England

Wulf kontrollierte noch einmal die Ausrüstung, die an der Anlegestelle aufgeschichtet lag. Die Inselbewohner hatten sich recht großzügig gezeigt. Alle Reisenden waren neu eingekleidet worden, so dass die mittlerweile zerschlissene Kleidung hier zurückgelassen werden konnte. Auch große Mengen an Proviant hatte man ihnen zur Verfügung gestellt.

Arton hatte sich angeboten, sie zu begleiten. Aber Wulf hatte dankend abgelehnt. Arton mochte zwar ein großer Magier sein, allerdings sprach sein Alter und die damit einhergehenden Gebrechen gegen eine Reise. Stattdessen würden fünf jüngere Weißmagier sie begleiten.

So näherte er sich nun, zusammen mit der gesamten Ratsgruppe und, wie es schien, der Hälfte der Inselbevölkerung, dem Pier, um die Reisenden zu verabschieden.

Es war eine rührende Abschiedsszene. Alle Hoffnungen der freien Weißen und Menschen ruhte auf ihnen. Schnell wurden das Gepäck und die fünfzehn Pferde auf die Schiffe verladen und mit einer kräftigen ablandigen Brise stachen sie in See.

Bereits nach wenigen Minuten erreichten sie die Nebelbank, die eine sichere Barriere gegen die Grauen und Dendraks darstellte.

Sie hatten sich entschlossen, eine südliche Route zu nehmen und dann in einem weiten Bogen westlich zu segeln, um den an Land lauernden Grauen zu entgehen. Der Wind stand gut und sie kamen schnell voran. Noch bevor die Sonne untergegangen war, hatten sie die südwestliche Landzunge Englands umrundet.

Dunkelheit legte sich über den Ozean. Millionen Sterne beleuchteten schwach die Flotte der Weißen. Man hatte keine Positionslichter entzündet, damit sie von Land nicht ausgemacht werden konnte. Sie selbst sahen aber an der entfernten Küste unzählige Lagerfeuer, die sich wie eine brennende Kette aneinanderreihten.

Ein Weißer reichte Becher mit dampfendem Tee, der dankbar angenommen wurde. Wulf beobachtete aufmerksam die Küste, während er an dem heißen Getränk nippte. Langsam machte sich eine bleierne Müdigkeit in ihm breit. Immer wieder schlossen sich seine Lider und er musste große Kraft aufbringen, um die Augen wieder zu öffnen. Der Becher in seiner Hand wurde schwerer und schwerer. Fast wäre er ins Reich der Träume hinüber geglitten, als ihn ein Poltern aus seinen warmen, weichen Gedanken riss.

Irritiert blickte er sich um.

Die gesamte Schiffsbesatzung lag zusammengekauert auf dem Deck. Selbst der Rudergänger lag, tief schlafend, über das Steuerrad gebeugt und schnarchte friedlich.

Wulf versuchte krampfhaft, wach zu bleiben. Doch die Müdigkeit übermannte ihn. Er sah gerade noch, dass sich ein Dutzend kleine Boote vom Ufer näherten, als er auch schon auf das Deck sank und das Bewusstsein verlor.

 

Sein Kopf fühlte sich an, als wenn er mit einem Schmiedehammer bearbeitet wurde. Stöhnend öffnete er die Augen und blickte sich mit sichtbarer Mühe um. Dämmerlicht umgab ihn, so dass er nur Umrisse von mehreren anderen Personen erkennen konnte. Sie befanden sich in einem hohen, aus grob behauenen Steinen gemauerten, Raum. Offenbar waren die Besatzungen aller Schiffe hier untergebracht. Er spürte eine Bewegung neben sich und versuchte den Kopf in diese Richtung zu drehen.

Ein heftiger Schmerz durchzuckte ihn. Seine Hände tasteten in Richtung seines Halses. Man hatte ihn offenbar mit einem eisernen Ring und einer kurzen Kette an der Wand befestigt.

Wulf konzentrierte sich auf den Eisenstift, der den Ring zusammenhielt, und versuchte so, den Ring zu öffnen.

Nichts geschah.

