Epilog
Ich bin im Laden, in meinem Lieblingsbereich mit dem Krimskrams bei der Kommode, poliere und sortiere, spiele mehr oder weniger herum, als Ciara meine Gedanken unterbricht. Sie steht am Fenster und zieht die Schaufensterpuppen an.
»Ich glaube, ich möchte den Puppen Namen geben. Je länger ich mit ihnen zusammen bin, desto sicherer werde ich, dass jede eine Persönlichkeit hat.«
Ich muss lachen.
»Wenn ich ihnen zuhöre, kann ich sie am vorteilhaftesten einsetzen. Vielleicht sogar mehr verkaufen. Zum Beispiel diese hier – das ist Naomi.« Sie dreht die Puppe um und winkt mir mit der Puppenhand zu. »Sie ist ein Fenstermädchen, sie mag es, im Mittelpunkt zu stehen. Auf dem Podium. Im Gegensatz zu … zu Mags da drüben, sie hasst Aufmerksamkeit.« Ciara hüpft von der Plattform und geht zu der Puppe im Accessoire-Bereich. »Mags versteckt sich gern. Sie mag Perücken, Sonnenbrillen, Hüte, Handschuhe, Taschen, Schals, all so was.«
»Weil Mags auf der Flucht ist«, füge ich hinzu.
»Ja, genau!« Ciara studiert die Puppe mit großem Interesse. »Du bist eigentlich gar nicht schüchtern, stimmt’s? Du bist auf der Flucht!«
Das Ladenglöckchen ertönt, die Tür geht auf.
»Vor wem läufst du weg, Mags? Vor etwas, was du gesehen, oder vor etwas, was du getan hast?« Lass mich dir in die Augen schauen.« Ciara lässt die Brille auf der Nase tiefer rutschen und starrt Mags an. Sie schnaubt laut. »Was hast du getan, du freches Ding?«
Der Kunde räuspert sich, und wir drehen uns zur Tür um, wo ein junger Mann steht, in der Hand einen halbvollen schwarzen Müllsack.
Mein Herz fängt an zu klopfen wie verrückt, ich muss mich an der Kommode festhalten. Verwundert sieht Ciara erst mich, dann wieder den Mann an. An ihrer Reaktion merke ich, dass auch sie es sieht – dieser Mann ist das Ebenbild von Gerry.
»Hallo«, sagt Ciara. »Tut mir leid … Sie haben uns … wir reden grade … meine Güte, Sie sehen einem Bekannten von uns total ähnlich. Einem, den wir früher kannten.« Sie legt den Kopf schief und betrachtet ihn. »Wie kann ich Ihnen helfen?«, fragt sie dann.
»Ich suche Holly Kennedy«, antwortet er. »Vom ›P. S. Ich liebe Dich‹-Club.«
»Ich bin Ciara. Das ist Mags. Wenn es tatsächlich ihr echter Name ist«, sagt sie und grinst. »Sie hat eine dunkle Vergangenheit. Oh, und das hier ist Holly.«
Ich versuche, in die Realität zurückzukehren. Dieser Mann ist nicht Gerry. Eindeutig nicht. Nur ein junger hübscher Typ, der ihm ähnlich sieht, so ähnlich, dass es Ciara und mir für einen Moment den Atem geraubt hat. Schwarze Haare, ein typischer Ire, aber mein Gott – er sieht aus wie Gerry!
»Ich bin Holly.«
»Hi, ich bin Jack.«
»Freut mich, Sie kennenzulernen, Jack«, sage ich und schüttle ihm die Hand. Er ist so jung. Schätzungsweise zehn Jahre jünger als ich, ungefähr so alt wie Gerry, als er gestorben ist. »Hier entlang, bitte.«
Ich führe ihn zum Lagerraum, den ich renoviert habe, um einen einladenden Bereich für den Club zu schaffen, und wir setzen uns dort auf die Couch. Er sieht sich um. An der Wand habe ich gerahmte Fotos von den Mitgliedern des ursprünglichen »P. S. Ich liebe Dich«-Clubs aufgehängt: Angela, Joy, Bert, Paul und Ginika. Und ich habe Gerry noch hinzugefügt, das fand ich passend, schließlich geht das ganze Projekt ja auf ihn zurück. Jacks Blick bleibt an Gerry hängen, und ich frage mich, ob ihm die Ähnlichkeit ebenfalls auffällt. Ich reiche ihm eine Flasche Wasser. Nervös kippt er die Hälfte davon runter.
»Worum geht es denn?«
»Ich habe in einer Zeitschrift über die ›P. S. Ich liebe Dich‹-Briefe gelesen, ausgerechnet im Krankenhaus, als ich im Wartezimmer saß.«
Ich kenne den Zeitschriftenbeitrag. Wir sind eine neue Stiftung, es gibt noch nicht viele Artikel, die man verwechseln könnte. Dieser wurde in einem Gesundheitsmagazin veröffentlicht, und in einem Absatz ging es sogar um Gerry und mich. Vielleicht war es Gerry, der ihn bewogen hat, herzukommen.
