Das Spiel

Es war früher Nachmittag, als Arton sie wecken lies. Lysan rekelte sich in ihrem weichen Bett und fühlte sich vollkommen ausgeruht. Eine kleine, zierliche Frau klopfte leise an die Tür und als Lysan ein zurückhaltendes „Herein" hören lies, betrat sie lächelnd das Zimmer.

„Hallo, hast du ausgeschlafen?", hörte Lysan in einem akzentfreien Deutsch. „Ich bin Steff. Ich muss mich mit dir unterhalten, solange wir noch alleine sind."

„Du sprichst unsere Sprache?" Erstaunt blickte Lysan die fremde Frau an.

„Es ist das erste Mal, dass ich sie benutze. Ich komme aus Avie und bin seit vorgestern hier, um mit dir zu reden. Als der Schnee in diesem Jahr geschmolzen war, habe ich meine Schafe aus den Ställen auf die Weide geführt. Vorgestern dann bemerkte ich ein seltsames Licht in der Nähe der nördlichen Felswand unserer Zufluchtstätte. Ich hatte keine Wahl. Das Licht zog mich zu sich hin. Ich wehrte mich, weil ich dachte, dass das Licht ein Produkt der Grauen wäre. Ich versuchte, um Hilfe zu rufen, aber ich konnte keinen einzigen Ton herausbringen. Einen Schritt um den anderen näherte ich mich dem unheimlichen Licht, bis es mich umschloss. Es war ein eigenartiges Gefühl. Alle Angst, alle Sorgen waren plötzlich verschwunden. Ich fühlte mich frei und glücklich. Dann kamen die Stimmen. Zuerst war es nur ein leises Flüstern. Ich habe nichts verstanden. Dann wurden die Stimmen lauter. Sie riefen mir zu, die Auserwählte aufzusuchen. Man würde mich nach Wight bringen. Hier soll ich dich zur Lichtquelle, durch die ich hierher gelangt bin, bringen. Du wirst dort erfahren, was du zu tun hast. Und ich soll dich warnen. Die Grauen wissen, dass du hier bist. Sie können die Insel zwar nicht betreten, haben aber an der Südküste Englands Posten bereitstehen, die dich abfangen sollen. Und sie haben einen Menschen angeheuert, der dich umbringen soll. Sei also auf der Hut. Geh keinen Schritt ohne Begleitung."

„Sie haben einen Menschen dazu gebracht, mich hier umzubringen? Und ich dachte, ich bin hier in Sicherheit?" Lysan sackte in sich zusammen.

Steff setzte sich neben sie aufs Bett. „Keine Sorge. Dir wird nichts geschehen. Ich habe den Rat über den Attentäter informiert. Komm. Die anderen warten im Garten auf uns. Wir werden ihnen jetzt alles mitteilen."

Lysan zog sich an und gemeinsam verließen sie das Zimmer.

Wie Steff angekündigt hatte, fand sie ihre Gefährten im Garten des Hotels an einem langen Tisch sitzend vor. Die Bewohner der Insel hatten ihnen einen Imbiss bereitet und alle langten kräftig zu.

„Auch schon aufgewacht, Langschläferin?", neckte Wu und reichte Lysan ein Glas Milch. „Du musst unbedingt von der Pastete probieren. Die schmeckt echt lecker." Herzhaft biss er in eine Scheibe Brot, die er dick mit Pastete belegt hatte.

Lysan setzte sich neben Wu und stellte das Glas vorsichtig auf die buntkarierte Tischdecke. Auch Steff setzte sich an die Tafel und begann Fleisch und Brot auf ihren Teller zu legen.

Außer den Gefährten und Steff waren auch einige Mitglieder des Rates der Insel anwesend. Arton freute sich, dass es den Gästen schmeckte. Immer wieder fragte er, ob noch etwas gebracht werden sollte, und servierte seinen Gästen Köstlichkeiten der Insel und des Meeres.

Wulf sah eine Gruppe Magier am Rande des Gartens stehen. Sie beobachteten aufmerksam die Gegend. Fragend blickte er zu Arton.

„Steff berichtete, dass ein Attentäter auf der Insel sein soll. Wir wollen kein Risiko eingehen. Lysan wird rund um die Uhr bewacht."

„Ein Attentäter?" Wulf sah alarmiert zu Steff.

„Ich habe es Lysan schon mitgeteilt. Als ich durch das Licht hierher gekommen bin, habe ich erfahren, dass ein Mensch von den Grauen beauftragt wurde, Lysan umzubringen. Ich habe keine Ahnung, wer es ist und ob der Attentäter schon auf der Insel ist. Ich soll euch warnen. Außerdem soll ich Lysan heute nach Sonnenuntergang zum Licht in der Mitte der Insel bringen. Dort bekommt sie weitere Informationen. Mehr kann ich euch leider nicht mitteilen."

„Keine Sorge. Der Auserwählten wird nichts geschehen", beruhigte Arton die Gruppe. „Wir werden sie heute Nacht zum Licht begleiten. Mit den Pferden werden wir nicht länger als zwei Stunden brauchen."

Wulf hatte Arton zugehört. Trotzdem war es ihm nicht entgangen, wie Wu Lysan ansah. Das war mehr als nur freundschaftliche Hilfe, mit der er ihr das Brot reichte. Dieses Glänzen in seinen Augen, wenn Lysan sich bedankte … Wulf lächelte. Sollte sich da eine kleine Liebesgeschichte anbahnen? Zu wünschen wäre es den beiden. Sie hatten in ihrem Leben schon viel Schreckliches erlebt, da wäre es schön, wenn sich nun ein wenig Glück auf ihre Seite stellen würde.