„Das habe ich auch schon versucht“, erklärte Wu, der dicht neben Wulf angekettet war. „Sieh dir das an. Da sind Zeichen in die Ringe eingraviert. Ich habe das schon mit den anderen diskutiert. Wir vermuten, dass es magische Zeichen sind, die unsere Magie unterdrücken.“

„Das ist möglich. So etwas habe ich vor Jahren schon einmal gesehen.“

Wulf betrachtete die Zeichen auf Wus Halsring. „Mit Magie kommen wir nicht weiter.“

Die Person neben Wulf erwachte nun auch und stöhnte herzerweichend.

„Bent, wie fühlst du dich?“ Wulf sah ihn besorgt an.

„Als wenn ich hinter einem Pferd her geschleift worden wäre“, antwortete Bent und versuchte sich gerade hinzusetzen. „Was ist hier los? Und, wo sind wir?“

„Wir sind hier vermutlich in einer Burg der Grauen. Das Wasser, mit dem wir den Tee zubereitet haben, war vergiftet. Mit Magie können wir nicht ausbrechen. Die Ringe um unsere Hälse lassen Magie nicht zu.“

„Hm ... Magie wirkt also nicht.“ Bent überlegte. Dann führte er die Hände zu seinem Hals und legte die Finger um den Ring.

Er atmete mehrmals tief ein. Dann spannte er seine Muskeln und zog die Hände, so fest er nur konnte, auseinander.

„Weiter! Mach weiter, Bent. Der Stift ist schon ganz krumm.“ Wu feuerte seinen Adoptivvater an.

Bent entspannte kurz und begann wieder, das Eisen auseinanderzuziehen. Vier Anläufe benötigte er, dann flog der Metallstift mit einem lauten Klirren in die Ecke ihrer Zelle.

Bent schloss für einen kurzen Augenblick die Augen, dann drehte er sich zu Wulf.

„Du bist der Nächste. Kann weh tun, geht aber nicht anders.“

Bent benötigte volle zwanzig Minuten, um Wulf zu befreien.

„Danke, mein Freund. Den Rest übernehme ich.“ Wulf konnte nun Magie wirken. Binnen kürzester Zeit waren alle Gefangenen von ihren Halsfesseln befreit.

„Kannst du dir vorstellen, warum die mich nicht sofort umgebracht haben?“ Lysan war sehr blass, aber gefasst.

„Ich weiß es nicht. Aber wir können später darüber nachdenken. Erst einmal müssen wir aus der Burg verschwinden.“ Er untersuchte mit seinen feinen, nun nicht mehr eingeengten Sinnen die Umgebung. Vor der Tür waren zwei Graue postiert. Wulf erkannte, dass es sich um schwächere Magier handelte, die von ihnen leicht überwältigt werden konnten.

Die Zelle lag im Kellerbereich eines Turmes an der Außenseite einer relativ kleinen Burg. Weitere Graue erspürte er im Hauptbereich der Burg. Im Freien befanden sich nur Nichtmagier.

„Seid ruhig!“, flüsterte Wulf. „Vor der Tür sind nur zwei Graue. Hennig, du übernimmst den rechts neben der Tür, ich den anderen.“ Hennig nickte. Leise, um die Wachen nicht auf sich aufmerksam zu machen schlichen beide zur Tür und konzentrierten sich auf ihre Magie. Auf Wulfs Zeichen hin, schossen zwei gelb leuchtende Blitze aus reiner, weißer Magie auf die Wände, hinter denen die Wachen gelangweilt auf ihrem Posten standen. Augenblicke später hörte man die beiden Wachen auf den Boden stürzen.

Es bereitete den Gefährten keine Schwierigkeiten, die schwere Eichentür zu öffnen.

Leise und vorsichtig schlichen sie auf den Gang und blickten sich unschlüssig um. Wohin sollten sie sich wenden? Wo war der Ausgang aus diesem Verlies? Der dämmerige Gang, in dem sie aneinander gedrängt standen, führte jeweils zehn Meter in beide Richtungen und bog dann nach links ab. Sie entschlossen sich, es zunächst auf der rechten Seite zu versuchen. Wulf gab Anweisung, Lysan in die Mitte zu nehmen. Er selbst ging voraus. Sein Schatten schien durch die flackernden Fackeln an den steinernen Wänden ein Eigenleben zu entwickeln. Lysan lief ein eiskalter Schauer über den Rücken, als sie das schaurige Abbild erblickte.

