Die Kate

Die Gegend, in der sie sich nun befanden, war Wulf bekannt. Es wusste, dass nur wenige Kilometer entfernt eine abgesicherte Kate stand. Von außen unscheinbar und anscheinend verfallen, bot sie wenig Anreize für Dendraks, dort nach Menschen zu suchen. Die Kellerräume der Kate, waren mit Lebensmitteln ausgestattet und mit leichten magischen Mitteln versiegelt worden.

Schon nach Erreichen der Kate, konnte Wulf mit einem der Weißen auf telepathischem Weg Kontakt aufnehmen. Ab hier waren sie nicht mehr allein. Man würde Magier schicken, die ihnen auf dem restlichen Weg in die sichere Zuflucht beistehen würden.

Hallo Eleia. Ich habe die Mutter hier bei mir. Bisher ist alles planmäßig verlaufen. Es befinden sich außerdem noch der Ehemann der Mutter und eine weitere Frau mit ihrem neugeborenen weißmagischen Kind bei uns. Schick uns bitte Unterstützung, damit wir sicher zu euch gelangen können.

Das sind wunderbare Neuigkeiten, Wulf. Es werden sich bei Morgengrauen vier unserer Leute zu euch auf den Weg machen. Sie werden spätestens übermorgen früh bei euch sein. Bleibt in der Kate und verhaltet euch ruhig. Die Grauen sind unruhig. Sie suchen auch nach der Mutter.

Wir werden die Kate nicht verlassen und warten hier auf die Unterstützung. Und damit schloss Wulf vorerst den telepathischen Kontakt ab, zu seinen Reisegefährten sprach er: „Wir werden spätestens übermorgen früh von hier abgeholt. Ruht euch aus, die Reise war anstrengend und es liegt noch ein beschwerlicher Weg vor uns, den wir zu einem großen Teil zu Fuß zurücklegen müssen.“

Sie richteten sich in der Kate ein und Maria kochte zum ersten Mal seit ihrer Abreise eine vollständige Mahlzeit aus den hier gelagerten Lebensmitteln.

Nach dem Mahl sah Paul Wulf nachdenklich an.

„Du hast in der Gaststube damals gesagt, dass du schon vor der Umwandlung gelebt hast. Wie war es damals. Es muss ein Paradies gewesen sein, so ganz ohne Graue und Dendraks.“

„Ein Paradies? Nein, das war es nicht. Natürlich war das Leben einfacher. Aber jede Zeit hat ihre Gefahren und Sorgen. Es gab Verbrechen, Krieg, Sorgen und Not. Der Mensch ist offensichtlich nicht in der Lage, friedlich mit seinesgleichen zusammenzuleben.“

„Was hast du früher gemacht? Hattest du einen Acker? Warst du Händler? Womit hast du dein Brot verdient?“

„Ich war Journalist. Ich habe über Ereignisse berichtet und sie aufgeschrieben, damit Leute, die nicht dabei waren, davon erfahren konnten. Damals war es üblich, dass die Menschen lesen konnten. Es gab Schulen, in denen die Kinder in Lesen, Schreiben, Rechnen und anderen Dingen unterrichtet wurden. Es gab Geschäfte, in denen man Waren kaufen konnte. Nicht tauschen, so wie jetzt. Es gab Fahrzeuge, die sich ohne Ochsen oder Pferde fortbewegten. Es gab Möglichkeiten, sich mit Leuten zu unterhalten, die viele, viele Kilometer entfernt waren. Man konnte sie sogar sehen, wenn man bestimmte Geräte benutzte.“

Die Augen der Gefährten klebten förmlich an seinen Lippen.

„Magie beherrschte niemand. Es gab weder Graue noch Weiße. Auch die Dendraks erschienen zum ersten Mal bei der Umwandlung. Auf der Welt war von einem Augenblick zum anderen keinerlei Technologie zu gebrauchen, stattdessen entdeckten einige Menschen die Magie. Ich kann mich nur daran erinnern, dass die Grauen sehr schnell alle anderen unterjocht haben ... Doch nun sollten wir uns besser schlafen legen.“

Maria bereitete die Nachtlager und die kleine Gruppe legte sich schlafen.

Wulf überprüfte mit seinen feinen Sinnen noch einmal die Umgebung.

Er sah mit seinem inneren Auge eine Gruppe Hirsche, die am nahen Bach tranken, einen Habicht, der sich gerade auf eine Maus am Boden stürzte, einen einsamen, alten Wolf, der sich über einen erbeuteten Fuchs hermachte und … die Anwesenheit eines Menschen.

