Stillleben mit Flughafen

Wir schreiben das Jahr 1962, und du befindest dich auf einem Flughafen. Die Frauen um dich herum sind gut gekleidet. Du trägst einen Hut. Du bist ein zweiundfünfzigjähriger Mann, der in einem Flughafenrestaurant Roastbeef isst, und das Roastbeef, das du isst, ist von Fettklümpchen durchwachsen, die aussehen wie amerikanische Staaten und Countys. Blauer Dunst liegt in der Luft. Es sind nirgends Schwarze zu sehen. Du liest Zeitungsartikel über Verhütungspillen und über Kunst aus New York, die auf Comics und Zeitschriftenwerbung basiert. Das Eis in deinem Bourbon ist fast geschmolzen. Dein Flug wird ausgerufen, und du gehst zum Gate. Du setzt dich auf deinen Platz, 3A, und der Typ neben dir kneift der Stewardess in den Hintern. Sie kichert.

Du fliegst über einen Kontinent.

Der Wagen, der dich auf der anderen Seite abholt, steht im Leerlauf da und pumpt dicke bleihaltige Rauchwolken in die Luft. Genau wie alle anderen Autos um dich herum. Keiner der Wagen hat einen Anschnallgurt. Der Himmel ist braun.

Eine Frau auf dem Bürgersteig nimmt eine Pille. Alle Menschen nehmen Pillen: Amphetamine, um abzunehmen, Barbiturate, um schlafen zu können. Aber du bist ganz ruhig. Du fühlst dich wie eine Kathedrale aus Sandstein, durch deren farbige Glasfenster Licht dringt. Du erlebst die Welt, aber sie berührt dich nicht. Man fährt dich zu einem Wolkenkratzer, wo ein paar reiche Menschen dir Tausende von Dollars zahlen, damit du ihnen erzählst, was dir gerade durch den Kopf geht.

Kawumms!

Als 1962 The Gutenberg Galaxy erschien, überschlugen sich die Rezensenten vor Begeisterung. Das Buch gewann den kanadischen Governor General’s Award for Nonfiction und erhielt weithin ausgezeichnete Kritiken. Sein eigenwilliger Stil, gepaart mit seinem Hang zur Wiederholung schreckte aber auch ein paar Kritiker ab, andere empfanden ganze Abschnitte als Quatsch. Marshall war das Kind mit der intellektuellen Erdnuss-Allergie, das uns vor einer vergifteten Welt warnt. Das Buch stellt so viele Ideen vor – es scheint fast eine neue, noch zu erfindende Seinsweise anzustreben. Immer wieder macht McLuhan klar, dass er die gottlose moderne Welt verachtet, in der nur die niedersten Triebe bedient würden und so gut wie jeder wissenschaftliche Fortschritt im Dienste der Vereinheitlichung stehe. Die irdische Welt ist für Marshall ganz offensichtlich nicht zu ertragen, dabei wirkt er mal arrogant, mal charmant, witzig, langweilig, aufrührerisch, naiv, berauscht, göttergleich oder einfach nur schwachsinnig – aber man liest weiter. Erstaunlicherweise findet sich, nachdem wir uns Seite für Seite durch Marshalls Verachtung für die Welt gearbeitet haben, auf Seite 135 der kanadischen Taschenbuchausgabe, wie eine Flaschenpost, eine Zeile, die Hoffnung macht: »Wir sind weit davon entfernt, die mechanische Kultur der Gutenberg-Zeit zu unterschätzen; ja, wir glauben sogar, wir müssen uns alle Mühe geben, um die von ihr verwirklichten Werte bewahren zu können.« (!!!) Die Büchse der Pandora wird geschlossen.

Spickzettel

Strukturell gesehen unterteilt Die Gutenberg-Galaxis die Entwicklung von der Stammesgesellschaft zum modernen Menschen – und dann zurück zur Stammesgesellschaft – in vier Entwicklungsstufen.

Marshall definiert Stammesgesellschaften als orale Kulturen, deren Angehörige in einer emotionsgeladenen Sprache miteinander kommunizierten. Diese nicht-alphabetisierten Gesellschaften waren politisch engagiert, von Emotionen bestimmt, eng miteinander verbunden und eine Einheit. Sie lebten in einem, so Marshall, »akustischen Raum«.