Am Ende des Ganges blieb Wulf stehen und sah vorsichtig um die Ecke.

Eine in den Jahrhunderten ausgetretene, steinerne Treppe führte empor. Am Ende befand sich eine weitere Eichentür. Mit einem kurzen Winken seiner Hand wies er seine Gefährten an, ihm zu folgen. Seine feinen Sinne suchten nach schwarzer Magie. Sie war reichlich vorhanden, aber die Träger befanden sich zum großen Teil im Hauptgebäude. Nur drei Graue hielten sich im Freien auf. Wulf gelang es, in den Geist eines der Magier einzudringen. Was er las, ließ ihn zur Eile drängen. Man erwartete in Kürze einen starken Grauen vom Festland. Lysan und ihre Gefährten waren noch nicht getötet worden, um ihm selbst die Gelegenheit dazuzugeben.

Die Eichentür ließ sich geräuschlos öffnen. Vorsichtig blickte Wulf am Holz vorbei. Es war noch hell, aber die Sonne stand schon tief am Himmel.

Draußen herrschte reges Treiben. Fuhrwerk um Fuhrwerk wurde von den Bauern der Umgebung in die Burganlage gefahren. Alle Wagen waren hochbeladen. Zu Ehren des hohen Grauen war ein großes Fest geplant. Und, wie Wulf in seinen Gedanken ergänzte, zur Feier ihres Todes. Er beobachtete einen Arbeiter, der unweit Weidenkörbe mit Kohl von einem Wagen hob, die Körbe in ein nahes, niedriges Haus trug und Augenblicke später mit den leeren Körben zurückkehrte. Der Wagen war fast entladen und die leeren Körbe standen zum Aufladen bereit. Auch drei weitere Ochsenkarren waren fast zur Abfahrt bereit. Wulf kam eine Idee. Das war ihre Chance, die Burg zu verlassen. Er schloss leise die Tür.

„Ich habe eine Möglichkeit entdeckt, die Burg zu verlassen. Es wird im Augenblick viel Ware aus den umliegenden Dörfern hierher gebracht. Das Meiste wird in großen Körben transportiert. Wir sollten versuchen, uns in den geleerten Körben zu verstecken. Es wird nicht einfach und wir brauchen eine gehörige Portion Glück. Ich sehe aber keine andere Chance. Wollen wir es versuchen?“ Er sah seine Gefährten fragend an. Sie sahen besorgt aus, nickten aber zustimmend. „Dann los. Schlendert so unauffällig wie möglich zu den Wagen. Geht immer paarweise. Wir treffen uns dann außerhalb der Burg.“

Wulf fasste Lysan bei der Hand und spazierte langsam auf den ersten Wagen zu, der soeben wieder mit leeren Körben beladen wurde. Wu und Hennig gingen, wie gelangweilt, einige Schritte hinter ihnen. Als der Bauer wieder in der nahen Hütte verschwand, um weitere leere Körbe zu holen, sprangen sie auf den Karren und versteckten sich.

Bereits wenige Minuten später setzte sich der Karren in Bewegung.

 

Es wurde dunkler. Doch Wulf vermutete, dass die Dendraks erst später aus ihren Behausungen freigelassen wurden, um den Bauern einen gefahrlosen Heimweg zu garantieren. Er konnte sich vorstellen, dass dem Bauern, der den Karren fuhr, trotzdem nicht wohl war, sich um diese späte Tageszeit außerhalb seines sicheren Hauses aufzuhalten.

Durch die geflochtenen Äste der Weide, unter denen er sein Versteck gefunden hatte, sah er am dunklen Himmel die ersten Sterne leuchten. Dann hielt der Karren an. Die eiligen Schritte des Bauern, der die Ochsen aus ihren Geschirren ausspannte, drangen gedämpft zu ihm. Das war die Gelegenheit, ihr Versteck zu verlassen.

Wulf wartete ab. Bis sich die Schritte entfernten, rief ein kurzes, leises „Los“ und schlüpfte aus seinem Versteck.

