensatz zu Europa, den USA und Asien nicht von politischen und religiösen Orthodoxien erdrückt wurde. Es bot eine versuchslaborähnliche Situation, in der die Auswirkungen der Medien empirisch untersucht werden konnten.
Der erste, der das tat, war der kanadische Wissenschaftler Harold Innis. 1930 veröffentlichte er ein Buch über den Pelzhandel in Kanada mit dem Titel The Fur Trade in Canada: An Introduction to Canadian Economic History. Innis behauptete, dass die Einführung eines neuen Handelsrohstoffs wie Biberfelle zu einer Vernetzung der Gesellschaft führe, ähnlich wie bei einem neuen Medium wie Radio oder Film. Die Biberfelle bestimmten Form und Geltungsbereich eines Großteils von Kanada – zusammen mit der Fertigstellung des nationalen Eisenbahnnetzes. Innis war fasziniert davon, wie über diese endlose Weite hinweg eine Kultur entsteht, und verfolgte bis zu seinem Tod 1952 die Rolle der Printmedien und des Radios bei der Vernetzung dieses gigantischen leeren Landes. Er stellte fest, dass Kommunikationsmedien im Grunde technologische Erweiterungen unserer Sinne sind. Innis zufolge waren die Medien in der Lage, das Bild des Menschen von Zeit und Raum zu verkleinern, erweitern, zusammenbrechen zu lassen und neu zu ordnen.
Anfang 1946 erhielt McLuhan das Angebot, im Herbst desselben Jahres am katholischen St. Michael’s College der Universität von Toronto zu unterrichten, wo er eine kurze Zeit lang mit Innis zusammenarbeiten sollte.
Auf Wiedersehen Ende der Welt …
In Toronto hatte Marshall sämtliche psychologischen Sicherheitsnetze, die er brauchte: einen festen Wohnsitz, seine neue Familie, Elsie in seiner Nähe, einen guten Job und eine starke Kirche. Mit fünfunddreißig war er zwar nicht das, was Elsie als erfolgreich bezeichnet hätte, aber er war voller Tatendrang und fing an, alles auf die eine Schiene zu setzen, die ihm letzten Endes zum Ruhm verhelfen würde: Mustererkennung.
Marshall interessierte sich dafür, wie die moderne Kultur alles, womit sie in Berührung kam, vereinheitlichte und nach dem Baukastenprinzip einordnete – als einfaches Beispiel die Zeit. Bevor es Uhren gab, gab es Sonnenaufgang und Sonnenuntergang, aber eine standardisierte Zeiteinteilung war nicht möglich. Mit der Uhr wurde die Zeit in frikadellenförmige einzelne Stundenblöcke aufgeteilt, die überall auf der Welt gleich waren, vermutlich auch im All und in fremden Galaxien. In der Musik erfand man die Partitur, die ehrfürchtig empfundene Psalmen in bloße Noten auf dem Papier verwandelte. Und natürlich wurden auch Nutztiere wie Kühe gleichgemacht und … zu Frikadellen verarbeitet.
Marshall verabscheute die gnadenlos kommerzialisierte Standardisierung der vorwissenschaftlichen Welt, aber in den Jahren direkt nach dem Krieg stand das Motto Fortschritt durch Wissenschaft ganz oben auf Amerikas sozialpolitischer Agenda. Die Auswirkungen auf die Gesellschaft waren noch nicht erkennbar und würden mit Sicherheit einer kritischen akademischen Betrachtung unterzogen.
… Hallo Toronto
Marshall, Corinne und ihre drei Kinder (die Zwillingstöchter kamen Ende 1945 zur Welt) zogen 1946 nach Toronto, wo beide Eltern bis zum Ende ihres Lebens blieben. Marshall trennten nur wenige Schritte sowohl von seiner Arbeit als auch von der Kirche, wo er in den Pausen der Welt Raum und Zeit entfloh und sich in himmlische Gefilde begab.
