Kapitel 26
Zu Hause gehe ich unter die Dusche und freue mich, dass ich mich endlich wieder vollständig waschen kann. Als das Wasser auf die kaputte Haut trifft, tut es so weh, dass ich laut aufstöhne, doch dann beginne ich mit dem, was in der nächsten Zeit mein tägliches Ritual werden wird. Ich massiere die Haut mit Öl und Creme, schiebe sie vorsichtig hin und her, strecke und dehne mich und versuche, mich an die neugefundene Freiheit zu gewöhnen. Ohne den Gips fühle ich mich immer noch sehr unsicher, ich wage es nicht, ohne die Unterstützung des Gehstiefels mein Gewicht auf das Bein zu verlagern. Aber ich nehme mir vor, sanft und geduldig zu sein, bis meine Muskeln ihre Spannkraft zurückgewonnen haben, und versuche, so nett zu mir zu sein, wie ich zu anderen auch sein würde. Und wenn mir das Herz weh tut, weil ich Gabriel verliere und ihm weh getan habe, denke ich daran, was er gewonnen hat, und rufe mir ins Gedächtnis, dass er mit Ava zusammen sein kann. Und natürlich denke ich auch an das, was ich in diesem Jahr gewonnen habe, an meine neuen Freunde aus dem Club und an das, was und wen sie in mein Leben zurückgebracht haben.
Ich bin nie davon ausgegangen, dass ich für immer mit Gabriel zusammen bleiben würde. Als ich Gerry kennengelernt habe, war ich jünger und wahrscheinlich auch ziemlich naiv, denn ich glaubte fest daran, dass wir Seelenpartner waren, dass er der Eine, der Richtige für mich war. Als Gerry starb, hörte ich auf, so zu denken. Inzwischen bin ich der Überzeugung, dass wir uns in verschiedenen Phasen unseres Lebens zu bestimmten Menschen hingezogen fühlen. Aus vielerlei Gründen, aber in erster Linie, weil zwischen der Version unseres Selbst und der Version des Betreffenden zu diesem Zeitpunkt eine Verbindung besteht. Wenn man dabei bleibt, wenn man daran arbeitet, kann man gemeinsam in neue Richtungen wachsen. Manchmal entwickelt man sich auch auseinander, aber ich glaube, es gibt für jede der verschiedenen Versionen unseres Selbst den richtigen, den einen Menschen. Gabriel und ich haben im Hier und Jetzt gelebt. Gerry und ich haben auf das Immer gezielt und ein kleines Stück davon bekommen. Und ein angenehmes Jetzt und ein Stück vom Immer ist auf jeden Fall besser als nichts.
Als ich aus der Dusche komme, sehe ich, dass ich einen Anruf von Joy verpasst habe. Bert geht es schlechter, er hat das Bewusstsein verloren. Am Ende ihrer Nachricht fragt sie panisch: »Sind seine Briefe fertig und an Ort und Stelle?«
Zum Ausdrucken wähle ich eine verschnörkelte Schreibschrift, um Berts Worte eindrucksvoller zu machen, frage mich dann aber, ob das vielleicht zu übertrieben ist und ich das Ganze nicht doch einfacher gestalten sollte. Schließlich will ich ja nicht Stil ohne Substanz. Aber die anderen Schriftarten erscheinen mir teils zu seelenlos, ohne Herz, teils erinnern sie mich an Erpresserbriefe. Ich kann den Gedanken nicht mehr verdrängen, nachdem ich ihn hatte. Also spiele ich eine Weile herum und entscheide mich zum Schluss doch für die Edwardian Script, weil ich denke, dass es der Schrift am nächsten kommt, die Bert angestrebt hat. Ich drucke die sechs Briefchen auf goldene Etiketten, klebe sie auf nachtblaue Karten und verziere den Rand mit winzigen Stickern. Das Motiv hat eine Bedeutung für mich, nämlich Gerrys Spruch Greif nach den Sternen, einen davon wirst du bestimmt erwischen – obwohl mir bewusst ist, dass Rita diesen Wink natürlich nicht verstehen wird. Aber so fühle ich mich verbunden, ich drücke den Karten Gerrys Identität auf, die natürlich im Grunde längst überall enthalten ist – mit ihm hat ja alles angefangen. Ich hoffe, Rita mag Sterne und findet nicht, dass die Karten aussehen wie ein Schulprojekt. Immerhin habe ich elegantes, edles Material verwendet. Die Karten stecke ich in goldene Umschläge, drucke dann Ziffern aus und experimentiere auch hier mit verschiedenen Schriften. Die Seite mit den verschiedenen Ziffern lehne ich an meinen Computer, starre eine Weile darauf und hoffe, dass sich mir eine davon intuitiv aufdrängt. So viel geht mir durch meinen unausgeschlafenen, erschöpften Kopf.