Kurz blickte er sich um. Der Bauer wandte ihnen immer noch seinen Rücken zu. Er bedeutete Wu und Ly, ihm zu folgen und rannte geduckt hinter den Brunnen, der in der Mitte eines, mit hohen Holzpalisaden befriedeten Geländes stand. Das Tor stand noch weit offen. Gebückt, und bemüht, sehr leise zu sein, rannten sie auf den nahen Buchenhain zu und duckten sich dahinter.

„Wir müssen abwarten, bis die anderen hier sind. Unser Karren ist als Erster losgefahren. Bleibt ruhig“, mahnte er die beiden. Angespannt warteten sie auf die Gefährten. Es war fast Mitternacht, als der letzte Karren auf den Hof fuhr. Minuten später waren sie wieder vereint.

„Schnell. Folgt mir. Es ist nicht mehr weit“, flüsterte Lysan, die sich bisher ruhig verhalten hatte. „Wir müssen nach Süden.“

Sie schritt sicher durch die Dunkelheit. Niemand stellte eine Frage. Allen war bewusst, dass hier hohe Magie gewirkt wurde. Allein Wulf lies seine Sinne durch die Umgebung gleiten, um mögliche Gefahren erkennen zu können. Aber in weitem Rund war keine Magie zu erspüren.

Stunde um Stunde liefen sie über Wiesen und Felder. Lediglich an einem kleinen Bach legten sie eine kurze Pause ein. Dann stoppte Lysan.

Alle Augen waren auf ihr fiebrig glänzendes Gesicht gerichtet.

„Hier“, flüsterte sie fast unhörbar. „Hier ist es. Und wir sind rechtzeitig gekommen. Bleibt in dichtem Kreis um mich. Ich werde einen Graben erstellen, über den keine Magie zu uns dringen kann. Keine Magie der Menschen dringt herein, keine heraus.“ Langsam hob sie ihre Arme.

Ein leises Summen ertönte, das stetig an Intensität zunahm. Die Luft um die Gefährten schien sich elektrisch aufzuladen. Plötzlich fuhr Lysan herum. Das Phänomen brach ab.

„Sie sind in der Nähe! Die Grauen! Sie wissen, dass ein magischer Kreis errichtet werden soll. Sie werden kurz vor Sonnenaufgang hier sein“, keuchte Lysan verzweifelt. „Sie müssen aufgehalten werden. Sobald die Sonne aufgegangen ist, muss der neue Steinkreis errichtet sein und ich auf dem Altarstein stehen. Was soll ich tun?“ Fragend blickte sie in die Runde. Wulf überlegte. Er hatte in der Zeit vor der Umwandlung einiges über Stonehenge gelesen.

„Du kannst dich selbst für andere Menschen unsichtbar machen. Gelingt dir das auch mit dem Ort hier?“, fragte er Lysan.

„Ich denke schon, dass das geht. Aber, der Anführer der Grauen ist ein sehr starker Magier. Seine Kräfte reichen an meine heran. Ich glaube nicht, dass er sich lange täuschen lässt.“

„Er muss nicht lange getäuscht werden. Du willst hier einen Steinkreis errichten. Gut. Wenn dieser Ort hier verborgen ist und in einiger Entfernung ein anderer Kreis errichtet ist, könnte es gelingen, ihn für eine gewisse Zeit abzulenken. Vielleicht so lange, bis die Sonne aufgeht. Was meinst du?“

Lysan dachte nach.

„Das könnte funktionieren. Allerdings werde ich den zweiten Kreis nicht aus den magischen Steinen bauen. Die werden für zukünftige Generationen gebraucht. Die Grauen wissen nur von einem Kreis. Nicht, dass er aus Stein gebaut ist. Ich werde Holzpflöcke nehmen. Wenn ich die Pflöcke mit Magie umgebe, können die Grauen nicht sehen, ob sich jemand innerhalb des Kreises befindet. Die Vernichtung des Kreises könnte sie lange genug aufhalten.“ Lysan schloss wieder die Augen und konzentrierte sich.

Pflock um Pflock bildete sich in einigen Hundert Metern Entfernung ein Kreis von etwa fünfundzwanzig Metern Durchmesser. Die Luft zwischen den Hölzern flirrte, so dass man nicht hineinsehen konnte.

Dann setzte Lysan ihre Bemühungen um den Graben und den Steinkreis fort. Der Graben wurde tiefer und füllte sich mit Wasser. Nun begann auch die Luft, über dem Wassergraben zu flirren. Ein unheimliches Zwielicht erhellte das Areal innerhalb des Grabens.