Am College sah sich Marshall mit Schwierigkeiten durch die Kirchenpolitik konfrontiert. St. Michaels war eines von mehreren Colleges der weltlichen University of Toronto, aber die Studenten mussten 1946 vor dem Unterricht beten und brauchten eine Genehmigung des Bibliothekars, um Bücher zu lesen, die auf dem Index Librorum Prohibitorum standen, dem Index der vom Vatikan verbotenen Bücher. Selbst ein vorbildlicher Apologet wie Marshall spürte, wie die bleierne Hand des Klerus ein paar schlauen Köpfen in der Kollegenschaft die Luft abdrehte. Gleichzeitig zog das College auch außergewöhnliche Leute wie die französischen Philosophen Étienne Gilson und Jacques Maritain mitsamt ihrem Denken an. Im ersten Jahrzehnt nach dem Zweiten Weltkrieg ging es an den Englischseminaren tatsächlich relativ spannend zu. Ein Kreis älterer Studenten stellte landläufige Weisheiten infrage, und in Toronto hatte Northrop Frye – eine zentrale Figur in Torontos Blütezeit Mitte des Jahrhunderts – eine beeindruckende Auffassung von Kultur, die Marshall bewundert und angezogen haben muss. Tatsächlich revolutionierte in einer einzigen Stadt (Wie bitte? In Toronto?) eine kleine Gruppe von Leuten innerhalb einer bestimmten Zeitspanne weltweit das Verständnis von Kommunikation.
Der Musiker Glenn Gould, der wie Marshall etwas verschroben war und einen eher abgedroschenen Sinn für Humor hatte, formulierte neu, wie Musik entsteht, nachdem er zuletzt komplett auf öffentliche Auftritte verzichtet hatte und sich darauf konzentrierte, Musik einzig und allein in Form von elektronischer Aufzeichnung und nebenbei Radiomontagen vorgefundener Klänge zu produzieren (Marshall wurde zu Goulds Vertrautem und führte regelmäßig mitten in der Nacht vierstündige Gespräche mit ihm). Beim National Film Board sorgte Norman McLaren für neue Perspektiven in den Bereichen Animation und Time-Based Art, während eine Gruppe von Künstlern namens Painters Eleven die Abstraktion in der Malerei erforschte. Der große Internationalist Lester Pearson wurde mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet, wurde bald darauf Premierminister und wies dem Land bereits die fantastische Aussicht auf eine Welt, in der die Menschen miteinander redeten.18
Will man sich ein Bild davon machen, wie es zu jener Zeit an der University of Toronto aussah, muss man sowohl die guten als auch die schlechten Seiten betrachten. Es herrschte Aufbruchs- und Abenteurerstimmung, und das obwohl der Fachbereich Englisch im Wesentlichen aus einer Reihe miteinander verbundener Baumhäuser bestand, unter denen ein »Mädchen müssen draußen bleiben«-Schild hing. Marshall hatte sich vielleicht ein paar Feinde gemacht, aber das hatte jeder. Wie in vielen anderen akademischen Umgebungen auch ging es dort ein bisschen zu wie in einem Muppets-Kreml, und einer der positiven Nebeneffekte dieses großen Gewimmels war, dass dabei diverse Maschen entstanden, durch die man schlüpfen konnte – was in gewisser Hinsicht erklärt, weshalb Marshall seinen Beschäftigungen einigermaßen ungehindert nachgehen konnte. Hier eine kurze Liste seiner damaligen Bezugspersonen:
Freunde
Der etwas strenge, aber wohlwollende Father Louis Bondy, der Marshalls Fähigkeiten erkannte und ihn aus Windsor wegholte.
Der spitzbübische Ted Carpenter, Institut für Anthropologie der U of T.
Harold Innis, Institut für Volkswirtschaft der U of T, der intellektuelle Mittelpunkt des Landes. Mehr über ihn an anderer Stelle.
Marshalls Nachfolger in Windsor, Hugh Kenner, einer der bedeutendsten Pound-Experten. War in den späten Vierzigern und frühen Fünfzigern nicht mehr in Toronto, aber trotzdem Marshalls Vertrauter und konspirativer Verbündeter, und arbeitete später auch wieder an der U of T mit ihm zusammen.
Der Philosoph und Bilderstürmer George Grant. Genau wie Marshall misstraute Grant der Technik und war mit seinen Ansichten im Christentum verwurzelt. Kein Prof an der U of T. hinterließ aber deutliche Spuren dort.
Der französische Philosoph Étienne Gilson, der regelmäßig zu Besuch kam und heutzutage wahrscheinlich nur schwarze Rollkragenpullover tragen würde. Ihm zufolge waren Marshalls Ideen brillant, aber häufig erschreckend bilderstürmerisch.
Der klassische Theoretiker griechischer Philosophie Eric Havelock.