Wulf konzentrierte sich auf ihn. Es war eindeutig keine Magie zu spüren. Aber es war möglich, dass es sich um einen Kollaborateur handelte. Sie waren bereits im Einzugsgebiet der Weißmagier. Hierher wurden oft Menschen geschickt, um nach dem Eingang zur Zuflucht zu suchen. Menschen waren nicht so leicht aufzuspüren, wie Graue oder Dendraks. Wulf beschloss, Eleia zu informieren.

Eleia, ich habe gerade die Anwesenheit eines Menschen erspürt. Er befindet sich genau auf dem Weg, den die vier Weißen nehmen werden, und ist nur wenige Kilometer von uns entfernt.

Ich werde Haal bitten, seine Gedanken zu erforschen. Du bekommst Nachricht, sobald wir Genaueres wissen.

Wulf überprüfte weiter seine Umgebung. Kein magiebegabtes Wesen in einem Umkreis von fünfzig Kilometern war zu entdecken. Bei Einbruch der Morgendämmerung erspürte er ganz am Rande seiner Wahrnehmung vier helle Lichtpunkte, die sich langsam näherten.

Ihre Unterstützung.

Er erkannte die Präsenz von Nagu, Lech, Lina und Eda. Eleia hatte die stärksten Kämpfer ausgesandt, um ihnen beizustehen. Wulf würde die Vier ständig mit einem Teil seines Bewusstseins beobachten, bis sie die Kate erreicht haben.

Eleia meldete sich in seinem Geist.

Wulf. Der Mensch ist vor den Grauen geflohen. Er hatte versucht, in die Burg nahe unseres Gebietes einzudringen und dort seinen Sohn zu befreien, der gefangen genommen wurde, weil er in den Wäldern der Grauen gejagt hatte. Der Versuch ist gescheitert. Der Sohn ist tot und er selbst ist nur knapp entkommen. Wir sieben Seher haben uns zusammengeschlossen und das gesamte Gebiet rund um die Burg überprüft. Sie haben die Dendraks ausgeschickt, um ihn zu suchen. Die Bestien werden euch heute Abend erreichen. Bleibt in der Kate und verhaltet euch still. Ich habe Haal informiert. Er wird versuchen den Menschen zu finden und ihn unter den Schutz der Gruppe zu nehmen. Der Mensch ist zwar kein Weißer, aber er besitzt bestimmt andere Fähigkeiten, die uns hier von nutzen sein können.

Wulf beschloss, den Menschen auch mit einem Teil seines Bewusstseins zu beobachten.

Die Reisenden waren froh, einen vollen Tag ausruhen zu können. Besonders die beiden Frauen waren sehr erschöpft. Paul holte aus dem nahen Bach frisches Wasser und sammelte Futter für die Ochsen. Wulf überprüfte derweil die Umgebung. Bislang drohte ihnen keine Gefahr. Der Mann, dessen Unterbewusstsein Wulf die ganze Zeit über beobachtet hatte, war in ihre Richtung unterwegs. Vielleicht war er rechtzeitig vor Einbruch der Dunkelheit so weit in der Nähe, dass er ihn in die Kate holen konnte. Gerne würde er heute nach ihm suchen, aber Marias Leben war zu wichtig, als dass er es irgendeiner Gefahr aussetzen konnte.

 

Maria hatte für Ellens Baby ein Tragetuch aus einem ihrer Umhänge gefertigt.

„Damit wird es einfacher sein, den kleinen Wulf zu tragen." Maria reichte Ellen das Tuch.

„Kleiner Wulf?" Wulf sah Ellen erstaunt an. Sie lächelte.

„Ich habe ihn nach dir benannt. Ohne dich wären wir beide nicht mehr am Leben."

Ellen nahm dankbar das Tragetuch und band es sich um.

Sie verbrachten den Tag damit, ihr Gepäck zu sichten und die Dinge herauszusuchen, die sie dringend benötigten, um sich nicht unnötig bei dem bevorstehenden Fußmarsch zu belasten. Der Karren würde die letzte Strecke des doch sehr steilen Aufstiegs nicht schaffen. Die Ochsen wollten sie allerdings nach Möglichkeit mitnehmen. Sie den wilden Tieren oder Monstern zum Fraß vorzuwerfen, wenn man sie in der Zuflucht vielleicht noch gebrauchen könnte, sahen alle als große Verschwendung an.

Es war später Nachmittag, als der Mensch, den Wulf in seinen Gedanken beobachtete, den Bach in der Nähe der Kate erreicht hatte. Die Dendraks waren noch mehrere Kilometer entfernt.