Als ich so dasitze und mich mit den Worten eines Mannes beschäftige, der im Sterben liegt, fällt mir plötzlich ein, dass ich Berts Briefe möglicherweise an genau der gleichen Stelle schreibe, an der Gerry die meinen geschrieben hat. Ich arbeite die ganze Nacht, bis die Sonne wieder aufgeht und neue Hoffnung über die Welt streut. Bis zum Morgen sind die Briefe fertig, und ich kann nur hoffen, dass Bert die Nacht überstanden hat und noch bei uns ist.
Ich bin stolz auf meine Arbeit. Sie macht mich nicht kaputt, wie viele meiner Bekannten – und auch ich selbst – es befürchtet haben. Zurückzublicken, sich der Vergangenheit zu stellen, ist kein Zeichen von Schwäche. Es geht auch nicht darum, alte Wunden aufzureißen. Sicher, es erfordert Kraft und Mut, und man muss sich seiner selbst sicher sein, um einen klaren, unvoreingenommenen Blick auf den Menschen werfen zu können, der man früher war. Doch ich zweifle nicht daran, dass die Konfrontation mit meiner Vergangenheit mich und alle, die von meiner Reise berührt werden, ermutigen und stärken wird.
»Du warst die ganze Nacht auf«, stellt Denise fest, als sie mit verschlafenen Augen und zerwühlten Haaren plötzlich hinter mir an der Küchentür erscheint. Sie betrachtet den Tisch.
»Du bist immer noch da«, erwidere ich, völlig am Ende.
»Darüber reden wir ein andermal«, sagt sie. »Wessen Briefe sind das?«
»Die von Bert. Sein Zustand hat sich letzte Nacht verschlechtert. Ich muss seine Botschaften fertigmachen.«
»Oh, wow«, sagt sie leise und setzt sich zu mir. »Brauchst du Hilfe?«
»Ja, eigentlich schon«, sage ich und reibe mir die schmerzenden Augen. Mein Kopf dröhnt vor Müdigkeit. Denise mustert mich einen Moment und denkt irgendetwas, was sie mir nicht mitteilt, aber ich bin froh darüber. Dann stürzt sie sich in die Arbeit, findet die restlichen nummerierten Etiketten samt den Karten und steckt sie in die passenden Umschläge.
Gleich den ersten Text liest sie. »Hat er Gedichte geschrieben?«
»Limericks. Es ist eine Rätselreise. Seine Frau muss einen Ort erraten, hinfahren und dort den nächsten Hinweis suchen. Und so weiter.«
»Süß«, sagt sie und lächelt, liest und steckt die nächste Karte in ihren Umschlag. »Musst du die Briefe heute noch ausliefern?«
»Das gehört zu meinem Service. Bert kann es ja nicht selbst tun.«
»Dann helfe ich dir.«
»Aber du musst doch zur Arbeit.«
»Ich kann den Tag freinehmen. Wir haben genug Leute in der Abteilung, und ehrlich gesagt kann ich ein bisschen Abstand mal ganz gut gebrauchen.«
»Danke, meine Freundin«, sage ich und lege den Kopf auf ihre Schulter.
»Wie geht es Bert?«, fragt Denise, als sie sieht, dass ich meine SMS checke.
Seine Familie ist bei ihm. Seine Enkel haben für ihn gesungen. Alle haben sich verabschiedet.
Ich lese ihr Joys Nachricht vor: »Es wird nicht mehr lange dauern.«
Als ich die Haustür abschließe, höre ich eine Autotür zuschlagen und schnelle Schritte, die auf uns zukommen. Diese Füße haben eine Mission.
»Oh-oh«, sagt Denise.
»Ich wusste es!«, ertönt Sharons Stimme.
»Wo sind deine Kinder?«, fragt Denise.
»Bei meiner Mum, ich habe heute einen Ultraschalltermin.«
»Aber du dachtest, du betätigst dich erst mal ein bisschen als Schnüfflerin?«, fragt Denise.