»Ich habe Krebs«, sagt er, und seine Augen füllen sich mit Tränen. Dann räuspert er sich und senkt den Blick. »Ich möchte etwas für meine Frau machen. Wir haben erst letztes Jahr geheiratet. Ich habe von Ihrer Geschichte gelesen. Ich möchte etwas Lustiges für sie machen, jeden Monat des Jahres, genau wie Gerry bei Ihnen.«
Ich lächle. »Es wäre mir eine Ehre, Ihnen dabei zu helfen.«
»Haben Sie … hat er … war es …?« Er ringt um Worte. Seufzend fährt er schließlich fort: »Sie finden es ja offensichtlich eine gute Idee, sonst hätten Sie nicht damit angefangen. Aber meinen Sie, es wird meiner Frau auch gefallen?«, fragt er.
So ein Projekt ist so vielschichtig, es gibt so viel, was es zu erklären gilt. Seine Frau wird bei den Briefen und Aufgaben, die ihr Mann sich für sie ausdenkt, so viel empfinden, dass es mir schwerfällt, das in Worte zu fassen. Sie wird den Verlust fühlen, die Trauer, aber auch die Verbindung, Liebe, Mut und Dunkelheit, Wut, Licht und Hoffnung, Lachen und Angst. Und alles dazwischen – ein Kaleidoskop von Emotionen, die von einem Moment zum anderen aufleuchten und flimmern.
»Jack, auf Ihre Frau kommen Dinge zu, die ihr Leben für immer verändern werden«, sage ich schließlich. »Wenn wir die Briefe richtig planen, werden sie dafür sorgen, dass Sie selbst bei jedem Schritt bei ihr sind. Glauben Sie, dass sie das möchte?«
»Ja. Definitiv.« Er lächelt, überzeugt. »Gut. Wir machen es. Aber ich habe ihr gesagt, ich wäre nur eine Minute hier, um für meine Mum ein paar Sachen wegzubringen.« Er wirft einen Blick auf den Müllbeutel neben seinen Füßen. »Aber das sind bloß alte Zeitungen, sorry.«
»Dann sollten wir sie lieber nicht warten lassen.« Ich stehe auf und führe ihn zurück in den Laden. »Wir können uns gern bald wieder treffen, dann können Sie mir Ihre Frau ein bisschen näher beschreiben, damit ich ein Gefühl für sie bekomme. Wie heißt sie denn?«
»Molly.«
»Molly.«
»Bye, Jack«, sagt Ciara.
»Bye, Ciara, bye, Mags«, sagt er und grinst.
Die Tür schließt sich, und Ciara schaut mich an, als hätte sie einen Geist gesehen. Ich eile zum Fenster und beobachte, wie Jack zu einer hübschen jungen Frau ins Auto steigt. Molly. Sie unterhalten sich, während er den Schlüssel herauskramt.
Molly sieht zu mir herüber und lächelt. Mit diesem Blick, diesem kurzen Kontakt versetzt sie mich in die Vergangenheit, weit, weit zurück. Ich habe das Gefühl, durch ein dunkles Loch zu sausen, mein Herz kann kaum Schritt halten. Ich möchte diese junge Frau beschützen, wie eine Mutter, eine gute Freundin. Ich möchte für sie sorgen, ihr die Hand reichen, sie umarmen. Ich möchte ihr sagen, sie soll Jack an sich drücken, ihn festhalten, ihn einatmen, jede Sekunde mit ihm genießen. Ich möchte ihr den Raum geben, den sie braucht, ich möchte ihr erlauben, eine Mauer um sich zu bauen, während ich ihr von draußen geduldig zuhöre. Ich möchte ihr helfen, diese Mauer wieder einzureißen. Ich möchte sie warnen und ihr Hoffnung geben. Ich möchte ihr Mut machen, ihr helfen, sich nicht unterkriegen zu lassen. Ich möchte ihr sagen, sie soll sich umdrehen und so schnell wie möglich weglaufen. Ich habe das Gefühl, ich kenne sie genau. Ich weiß, wer sie ist und wo sie sich in diesem Augenblick befindet, ich kenne die Reise, die sie jetzt antritt, und auch die Entfernung, die sie zurücklegen wird. Und doch weiß ich, dass ich auf Abstand gehen und sie alleine dorthin gelangen lassen muss.
Vielleicht beneide ich sie jetzt ein bisschen, als ich diese beiden jungen Menschen zusammen sehe, aber ich beneide sie nicht um das, was ihnen bevorsteht. Ich habe es geschafft, ich habe es hinter mir. Ich werde ihr die Daumen drücken und auf der anderen Seite auf sie warten.
Ich erwidere ihr Lächeln.
Und dann fahren sie davon.