Kapitel 34
«Man muss die Eier aufschlagen, wenn man ein Omelett backen möchte«, sage ich laut, während mein Blick über das Katastrophengebiet wandert, das mein Schlafzimmer war, bevor ich mit der Packerei für den Umzug begonnen habe.
»Von Eiern krieg ich Dünnschiss«, ruft Ciara aus wesentlich größerer Entfernung, als ich dachte. Sie ist im Gästezimmer nebenan.
»Ciara!«, ermahne ich sie.
Sie erscheint an der Zimmertür, in einem seltsamen Outfit aus den Klamotten, die ich soeben für den Laden in eine Tüte gestopft habe. Nichts davon passt wirklich zusammen.
»Du sollst mir helfen, die Tüten zu füllen, nicht, sie zum Verkleiden zu leeren.«
»Aber wenn ich das getan hätte, würde ich jetzt nicht so aussehen.« Sie posiert provokant am Türrahmen. »Ich glaube, diese Kombination werde ich am Freitagabend tragen.«
»Was davon?«, erkundige ich mich grinsend. »Du hast mindestens drei Outfits an.«
Den Kram aus zehn Jahren in Mülltüten zu stopfen oder in Kisten zu packen, um noch mehr Kram in meinem neuen Heim anzusammeln, dauert länger als erwartet, da jeder Brief, jeder Bon am Grund jeder Jeans- und Jackentasche eine Geschichte erzählt und mich in eine Erinnerungsschleife katapultiert. Bei der Arbeit bin ich es gewohnt, solche Aufgaben effizient zu erledigen, aber weil es um meine persönlichen Dinge geht, ist jeder Gegenstand ein Wurmloch, das mich in eine andere Zeit meines Lebens zurückbefördert. Obgleich ich mich fühle, als würde die Zeit stehenbleiben, vergeht eine Stunde nach der anderen, aus Tag wird Nacht. Mit Klamotten, Schuhen und Büchern, die keinen sentimentalen Wert haben, habe ich weit weniger Skrupel. Alles, was ich im letzten Jahr nicht anhatte und bei dem ich mich wundere, es überhaupt gekauft zu haben, wandert ohne Umwege in die Wohlfahrtstüten.
Anfangs ist der Vorgang stressig. Alles liegt in großen Haufen um mich herum, und ich vergrößere das Chaos nur noch. Jedes Stück wird aus seinem Versteck gezerrt, seine ganze Nutzlosigkeit offenbart.
Vorselektion, hat Ciara es genannt.
»Ich weiß nicht, wie es überhaupt irgendwas auf die Regale deines Shops schaffen soll.«
»Deshalb ist es ja auch dein Job, die Tüten und Kisten zu leeren. Ich habe nämlich die Angewohnheit, all das zu wollen, was andere Leute aussortieren«, erklärt sie mir frech. »Mathew behauptet zwar, das ist ein Fluch, aber ich weiß, dass es in Wahrheit ein Gottesgeschenk ist, weil ich ihn nämlich deshalb geheiratet habe, und das habe ich ihm auch gesagt.«
Ich lache. Zeit für eine Pause.
»Ich bin so froh, dass du das machst«, sagt Ciara, die sich mit ausgestreckten Beinen auf dem Boden entspannt, Kniestrümpfe über einer Strumpfhose. Dann richtet sie sich auf und zieht ein Paar Riemchensandalen über das Ganze. »Ich bin stolz auf dich. Wir alle sind stolz auf dich.«
»Da müssen ja alle ziemlich niedrige Erwartungen an mich haben, wenn es euch stolz macht, dass ich mein Haus verkaufe.«
»Es ist mehr als das, und das weißt du auch genau.«
Ich weiß es tatsächlich. »Was, wenn ich dir sage, dass es weniger an einer emotionalen Bereitschaft zu reifen lag als an der Tatsache, dass die Küche dringend eine Renovierung braucht, die Fenster ersetzt werden müssen, irgendwas mit der Heizung nicht stimmt und sich im Esszimmer der Boden wellt? Damit die Interessanten es bei der Besichtigung nicht sehen, habe ich die Beule unter einem Teppich versteckt.«
»Ich würde sagen, ich bin stolz auf dich, dass du nicht mit dem sinkenden Schiff zusammen untergehst.« Sie lächelt, aber ein bisschen wacklig. »Die letzten paar Monate habe ich mir echt Sorgen um dich gemacht. Ich dachte schon, ich hätte dich wieder in den Betriebsstörungsmodus befördert.«
»Aber ich bin okay.«
»Jetzt musst du bloß noch eine Bleibe finden«, sagt Ciara und schwingt singend einen Tüllschal um sich. Es sieht aus wie eine Art Bändergymnastik.