Bent zuckte deutlich zusammen, als die ersten Monolithen ihren Platz einnahmen. Es dauerte nicht lange und der Steinkreis war vollständig. Noch eine Stunde bis zum Sonnenaufgang.

Zuerst hörten sie Pferde in schnellem Galopp näher kommen. Dann aufgeregte Rufe. Vor dem Glühen zwischen den Holzpflöcken konnten sie dunkle Gestalten erkennen, die sich langsam auf ihre vermeintlichen Opfer zubewegten.

„Los! Sie muss vor Sonnenaufgang tot sein!“, hörten sie die tiefe Stimme des Anführers. Dann schossen Feuerkugeln aus allen Richtungen auf den Kreis aus Holz. Binnen kürzester Zeit stand er in Flammen. Das Glimmen von Lysans magischer Illusion fiel in sich zusammen. Einen Augenblick herrschte absolute Stille. Die Gefährten wagten kaum, zu atmen.

„Eine List! Der Kreis muss an anderer Stelle sein. Dort! Ich spüre starke Magie. Folgt mir!“

Die Grauen waren auf dem Weg zu ihnen.

Am Horizont waren die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne zu erkennen. Lysan stand mit ausgebreiteten Armen auf dem Altarstein. Als die Strahlen auf Lysan trafen, bildete sich eine strahlend helle Korona um sie, die sogar die Helligkeit der Sonne übertraf.

 

Die Korona mit Lysan in ihrem Mittelpunkt dehnte sich aus und wurde zu einem leuchtenden Lichtball, der sie vollkommen umhüllte. Dann verharrte das Leuchten, um sich Augenblicke später im Bruchteil einer Sekunde explosionsartig in alle Richtungen zu vergrößern. Die Gefährten mussten ihr Gesicht von Lysan abwenden, um nicht geblendet zu werden.

Das Leuchten dehnte sich rasend schnell über den gesamten Erdball aus, durchdrang alle Lebewesen, zog höher und höher, bis es die Wolke, die die Erde seit eintausend Jahren einschloss, erreichte.

Diese reine Energie schob die Wolke weiter und weiter ins All, bis sie sich endlich vom Planeten löste und ihren Weg durch das Universum fortsetzte. Sie zog weiter ihre Bahn, ungehindert von Naturgesetzen, wie sie es schon seit Urzeiten tat. Die Bahn würde sie in zweitausend Jahren wieder zu diesem Planeten führen. Wieder würde sie lange Zeit hier verharren, bis die neue Auserwählte sie erneut auf ihre Reise schicken würde.

Als das Leuchten keinen Widerstand mehr spürte, zog es sich auf seinen Ursprung zurück und erlosch.

Es dauerte einige Augenblicke, bis Wulf wieder etwas sehen konnte.

„Nein!“, entfuhr es ihm. So schnell er konnte, rannte er zum Altarstein, auf dem Lysan bis vor wenigen Augenblicken gestanden hatte und sank vor ihren verkohlten Überresten zu Boden.

Tränen rannen über sein Gesicht. „Lysan“, flüsterte er.

Unbeschreiblicher Lärm riss ihn aus seinen Gedanken. Direkt neben ihm schlug ein großer Stein in den Boden ein und riss die Grasnarbe auf. Wulf drehte sich um.

Der Anblick, der sich ihm bot, lies ihn das Blut in den Adern gefrieren.

Die Grauen – ihrer Magie beraubt – stürzten sich mit allen Gegenständen, deren sie habhaft wurden, auf die ehemaligen Weißen. Es war ein furchtbares Gemetzel.

Wulf sah seinen Freund Bent mit gespaltenem Schädel zu Boden sinken. Immer mehr Tote, Angehörige beider Seiten, bedeckten den Boden.

Es schien, als ob die Gegner die Oberhand gewinnen würden, als unerwartete Hilfe eintraf. Mit Mistgabeln, Knüppeln und Steinen bewaffnet, stürzten sich die Bauern der Umgebung auf ihre ehemaligen Herren.

Die Sonne stand eine Stunde am Himmel, als der Kampf vorbei war.