Dieser Raum wurde durch das phonetische Alphabet unterminiert. Es nahm der Sprache ihre emotionale Dimension und schuf im Zuge ihres Finneganschen Leichenschmauses den linearen, individualistischen Menschen der westlichen Welt – den »Gutenberg-Mensch«. Mit dem 16. Jahrhundert löste das Auge das Ohr als wichtigstes Sinnesorgan ab. Die Druckerpresse war im Grunde verantwortlich für die Industrielle Revolution, das Bürgertum, Nationalismus und Kapitalismus und schuf letztendlich eine »mechanische Kultur«.

Die elektronischen Medien, angefangen mit dem Telegrafen, führten die Gesellschaft jedoch weg von ihrer mechanischen Ausprägung. Marshall betrachtete sie als Ausweitung des menschlichen Nervensystems, wobei das Fernsehen die wichtigste Rolle spielt, weil es diverse Sinne anspricht.

Die Pointe, die Marshall zum Star machte, war seine (letztendlich nur allzu wahre) Behauptung, das Fernsehen sei, wie zukünftige Technologien auch, in der Lage, den Menschen zu retribalisieren und zurück zu seinen Wurzeln, in die orale Stammesgesellschaft, zu führen.

Abgesehen davon …

… ist Die Gutenberg-Galaxis vielleicht eines der am schwersten zu lesenden und letztendlich doch bereicherndsten Bücher des 20. Jahrhunderts. Es erklärt so vieles und nimmt den Leser nebenbei immer wieder mit auf kleine Reisen in seltsame, charmante Sackgassen. In einem, von Marshall so bezeichneten, Mosaikstil geschrieben ist der Text hermetisch, prägnant und häufig schwer verständlich und schöpft sich aus Quellen wie dem jugoslawischen Epos und der modernen Skulptur. Hier eine der unergründlicheren Stellen:

Ein Loch im Boden ist kein geschlossener Raum, weil es, wie ein Dreieck oder ein Tipi, die Kraftlinien nur ausstellt. Ein Quadrat stellt die Kraftlinien nicht aus, sondern ist eine Übersetzung dieser taktilen Kraft ins Visuelle. Diese Übersetzung findet erst mit dem Schreiben statt. Und jeder, der sich die Mühe macht, Emile Durkheims Über die Teilung der sozialen Arbeit zu lesen, wird wissen warum.

Der Handschuh ist geworfen.24 Bist du bereit für die Gutenberg-Galaxis?

Pop!

Zu seinem weltweiten Ruhm kam Marshall mit Hilfe zweier Männer aus San Franciscoer Medienkreisen, Gerald Feigen und Howard Gossage. 1965 organisierten sie ein McLuhan-Festival in den Büroräumen von Gossages Werbeagentur. Der angehende Journalismus-Superstar Tom Wolfe war da und schrieb im Anschluss seinen bahnbrechenden Artikel »What if He Is Right?« (Was, wenn er Recht hat?). Feigen und Gossage brachten Marshall außerdem nach New York und machten ihn auf einer Reihe von Cocktailpartys und Treffen mit diversen New Yorker Pressegrößen bekannt. Er war in allen Magazinen. Er verkörperte den Geist von 1965.

Man darf nicht vergessen, dass Marshall damals Mitte fünfzig war. Er war zu alt für ein Partymonster, einen Rockstar oder eine Primadonna, er war ein altmodischer Kauz in einem Glencheck-Jackett, der, wenn er mit Führungskräften sprach, die ein Vermögen in der Hoffnung auf ein paar Erkenntnisse ausgegeben hatten, oft aussah wie ein zerstreuter Professor, der gerade Klausuren benotete. Und während die Hippies ihm wie einem Guru in Scharen zuströmten, waren sie für Marshall Ausdruck all dessen, was an der Entwicklung der Welt schief lief. Natürlich ging seine Politik des Nicht-Bewertens zumindest in diesem Fall nach hinten los – seine Kritiker glaubten fälschlicherweise, nur weil er seine Zeit mit Hippies verbrachte, vertrete er unausgesprochen auch ihre Ansichten.