»Alles, was man mir bisher angeboten hat, war so furchtbar. Im letzten Haus, das ich besichtigt habe, gab es ein avocadogrünes Badezimmer aus den Siebzigern.«
»Retro ist doch cool.«
»Vierzig Jahre ohne die Popobakterien anderer Leute ist cooler, finde ich.«
Ciara kichert. »Ich glaube, du suchst bloß nach Ausreden und weißt eigentlich ganz genau, wo du wohnen möchtest.«
Auf einmal meldet sich der zerrissene Teil meines Herzens zu Wort. Er hat anscheinend nicht vor zu verschwinden. Ganz gleich, wie sehr ich versuche, mich auf etwas anderes zu konzentrieren, diese wunde Stelle hat offenbar nicht die Absicht zu heilen, solange ich mich nicht mit ihr beschäftige. Ich schaue mich in meinem Schlafzimmer um. »Die Erinnerungen werde ich schon vermissen.«
»Igitt«, meint sie ironisch.
»Ich möchte nicht alles vergessen, eigentlich gar nichts, ich möchte nur …« Ich schließe die Augen. »Ich möchte in einem Zimmer einschlafen, in dem ich mich nicht nach jemandem sehne, der nicht mehr da ist und nie zurückkommen wird. Und ich möchte in einem Zimmer aufwachen, in dem ich nicht immer wieder den gleichen Albtraum hatte.«
Ciara antwortet nicht, und ich mache die Augen wieder auf. Meine Schwester wühlt bereits in der nächsten Tüte.
»Ciara! Ich entblöße hier meine Seele!«
»Sorry«, sagt sie und angelt einen alten Slip heraus, »aber ich fange an, ein Gefühl dafür zu entwickeln, welche schmerzlichen Erinnerungen du vergessen solltest. Wie alt ist beispielsweise dieser Lappen? Und bitte sag mir, dass dich nie jemand darin gesehen hat.
Ich lache und nehme ihr den Slip weg. »Die Tüte ist für den Müll.«
»Ich weiß nicht recht, ich denke, man könnte einen Hut daraus machen.« Sie holt sich den Slip zurück, setzt ihn sich auf den Kopf und wirft sich in Pose. Ich hole ihn mir zurück.
»Wurzeln und Flügel«, sagt Ciara, auf einmal ernst geworden. »Ich habe dir übrigens zugehört. Mathew und ich haben ein paar Sachen für den Laden bei einer Frau abgeholt, die das Haus ihrer Kindheit verkauft hat. Ihre Mutter ist gestorben, und es war richtig schwer für sie, das Haus wegzugeben. Sie hat mich gefragt, ob es irgendetwas gibt, was gleichzeitig Wurzeln und Flügel hat. In dem Haus zu bleiben hatte ihr geholfen, ihre Mutter und die Erinnerungen festzuhalten. Es zu verkaufen, versprach finanzielle Sicherheit und diverse andere Möglichkeiten. Wurzeln und Flügel.«
»Wurzeln und Flügel«, wiederhole ich, das gefällt mir. »Ich hasse Abschiede. Aber Abschiede zu hassen, ist keine Rechtfertigung dafür, zu bleiben«, füge ich mit einem tiefen Seufzer und wie eine Art Mantra hinzu – mehr zu mir selbst als zu Ciara.
»Und sich vor Abschieden zu fürchten ist auch keine Rechtfertigung dafür, als Erster zu gehen«, ergänzt Ciara.
Überrascht schaue ich sie an.
»Wollte ich nur mal nebenbei erwähnen.«
Als wir die Tüten in den Van schleppen, klingelt im Haus mein Telefon. Ich renne hinein, verpasse aber gerade den Anruf von Denise, und mir wird vor Angst flau im Magen. Ich lasse mir einen Moment Zeit, um mich zu beruhigen, dann rufe ich zurück. Sie antwortet sofort.