Von Wulfs Gefährten war niemand mehr am Leben. Auch die ehemaligen Grauen hatten nicht überlebt. Alle Gefühle waren in Wulf erloschen. Es war vorbei. Die Magie existierte nicht mehr. Seine Freunde waren nicht mehr.

Wulf ging mit hängenden Schultern zu Lysans Leiche.

Er dachte an die Weissagung, dass sich mit dem Ende der Magie sein Schicksal erfüllen und er endlich Ruhe finden würde. Dass er endlich zu seiner geliebten Doreen heimkehren könne.

„Bist du verletzt?“ Einer der Bauern war neben ihn getreten und riss ihn aus seinen Erinnerungen. Wulf schüttelte den Kopf.

„Wir werden die Toten hier am äußeren Wall begraben.“

Müde blickte Wulf zu dem Sprecher neben ihn. „Woher habt ihr gewusst, dass ihr euch gegen die Grauen wehren könnt?“ Wulf sah ihn neugierig an.

„Mein Vetter arbeitet in der Burg. Er kam direkt nach Sonnenaufgang ins Dorf und hat berichtet, dass die Dendraks alle tot in ihren Verschlägen liegen. Die Grauen haben versucht, mit Hilfe von Magie, die Tore zu ihnen zu öffnen. Niemand von ihnen hat mehr über Magie geboten. Alle Arbeiter haben es gesehen. Und sie haben sich für die jahrhundertelangen Grausamkeiten gerächt.

Er erzählte, dass die Grauen euch hierher verfolgt haben. Wir sind sofort aufgebrochen, um euch zu unterstützen.“ Traurig blickte er in die Runde. „Wir sind aber nicht rechtzeitig gekommen. Es tut mir Leid“, murmelte er.

„Diese da“, er zeigte auf Lysans Leiche „Ist das die, von der die Grauen sagten, dass sie die Magie vertreiben kann? Vor der sie solche Furcht hatten?“

Wulf nickte.

Mittlerweile waren auch die übrigen Bauern zu ihnen getreten.

„Wir werden ihr ein würdiges Begräbnis bereiten. Zoe. Lauf in die Burg. Nimm Clear mit. Holt den Schmuck der Burgherrin. Und die besten Decken und Teppiche, die ihr finden könnt. Nehmt die Pferde der Grauen. Dann seid ihr schneller wieder hier.“

Die beiden Frauen machten sich sofort auf den Weg.

In der Zwischenzeit zeigte Wulf den Bauern die Leichen seiner Gefährten. Sie sollten ebenfalls ein ehrenvolles Begräbnis erhalten. Frauen aus dem Dorf brachten Holztröge mit Wasser, dem Kamillenessenz beigefügt war und sie begannen, die Leichen zu waschen.

Die beiden Frauen waren zur Mittagszeit zurückgekehrt. Mit ihnen erschienen mehrere Hundert Menschen, die ihren Befreiern die letzte Ehre erweisen wollten. Zwei Pferdegespanne voll mit wertvollen Tüchern, Teppichen und Schmuck wurden neben die aufgebahrten Leichen gefahren.

Lysans verkohlte Leiche wurde mit goldenen Ketten und Ringen geschmückt und dann mit feinen, roten Tüchern bedeckt. Auch die übrigen ehemaligen Weißen erhielten Schmuck und bunte Laken. Dann wurden die Gruben, die in einem Kreis um Stonehenge ausgehoben worden waren, mit Teppichen ausgekleidet. Hier fanden sie ihre letzte Ruhestätte. Die Leichen der Unterdrücker begrub man ohne Beigaben. Aber auch ihre toten Körper wurden mit Respekt behandelt.

Eine neue Zeit war angebrochen. Man wollte das Alte vergessen.

Als die Sonne sich dem Horizont näherte, war die Arbeit an dieser Stätte der Hoffnung und des Grauens beendet.

Die Bauern kehrten auf ihre Höfe zurück. Sie hatten es nicht eilig. Keine blutrünstigen Bestien würden ihnen mehr auflauern.

Man hatte Wulf angeboten, sie zu begleiten. Er nahm dankbar an.

Er war müde. So unsagbar müde.

Als man ihm eine Kammer zeigte, in der er die Nacht verbringen konnte, legte er sich sofort schlafen.