Dank seines zunehmenden Ruhms in Amerika (ein Prozess, der durch seine Bekanntschaft mit überzeugten Fans aus der Medienwelt, die über gute Beziehungen verfügten, noch beschleunigt wurde), lagen seine Honorare 1964 bei mindestens $ 500 pro Vortrag oder Seminar, und das bei bestimmt vierzig auswärtigen Einladungen im Jahr. Die Entscheidungsträger an der U of T wussten, dass sie schnell reagieren mussten, wenn sie ihn nicht an eine andere Universität verlieren wollten. Gleichzeitig erkannten sie, dass dafür ein neuer Fachbereich geschaffen werden musste. Marshall, der oft Paranoia vor universitärer Klüngelpolitik hatte, konnte ausnahmsweise mal durchatmen und sich mit der Tatsache abfinden, dass seine Kollegen zwar eifersüchtig waren, aber offenbar doch der Meinung waren, er sei einer großen Sache auf der Spur.

Also erlaubten sie Marshall 1963, das Centre for Culture and Technology zu gründen. Es wurde in einem ehemaligen Wagenschuppen auf dem Campus untergebracht, und sein Zweck war es, die psychologischen und sozialen Konsequenzen sämtlicher Technologien zu erforschen und darüber hinaus den Dialog zwischen den einzelnen Fakultäten zu fördern. Es verfügte über einen angemessenen Etat und war unbürokratisch genug, um von Marshall zusammen mit einem Assistenten und einer Sekretärin, Margaret Stewart, geführt zu werden. Die angebotene Vorlesungsreihe wurde etwas kryptisch wie folgt angekündigt:

C&T 1000Y/1001F&F

Medien und Gesellschaft/Der Kurs betrachtet Medien als vom Menschen geschaffene Umgebungen, die bestimmte Dienste und Undienste leisten und dabei das Bewusstsein der Benutzer formen. Diese aktiven Umgebungen haben den allumfassenden Charakter mythischer Formen und treten als verborgener Hintergrund sämtlicher Aktivitäten auf. Der Kurs soll die Wahrnehmung für die Beschaffenheit und die Auswirkungen dieser sich ständig verändernden Strukturen schärfen.

Marshall nahm die Arbeit am Zentrum ernst. Er wollte anhand von Experimenten wissenschaftlich messen, wie der Mensch auf die Medien reagiert, vor allem auf das Fernsehen, von dem er glaubte, dass es eine Lesestörung verursache, weil es teilweise die zentralen Sehmuskeln lähme. Weiteres Forschungsziel war eine quantitative Bestimmung des Wohlgefühls, das Menschen dabei empfanden, verschiedene Stoffe auf der Haut zu spüren beziehungsweise unterschiedlichste Kunstformen zu betrachten.

Ein halbes Jahrhundert später erscheint einem das aufgesetzt, bedauernswert und zum Scheitern verurteilt (wenn auch gut gemeint). Es zeigt auch, wie wenig damals über das Gehirn und die Neuroanatomie bekannt war und wie viele Jahre noch zwischen dem Traum von der Vermessung des Gehirns und der Möglichkeit dazu durch PET- und MRI-Aufnahmen lagen.

Marshall versuchte, Geld für eine Reihe von Tests aufzubringen, und erhielt über Beziehungen von der US-amerikanischen IBM einen Zuschuss über $ 10 000. Bei der sogenannten IBM Sensory Profile Study wurde an einer Reihe von IBM-Mitarbeitern getestet, wo ihre sensorischen Präferenzen lagen. Die Ergebnisse hatten im Grunde keinen praktischen Nutzen, aber irgendjemand brachte Marshall auf die Idee, die von ihm entwickelten Untersuchungen könnten Millionen von Dollars wert sein. Marshall drehte durch und fing an, sich mit IBM über die Rechte zu streiten. Damit war die sensorische Studie beendet.

Ein weiteres Forschungsgebiet war das Verhältnis zwischen Klang und gedruckten Buchstaben. Ab welchem Punkt ist der Druck von Schrift nicht mehr lautlos und wird zu Lärm? Das Ergebnis floss in zwei wunderbare Bücher: The Medium is the Massage (1967) und das weniger bekannte, aber ebenfalls faszinierende Counterblast (1969).