»Ich glaube, du solltest rüberkommen.«
»Okay. O Gott.« Mir kommen die Tränen.
»Ginikas Eltern sind gerade gegangen. Sie war nicht ansprechbar, aber ich glaube, sie wusste, dass sie da waren.«
»Ich komme, so schnell ich kann.«
Denises Haus ist ganz still. Die meisten Lichtquellen sind ausgeschaltet, nur ein paar kleine Lampen und Kerzen erhellen Räume und Korridore. Eine ruhige Atmosphäre liegt über allem, keine Dringlichkeit, weder Druck noch Eile, wir alle dämpfen die Stimme. Seit vier Wochen, also seit Denise und Tom offiziell als Jewels Betreuer eingesetzt sind, wohnen Ginika und ihre Tochter bei den beiden und werden hier versorgt, was für Ginika, selbst in ihrem Zustand, gut war. Sie konnte in der Umgebung sein, in der Jewel aufwachsen wird, die gleiche Luft atmen wie sie. Festhalten und loslassen. Tom führt mich zu ihrem Zimmer, wo Denise bei ihr sitzt und ihre Hand hält.
Ginika atmet langsam und flach, seit ein paar Tagen ist sie bewusstlos.
Ich setze mich auch aufs Bett und nehme ihre andere Hand – die rechte, mit der sie geschrieben hat – und küsse sie.
»Hallo, meine Süße.«
Eine Mutter, eine Tochter, eine Stürmerin und Kämpferin. Eine inspirierende junge Frau, die nur einen Teil des Ganzen bekommen, aber mir und uns allen so viel gegeben hat. Es ist nicht fair. Als Gerry diese Welt verlassen hat, habe ich seine Hand gehalten, und hier bin ich, um mich wieder von einem Menschen zu verabschieden, den ich liebe. Ich liebe diese junge Frau, ich habe sie tief ins Herz geschlossen. Diesen Übergang mitzuerleben, dieses Abschiednehmen – es wird nie leichter, aber mich darauf vorzubereiten und ihr dabei zu helfen, sich vorzubereiten, hat das Leiden gelindert, die Wut, den Zorn, der aufflammt, wenn man mit der brutalen Realität konfrontiert ist. Leichter Anfang, leichtes Ende, sagt man, aber so ist es nicht. Die Ankunft in der Welt ist ein Marathon für Mutter und Kind, das Leben schiebt und drängt, aber der Abschied ist ein Kampf ums Bleiben.
Für die restlichen Stunden bleiben Denise und ich an Ginikas Seite, bis sie sanft diese Welt verlässt. Nachdem sie ihren Atem so lange festgehalten hat, atmet sie noch einmal ein und nicht mehr aus. Das Leben lässt sie los, der Tod fängt sie auf. Obgleich die Krankheit so schmerzhaft war, ist der Tod genauso friedlich, wie ich es ihr versprochen habe. Als sie still auf dem Bett liegt, keine flatternden Augenlider mehr, kein angestrengtes Heben und Senken des Brustkorbs, kein Atem mehr, hoffe ich und wünsche ich mir, dass die vergnügt-verspielte Seele, die diesen Körper bewohnt hat, jetzt die Freiheit hat, zu schweben, zu tanzen, zu wirbeln und sich emporzuschwingen. Asche zu Asche, Staub zu Staub, aber mein Gott, flieg, Ginika, flieg.
Einen solchen Moment mitzuerleben, so tragisch und überwältigend er sein mag, ist eine große Ehre. Vielleicht ist es egoistisch, aber irgendwann wird mir der Gedanke helfen, dass ich am Ende bei ihr war. Für immer werde ich mich daran erinnern, wie ich Ginika begegnet bin, für immer werde ich mich daran erinnern, wie wir voneinander gegangen sind.
Als fühle sie ihren eigenen großen Verlust, erwacht Jewel schreiend im Nebenzimmer.
Mit roten Augen und ziemlich erschöpft versammeln wir uns am Küchentisch, Tom, Denise und ich. Ich hole eine Souvenirbox aus meiner Tasche und stelle sie auf den Tisch.
Ginikas Brief ist darin.
»Das ist für dich, Jewel. Von Mama.«
»Mama«, wiederholt Jewel und lächelt, greift sich ihre moppeligen Zehen und zieht an ihnen.