Feinde
Der schon fast klischeehaft pingelige Junggeselle A. S. P. Woodhouse, Leiter des Fachbereichs Englisch. Er hasste, hasste, hasste Marshall und sah in ihm den New Criticism und das Ende der Dynastie, der er seit Ewigkeiten vorstand.
Die meisten von Marshalls Kollegen. In ihren Augen war er ein Spinner mit einer seltsamen sozialen Inkompetenz. Seine hochtrabende, streitlustige Art empfanden sie als Bedrohung und seine Ignoranz gegenüber herkömmlichen Unterrichtsmethoden als Beleidigung.
Der Literaturkritiker Northrop Frye, Dozent am Victoria College, das ebenfalls zur U of T gehörte. Die beiden konnten sich nicht ausstehen und trugen eine regelrechte Fehde aus, die den gesamten Campus auf Trab hielt. Man vermutet, dass zur allgemeinen Unterhaltung auf beiden Seiten das Feuer geschürt wurde.
1947 wurde Marshall und Corinne eine dritte Tochter geboren. Marshall stellte fest, dass eine Familie Geld kostete. Er war bald vierzig und in finanzieller und akademischer Hinsicht allmählich frustriert, in einem katholischen College festzustecken. Um Elsies Goldjunge zu werden, würde er sich ziemlich bald etwas einfallen lassen müssen, und was das betraf, war am Fachbereich Englisch der Universität von Toronto definitiv nichts zu holen.
1948 fuhr Marshall mit seinem Freund Hugh Kenner nach Washington, D. C., Sie wollten Ezra Pound besuchen, einen in Idaho geborenen amerikanischen Dichter, Kritiker und Intellektuellen und einer der bedeutendsten Vertreter der Moderne in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Kenner wurde schließlich der Biograph und Experte für Pound.
Als begeisterter Anhänger von Mussolini war Pound 1939 nach Italien gegangen und zu einem wichtigen Propagandisten der Achsenmächte im italienischen Radio geworden. 1943 wurde er von der US-amerikanischen Regierung in absentia des Landesverrats angeklagt und später zurück in die USA gebracht. Um das Land davon abzuhalten, einen seiner größten Dichter hinzurichten, wurde Pound für unzurechnungsfähig erklärt und landete im St. Elizabeth’s Krankenhaus in Washington, D. C., wo er zwölf Jahre von 1946 bis 1958 verbrachte. Er stirbt 1972.
Für Marshall verkörperte Pound all das, was die moderne Literatur des frühen 20. Jahrhunderts ausmacht – Intelligenz, Verrücktheit und eine knisternde Seltsamkeit –, und seine Fangemeinde war vergleichbar mit der eines Rockstars. Über das Verhältnis zwischen den beiden ist nicht viel bekannt, außer, dass es vor allem von Marshalls Seite ausging. Pound konnte mit Marshalls Ideen und Artikeln, die er in sein Washingtoner Irrenhaus geschickt bekam, nicht viel anfangen.
Die Verbissenheit, mit der Marshall sowohl Pound als auch Wyndham Lewis hofierte, zeugt nicht zuletzt von dem tiefen Respekt dafür, dass die Modernisten der Literatur des 19. Jahrhunderts den Garaus gemacht hatten, und bringt vielleicht zum Ausdruck, wie gern er selbst dabei gewesen wäre.
Im selben Zug begeisterte sich Marshall 1950 für James Joyces Roman Finnegans Wake (1939), eine freie Assoziationsorgie mehrsprachiger Wortspiele und Kofferwörter (Kunstwörter, die aus miteinander verschmolzenen Wortsegmenten entstehen). Wortspiele, sagten Sie? Ein Traum für Marshall, dessen Faszination dafür schon krankhaft war. Kaum war seine Leidenschaft für das Buch entbrannt, verfiel er in einen tiefen irischen Akzent und las seinen Freunden und Studenten Passagen daraus vor.
Jehoshaphat, what doom is there here!
Dass der Schreibstil, die literarischen Anspielungen, die Traumassoziationen und der Verzicht auf Konventionen wie Plot und Charakterentwicklung die Rezeption durch ein breiteres Publikum weitgehend verhindert hatten, machte das Buch für Marshall noch verlockender. Er sah in ihm einen potenziellen Stein von Rosette – eine vereinheitlichte Kulturtheorie, die eine optimale Balance zwischen einem hörenden und einem sehenden Verständnis der Welt vorgab. Außerdem verkörperte das Buch für Marshall den Sündenfall des Menschen im 20. Jahrhundert, in eine Welt, in der ein gesundes seelisches Ökosystem durch das Aufkommen elektronischer Medien und einer Störung des Gleichgewichts unserer Sinne extremen Schaden nimmt.