Wulf beschloss, die Kate zu verlassen und nach ihm zu suchen.

„Bleib bitte mit der Machete in der Nähe der Tür stehen. Wenn du Dendraks siehst, verriegele sie sofort. Ich werde mich bemerkbar machen, wenn ich wieder zurück bin." Wulf reichte Paul die Waffe und verließ die Kate.

Die Sonne hatte die ersten Baumwipfel im Westen gerade erreicht, als er auf den Gesuchten traf. Zunächst hielt Wulf sich hinter den Bäumen versteckt, um den Mann zu beobachten. Er war gekleidet wie ein normaler Bauer, etwa vierzig Jahre alt und hatte leicht schütteres, blondes Haar. Anscheinend hatte er sich verletzt, denn er humpelte stark.

„Bitte, nicht erschrecken", begann Wulf nach einer kleinen Weile. „Ich habe nicht vor, dir etwas zu tun."

Der Mann fuhr herum und umfasste den langen, fast armdicken Stock, den er bisher zum Abstützen benutzt hatte, wie eine Waffe. Wulf trat mit weit zur Seite ausgestreckten Armen aus seinem Versteck heraus.

„Wer bist du? Was willst du?" Der Mann versuchte, einige Schritte zurückzuweichen.

„Mein Name ist Wulf. Ich bin hier, um dich vor den Dendraks zu warnen. Sie sind nur noch wenige Kilometer entfernt. Hier in der Nähe ist eine Kate. Ich schlage dir vor, dich dort zusammen mit uns zu verstecken."

„Mit uns? Wie viele seid ihr?", fragte der Mann vorsichtig.

„Wir sind fünf Personen. Ein weiterer Mann, zwei Frauen und ein Neugeborenes", antwortete Wulf.

„Ich verstehe nicht. Ihr reist mit einem neugeborenen Kind? Haben es die Grauen gestattet?"

„Wir sind auf der Flucht vor den Grauen. Du kannst dich uns anschließen. In nicht allzu weiter Entfernung ist eine Kate, die man gegen die Dendraks absichern kann. Dort bist du erst einmal in Sicherheit. Warte. Ich helfe dir. Du kannst dich auf mich stützen, dann kommen wir schneller voran."

Der Mann hatte selbst eingesehen, dass er mit seinem verletzten Bein alleine nicht mehr weit kommen würde. Außerdem brach bald die Nacht herein und die ihn verfolgenden Dendraks würden ihn bald einholen. Er stützte sich auf Wulf und zusammen gingen sie zur Kate zurück.

„Ich danke dir für deine Hilfe. Ich bin Bent."

Paul wartete an der Tür zur Kate und war sichtlich erleichtert, als er Wulf erkannte. Schnell lief er zu den beiden und half, Bent in die Kate zu bringen.

Wulf verriegelte die Tür, überprüfte noch einmal alle Wände und die Läden an den Fenstern und verwischte mit Hilfe seiner Magie alle Spuren, die auf ihre Anwesenheit deuten könnten.

„Das ist Bent. Er wird uns begleiten. Bent, das sind Maria, Ellen, Paul und Wulf."

Die angesprochenen nickten Bent, ohne weiter nachzufragen, zur Begrüßung zu, der kleine Wulf schlief friedlich in den Armen seiner Mutter. Wulf half Bent, in einer Ecke des Raumes sein Nachtlager aufzuschlagen.

„Morgen früh treffen Freunde hier ein. Sie werden uns helfen. Schlaft jetzt. Wir haben einen anstrengenden Tag vor uns. Einen großen Teil der Strecke werden wir zu Fuß zurücklegen müssen." Wulf sah seine Begleiter eindringlich an.

„Freunde? Wo werden wir hingehen? Die Grauen und ihre Monster sind überall. Wir werden nirgendwo sicher sein", wandte Bent ein.

„Du brauchst dich nicht zu sorgen. Es gibt eine sichere Zufluchtsstätte in den Bergen. Dort werden wir hingehen und meine Freunde werden uns dorthin begleiten. Es ist auch eine Heilerin unter ihnen. Sie wird sich um dein verletztes Bein kümmern. Schlaf jetzt", antwortete Wulf.

Bent sah ihn skeptisch an, legte sich aber auf sein Lager und schlief vor Erschöpfung augenblicklich ein.

Langsam wurde es ruhig in der Kate. Der kleine Wulf lag wohl behütet in den Armen seiner Mutter und schlief, Maria und Paul lagen aneinander gekuschelt in einer Ecke des Raumes und auch Wulf wollte, nach einem kurzen Gedankengespräch mit Eleia, schlafen.