»Ja, Mama.« Ich versuche zu lächeln und wische mir eine Träne aus den Augen. »Mama liebt dich so sehr.« Ich wende mich an Denise. »Das ist jetzt deine Verantwortung.«
Denise nimmt die Box an sich und streicht mit dem Finger darüber. »Wunderschön.«
Es ist die Schmuckschatulle mit den Spiegeln, die ich im Laden gefunden habe. Die Kristalle, die lose darin lagen, habe ich wieder auf den Deckel geklebt und die Einlage entfernt, so dass sich das Kästchen jetzt gut als Souvenirbox eignet, in der Jewels erstes Paar Socken, Strampler und Handschuhe und ein aus Jewels und Ginikas Haarsträhnen geflochtenes Zöpfchen liegen.
»Sie hat den Brief selbst geschrieben«, erkläre ich. »Ich habe ihn nicht gelesen, und sie hat mir auch nie erzählt, was sie geschrieben hat. Sie wollte alles ganz alleine machen.«
»Tapferes Mädchen«, sagt Denise leise.
»Mach ihn auf«, ermuntert Tom sie.
»Jetzt?«, hakt Denise nach und schaut von ihm zu mir.
»Jewel möchte ganz sicher gerne hören, was drinsteht, stimmt’s, meine Süße?«, sagt er und küsst sie auf den Kopf.
Denise öffnet die Schatulle und nimmt den Brief heraus. Faltet ihn auf. Der Anblick von Ginikas Handschrift, die Erinnerung, wie hart sie gearbeitet, wie sehr sie sich angestrengt hat, bringen mich wieder zum Weinen.
Liebe Jewel,
Du bist 13 Monate alt.
Du magst Süßkartoffeln und Apfelkompott.
Dein Lieblingsbuch ist die kleine Raupe Nimmersatt, und du nakst gern an den Ecken.
Der Map Song von Dora bringt dich am allermaisten zum Lachen.
Du brinkst gern Seifenblasen zum platsn.
Dein liebstes Kuscheltier ist Bop Bop Bunny.
Niesen bringt dich zum Lachen.
Papierzereisen bringt dich zum Heulen.
Du liebst Hunde.
Du zeigst gern auf die Wolken.
Du kriekst Schlukauf, wenn du zuschnell trinkst.
Du magst den Song ›ABC‹ von den Jackson 5.
Einmal hasst du eine Schnecke in den Mund genommen und sie aus ihrem Haus gesaukt. Igitt. Schnecken magst du nicht.
Du sitst gern auf meinem Knie und makst es nicht, wenn ich dich runtersetze. Ich glaube, du hast Angst, alleingelassen zu werden. Aber du bist nie allein. Du wirst nie allein sein.
Opwol du den Wint nicht sehen kannst, strekst du die Hände aus und willst ihn fangen. Das brinkt dich ganz durcheinander.
Du nennst mich Mama. Das höre ich am allerliebsten.
Wir tantsen jeden Tag. Im Bad singen wir Die klitzekleine Spinne.
Ich wollte, ich könnte dabei sein und zuschaun, wie du groß wirst. Ich wollte, ich könnte immer bei dir sein, die ganze Zeit. Ich liebe dich mehr als sonst irgendeinen oder irgendwas auf der ganzen Welt.
Sei nett. Sei klug. Sei mutig. Sei glücklich. Sei stark. Hab keine Angst dafor, Angst zu haben. Manchmal haben wir alle Angst.
Ich werde dich immer liebhaben.
Ich hoffe, du wirst mich nie vergessen.
Du bist das Beste, was ich je gemacht habe.
Hab ein glückliches Leben. Streng dich an. Krieg keinen Erger. Lass dich von niemant rumschupsen.
Hüte dich vor schlechten Menschen. Manchmal sehen schlechte Menschen aus, als wären sie gute. Manchmal denkst du, jemant ist schlecht, aber er ist gut. Lass dich von niemand zwingen, etwas geheim zu halten, was du nicht geheim halten willst. Erzähl keine schlimmen Lügen.
Sei glücklich.
Hab keine Angst.
Wenn du mich brauchst, dann streck die Hand aus und spür den Wint. Das bin ich. Ich lächle von den Sternen zu dir runter.
Ich bin traurig, dass ich gehen muss, aber glücklich, dass ich dich hatte.
Ich liebe Dich, Jewel.
Deine Mama.