»Ich habe bei dir zu Hause angerufen. Tom hat gesagt, dass du zurzeit bei Holly bist. Stimmt das?«
»Denise macht gerade einen Moment des Zweifels durch«, erkläre ich.
»Warum bist du damit nicht zu mir gekommen?«
»Weil du überkritisch bist und vorschnelle Urteile fällst. Außerdem hast du kein Gästezimmer.«
Sharon sperrt Mund und Nase auf.
»Aber hauptsächlich, weil du kein Gästezimmer hast.«
»Ich hätte Alex bei Gerard unterbringen können, so mache ich das immer, wenn wir Gäste haben.«
»Ja, aber dann hätte ich kein Bad für mich allein gehabt, und das mag ich nicht.«
»Holly hat oben auch nur ein Bad zwischen zwei Schlafzimmern.«
»Ja, aber sie hat unten noch eine Dusche.«
Ich schaue von Sharon zu Denise und versuche einzuschätzen, ob sie ihre Diskussion ernst meinen. Anscheinend schon. »Wenn euch beiden dieses Gespräch wichtig ist, könnt ihr gern reingehen und im Haus weitermachen, aber ich muss los.«
»Du arbeitest montags doch gar nicht«, sagt Sharon und mustert mich mit argwöhnisch zusammengekniffenen Augen. »Da ist der Laden geschlossen. Wo geht ihr beiden denn hin?«
»Wir müssen ein paar Briefe ausliefern«, flötet Denise.
Sharon macht große Augen. »Etwa die ›P. S. Ich liebe Dich‹-Briefe?«
»Ja!«, bestätigt Denise, setzt sich auf den Beifahrersitz und schließt die Tür.
»Warum bist du denn so fies zu ihr?«, frage ich, während ich die Fahrertür zuziehe.
»Weil es so leicht ist, sie auf hundertachtzig zu bringen.«
Ich lasse den Motor an, das Fenster runter und schaue zu Sharon, die mit offenem Mund dasteht und uns anstarrt. Sie sieht sehr müde aus. Bestimmt kann sie ein Abenteuer brauchen.
»Hast du Lust mitzukommen?«, frage ich sie.
Sie grinst wie ein Kind und nimmt auf dem Rücksitz Platz.
»Wie in alten Zeiten«, stelle ich fest.
»Darf ich die Briefe mal sehen?«
Denise reicht ihr den Stapel nach hinten.
»Steckst du auch mit drin?«
»Ich hüte ein Baby, während Holly seiner Mum Lesen und Schreiben beibringt«, erklärt Denise.
»Du bringst jemandem Lesen und Schreiben bei?«, fragt Sharon überrascht.
»Ich versuche es zumindest«, antworte ich, während ich zurücksetze und auf eine oberschlaue Antwort warte. Auf dem Sterbebett kommen die Leute auf merkwürdige Gedanken, was? Irgendetwas, mit dem sie sich über das, was ich tue, lustig macht. Aber nichts dergleichen.
»Die sind aber hübsch aufgemacht«, sagt Sharon nur, holt den ersten Limerick heraus und liest ihn vor.
Ein Mann ging gern ins Tanzlokal
Das Chrysanthemum war seine erste Wahl
Dort sah er ein Traumbild in Blau
Und das wurd seine Frau
Die er liebt nun für immer, und das nicht nur verbal.
»Wie süß«, seufzt Sharon. »Worauf spielt das an?«
»Das Chrysanthemum war ein Tanzlokal, und Bert und Rita haben sich in den Sechzigerjahren dort beim Auftritt einer Showband namens The Dawnbreakers kennengelernt. Aber es ist noch zu früh, das Restaurant, das jetzt dort untergebracht ist, hat noch nicht geöffnet, deshalb gehen wir zuerst zur zweiten Location.«
Sharon öffnet den nächsten Umschlag und liest.
Ein Mann der lockt eine Frau
Mit Lyrik zum Ausgehn – er war schlau
Als sie saßen auf der Bank
War vor Lieb’ er fast krank
Doch sein Kuss traf mitten ins Herz sie genau.
»Das war ihr erster Kuss?«, fragt Sharon.
»Bingo.«
Auf Patrick Kanavaghs Bank in der Mespil Road am Nordufer des Grand Canal, dort, wo eine lebensgroße Statue von Kavanagh auf einer Bank sitzt und die Vorübergehenden einlädt, sich zu ihm zu gesellen, haben Bert und Rita sich zum ersten Mal geküsst. Wir stehen neben der Bank, und als ich mir vorstelle, wie Bert und Rita sich hier vor so langer Zeit zum ersten Mal geküsst haben, schießen mir Tränen in die Augen. Ich schaue zu meinen Freundinnen, aber Sharons Gesichtsausdruck ist alles andere als gerührt.