1964: Der Blitz schlägt zweimal ein

Das bei weitem bekannteste Werk in Marshalls Karriere war das nicht geplante uneheliche Kind aus seinem NAEB Report über Medienkunde für Elftklässler – in neuer Verpackung wurde 1964 daraus das wegweisende Understanding Media: The Extensions of Man. Es folgte der Gutenberg-Galaxis sozusagen auf dem Fuße, und zwar kurz vor Ausbruch der Jugend-, Schwarzen-, Schwulen-, Frauen- und Drogenkultur, als die Welt hektisch nach einer Erklärung für all diesen Lärm suchte.

In Understanding Media geht Marshall auf die Manipulation der Sinne durch die elektronischen Medien ein. Er erklärt, dass der offensichtliche Inhalt aller elektronischen Medien unbedeutend ist und stattdessen das Medium selbst viel größeren Einfluss auf die Gesellschaft hat. (Ja, genau, »Das Medium ist die Botschaft«.) Die Wissenschaft lehnte jedoch mehrere von Marshalls Theorien ab, die durch keinerlei Experimente gestützt waren. Die europäische Schwarze-Rollkragen-Fraktion der Kulturtheoretiker war der Meinung, McLuhan vernachlässige die Machtverhältnisse, die wesentliches Merkmal sowohl der Medien als auch deren Inhalt seien und von beiden aufrechterhalten würden.

Das Buch besteht aus zwei Teilen. Im ersten Teil erklärt Marshall: »Der Inhalt eines Mediums ist immer ein anderes Medium«. Daraufhin erörtert er den Unterschied zwischen dem, was er »heiße« und »kalte« Medien nennt. Ein heißes Medium schließt aus, während ein kaltes einschließt. Heiße Medien sind »hoch definiert« und verlangen vom Konsumenten wenig eigene Informationen. Radio ist ein heißes Medium, weil es minimale Beteiligung erfordert. Kalte Medien, wie das Fernsehen, sind dagegen »niedrig definiert« und erfordern eine größere Mitwirkung, weil der Konsument die Lücken ausfüllen muss. Dieser Beurteilungsrahmen ist komplex und häufig widersprüchlich. Er wird häufig als problematisch angesehen, irgendwann aber auch einfach hingenommen, da er zu so vielen anderen interessanten Gedanken führt.

Danach wird es nur noch komplizierter und verwirrender.

Im zweiten Teil analysiert Marshall verschiedene Medien, die 1964 eine Rolle spielten: das gesprochene Wort, das geschriebene Wort, Straßen, Zahlen, Kleidung, Wohnen, Geld, Uhren, Kunstdrucke, Comics, das Rad, das Fahrrad, das Flugzeug, das Foto, die Presse (das, was wir heute die Medien nennen), Autos, Werbung, Spiele, der Telegraf, die Schreibmaschine, das Telefon, Kino, Radio, Fernsehen und Waffen.

Understanding Media ist viel systematischer als Die Gutenberg-Galaxis, aber auch undurchsichtiger, und es erfordert dieselbe Bereitschaft, sich von alten Vorstellungen zu trennen, sie zu erweitern oder zu bereichern.25 Der McLuhanismus, der über die Jahre hinweg am deutlichsten nachhallt, stammt aus diesem Buch: die Idee vom »globalen Dorf«; die Welt von heute, von miteinander verlinkten Medien erschaffen, ein Ort, an dem die Menschen sich dank der Möglichkeit, Zeit und Raum zu überbrücken, zur Stammesgesellschaft zurückentwickeln.

Am charmantesten ist vielleicht die Stelle, als Marshall beschreibt, wie die Anthropologin Margaret Mead mehrere Exemplare desselben Buchs auf eine pazifische Insel bringt. Die Eingeborenen hatten schon Bücher gesehen, aber immer unterschiedliche und von jedem nur ein Exemplar. Als sie mehrere Exemplare vom selben Buch sahen, konnten sie es nicht fassen – eine wunderbare Zen-artige Geschichte, in der das Neue und das Alte miteinander verschmelzen und dabei statt Bomben ein Feuerwerk entsteht.