Finnegans Wake blieb ein Prüfstein, an dem er nahezu seine gesamte spätere Arbeit maß.
Jedwede Vereinfachung ist sensationell.
G. K. Chesterton
Die Veröffentlichung der Braut
Also machte Marshall sich in Toronto mit aller Kraft daran, der Massenkultur seinen Namen aufzudrücken. 1951 veröffentlichte er Die mechanische Braut. Der Titel bezieht sich auf das berühmte Kunstwerk von Marcel Duchamp aus dem Jahr 1912, La marieé mise à nu par ses célibataires, même (Die Braut wird von ihren Junggesellen entkleidet, sogar), eine große zweiteilige Glasskulptur, deren Thema die Erotisierung der Maschine ist. Als Marshall das Buch schrieb, war die Skulptur wahrscheinlich das bekannteste Avantgarde-Kunstwerk des 20. Jahrhunderts, nach der ebenfalls von Duchamp stammenden Fontaine, einem signierten Urinal. Der Titel war eine Kritik am neuen Status der Maschine und daran, wie sie verkauft wird – die mechanische Braut ist das Auto als Objekt der Begierde in einer Welt, in der wir von der Mechanisierung verführt wurden und mit ihr eine Ehe eingegangen sind.
Das Buch war eine Zusammenstellung neuer und bereits veröffentlichter Tiraden und Spitzen gegen die westliche Medienkultur, ein mittelalterlicher katholischer Fluch gegen Hollywood und die Madison Avenue. Es wurde als großes Hardcover veröffentlicht, haptisch den Büchern von Dr. Seuss (einem amerikanischen (Kinderbuch-)Autor und Cartoonist) nicht ganz unähnlich. Die Texte standen meist neben den Anzeigen, von denen sie inspiriert waren, und waren in keiner bestimmten Reihenfolge angeordnet. Wie in vielen seiner Bücher hatte Marshall die einzelnen Essays einfach mosaikförmig nebeneinander gestellt, so dass man als Leser nach Lust und Laune einen Blick hineinwerfen konnte, wie auf einer Website.
Die mechanische Braut war Dagwoods Tag – der Tag seiner Hinrichtung, wenn es nach Marshall gegangen wäre. Heute wirkt das Buch wahlweise abgedroschen, vorausschauend, geistreich, brillant, anmaßend oder delirierend. Es ist in einer Medienwelt angesiedelt, wie sie vielleicht Salingers Holden Caulfield erlebt hätte, und genau wie Caulfield sieht Marshall überall Scheinheiligkeit und Übertreibung. Fast sechs Jahrzehnte nach seinem Erscheinen ist in der westlichen Gesellschaft jeder ein Kritiker, und jeder hat Theorien über Fernsehen, Film und Werbung. Was Die mechanische Braut so magisch macht, ist, dass McLuhan wohl der erste Metakritiker auf der Welt war. Manche seiner Seitenhiebe mögen etwas plump sein, aber sie stehen für den ersten Moment der Moderne, als der Schnabel durch die Eierschale stößt. Das Buch stellt so etwas wie eine Geburt dar.
Anfangs wurden nur ein paar hundert Exemplare verkauft, aber seitdem wurde es in etlichen Auflagen nachgedruckt. Die Veröffentlichung markiert außerdem den Zeitpunkt in Marshalls Karriere, nach dem er sich von den materiellen Produkten der Konsumgesellschaft abwandte. In seiner Faszination dafür, wie Worte und Bilder miteinander verschmelzen, um Konsumgüter zu verkaufen, bietet das Buch eine neue Sicht auf Kommunikationsformen und ihre unterschwelligen Botschaften. Von da an bewegt sich McLuhans Arbeit schrittweise von der materiellen Kultur der technologischen Welt zu ihren Massenmedien und der elektronischen Dimension, in der sie sich inzwischen bewegen. So kennzeichnet Die mechanische Braut das Ende von Marshalls Fokussierung auf den Inhalt, also das, was gesagt wird, und eine Hinwendung zu dem, wie es gesagt bzw. auf welche Weise Inhalt in die Welt hinausgetragen wird, sei es über gedruckte Schrift und das phonetische Alphabet (Die Gutenberg-Galaxis, 1962) oder im Fernsehen (Understanding Media, 1964).