»Hier kannst du doch unmöglich den zweiten Umschlag hinterlegen.«
»Soll ich aber.«
»Nein, das geht nicht. Der erste Limerick führt zu einem Tanzlokal, dort hinterlässt du den zweiten, der zu dieser Bank führt. Also musst du hier den dritten deponieren.«
Denise und ich sehen uns an. Wieso ist uns dieser Fehler nicht aufgefallen? Ist doch kein Hexenwerk.
»Ich wette, jetzt bist du froh, dass du mich mitgenommen hast«, sagt Sharon und setzt sich mit zufriedenem Gesicht neben Patrick Kavanagh. »Und außerdem – wo willst du den Umschlag denn deponieren?«, fragt sie, immer noch ziemlich hochnäsig. »Bei Paddy vielleicht?« Sie sieht die Statue an. »Paddy, ich fürchte, unsere Freundin hat ihren großartigen Masterplan nicht ordentlich durchdacht, und jetzt stellt sich raus, dass er beschissen ist.«
Endlich lacht Denise wieder ihr dreckiges Lachen, sosehr mich das momentan auch ärgert. Ich werfe meinen beiden Freundinnen einen bösen Blick zu, und sie sind sofort still.
Nachdenklich schaue ich auf die Bank, überlege, ob ich den dritten Umschlag vielleicht in Plastik einpacken und unter die Bank kleben könnte, dabei ist mir klar, dass das praktisch nicht umsetzbar ist. Ich weiß nicht, wie lange Bert noch zu leben hat, vielleicht nur ein paar Stunden, vielleicht aber auch ein paar Tage. Oder sogar Wochen – es sind wirklich schon seltsamere Dinge vorgekommen. Oft verabschieden Menschen sich früher als erwartet von der Welt, aber natürlich können sie auch länger leben, als man denkt. Außerdem weiß ich gar nicht, wann Rita sich auf die von Bert für sie arrangierte Reise begeben wird. Um startbereit zu sein, braucht sie vielleicht ein paar Tage, vielleicht aber auch Wochen oder gar Monate. Ein verdächtiges Päckchen unter einer berühmten innenstädtischen Attraktion, die jeden Tag von Touristen und nachts von der Himmel weiß wem besucht wird, bliebe nicht lang an Ort und Stelle.
»Sieh mal, sie denkt nach«, sagt Denise plötzlich.
»Und macht dabei kaum Krach«, fügt Sharon hinzu.
Beide fangen an zu kichern und sind wahnsinnig stolz auf ihre poetische Komik.
»Ihr Blick schweift versonnen in die Ferne«, macht Sharon weiter.
»Was denkt sie nur? Das wüsste ich gerne«, ergänzt Denise.
Ich ignoriere sie, denn ich habe keine Zeit zu verschwenden. Ich muss vier Briefe ausliefern, Bert liegt im Sterben, ist vielleicht schon auf dem Weg in eine andere Welt, während wir hier an diesem wichtigen Ort seiner Vergangenheit stehen. Ich lese noch einmal die Inschrift auf der Plakette, und auf einmal wird mir etwas Schlimmes klar. Etwas Schreckliches.
»Wartet mal. Bert hat doch gesagt, dass er und Rita sich 1968 auf dieser Bank zum ersten Mal geküsst haben.«
Ich schaue zu meinen Freundinnen. Sie kuscheln sich an Patrick Kavanagh und machen Selfies, Friedenszeichen und Kussmündchen.
»Diese Bank ist aber erst 1991 aufgestellt worden.«
Sofort brechen Denise und Sharon die Selfie-Show ab, anscheinend ist die veränderte Stimmung bei ihnen angekommen. Sie stehen auf und lesen die Tafel. Zu dritt starren wir darauf.
Ich runzle die Stirn. Dann vibriert das Handy in meiner Tasche, und ich lese die Nachricht gleich.
»Vielleicht kannst du Bert noch mal fragen, ob er sich richtig erinnert?«, schlägt Sharon hilfsbereit vor.
»Es ist zu spät«, erwidere ich, und sofort füllen sich meine Augen mit Tränen.
Die Nachricht ist von Joy.
Unser lieber Bert ist von uns gegangen.