Das Essen war beendet und Arton bot an, den Gästen das Dorf und die umliegenden Ländereien zu zeigen. Gemeinsam spazierten sie durch die gepflegten kleinen Gässchen und staunten über die Ruhe und den Frieden, der auf der Insel herrschte. Alle Häuser besaßen Fenster aus Glas, Kinder spielten unbeschwert auf der Straße und, was Wulf am meisten erstaunte, waren die Geschäfte. Seit der Umwandlung hatte er keine Geschäfte mehr gesehen. Auf ihrem Spaziergang sah Wulf eine Bäckerei, einen Fleischer, eine Töpferei und zu seinem Erstaunen sogar einen Blumenladen.

Aber dann verschlug es ihm fast die Sprache. Neben der Tür eines weißgetünchten, kleinen Hauses war ein glänzendes, goldenes Schild angebracht. In großen Lettern stand dort der Hinweis „Attorney".

Die Rasse der Anwälte stirbt wohl niemals aus, dachte er bei sich und musste ein Lächeln unterdrücken.

„Diese Geschäfte …", begann Wulf. „Ihr könnt doch diese Geschäfte nicht mit Tauschhandel betreiben. Habt ihr eine Währung?"

„In der Tat wäre der Tauschhandel zu mühsam. Wir bezahlen mit dem Ro. Schau einmal her." Arton zog einen kleinen Lederbeutel unter seinem Umhang hervor und entnahm ihm einige Münzen. „Das ist ein Ro." Er zeigte Wulf eine kleine, uralte Metallscheibe. Verblüfft stellte Wulf fest, dass er sie kannte. Sie war zwar sehr abgegriffen, man konnte aber immer noch die Gravur erkennen. „Das hier sind Pen", erklärte Arton. „Es gibt Einpenmünzen, Zweipen-, Fünfpen-, Zehnpen-, Zwanzigpen- und Fünfzigpenmünzen. Einhundertpen sind ein Ster. Das entspricht dem durchschnittlichen Wochenlohn der Bewohner der Insel."

Wulf hatte sich also nicht geirrt. Man benutzte hier immer noch die alten Münzen, die schon vor der Verwandlung als Zahlungsmittel im Gebrauch waren.

„Wie viele Weiße gibt es hier auf der Insel?", fragte Wulf, um das Gespräch mit Arton fortzuführen.

„Wir sind hier dreihundert Weiße. Außerdem leben noch etwa fünftausend Menschen mit uns. Der Großteil der Bewohner arbeitet in der Landwirtschaft und im Fischfang. Wir sind vollkommen autark. Das ist besonders wichtig, weil die Grauen die gesamte Südküste beherrschen."

„Ist es schon oft vorgekommen, dass die Grauen Spitzel oder Attentäter auf die Insel geschickt haben?"

„In früheren Zeiten haben sie es regelmäßig versucht, wir konnten sie aber meist schnell enttarnen, bevor sie größeren Schaden angerichtet haben. Seit mehreren Jahrhunderten haben wir hier aber Ruhe vor ihnen gehabt. Es dürfte sich mittlerweile auch schwierig gestalten, unerkannt zu bleiben. Wir sind nicht viele und praktisch jeder kennt jeden hier. Jeder Neuankömmling hat sich dem Rat vorzustellen und sein Begehren vorzutragen. Steff wurde auch sofort zu uns gebracht, nachdem sie durch das Licht auf die Insel gekommen ist."

Sie hatten den Rand der Siedlung erreicht. Im Gegensatz zu ihrer Heimat sah man hier keine Burg der Grauen. Stattdessen standen sie vor einer großen Rasenfläche, die sehr kurz gehalten war. Mitten auf der Rasenfläche schob ein Mann mühsam einen eigenartigen Gegenstand vor sich her.

„Ein Rasenmäher? Seh´ ich das richtig? Der Mann dort mäht den Rasen?", fragte Wulf erstaunt.

„Die Fläche ist sein ganzer Stolz", erklärte Arton lächelnd. „Jeden Tag kümmert er sich um den Rasen. Es ist der beste Platz auf der Insel. Alle Mannschaften sind begeistert davon. Hier spielen sie am Liebsten."

„Spielen?" Wulf sah genauer hin. Jetzt erkannte er jeweils ein Holzgerüst, über die große Netze gespannt waren, an beiden Enden der Fläche.

„Das ist ein Fußballplatz!", stieß er entgeistert hervor. „Ihr spielt hier Fußball."

„Du kennst das Spiel?", fragte Arton erstaunt.

„Ich habe in meiner Jugend gespielt. Nicht besonders gut. Nur dritte Kreisklasse. Aber es hat immer Spaß gemacht", antwortete Wulf.

„Dritte Kreisklasse?", fragte Arton. „Wir haben hier andere Klassen. Unsere Mannschaften spielen in der Premier League. Sie besteht aus den fünf Mannschaften der Insel. Natürlich ist unsere Mannschaft hier die Beste. Unser Roon hat in dieser Saison schon neun Tore geschossen."

Wulf hätte gerne ein Spiel gesehen. Aber sie würden wahrscheinlich nicht lange genug auf der Insel bleiben.

Er drehte sich um, als hinter ihm Schritte von hunderten Menschen zu hören waren. Fragend blickte er dann zu Arton.

„Ah, es geht gleich los. Ihr habt Glück, dass ihr gerade heute eingetroffen seid. Gleich beginnt das Meisterschaftsspiel der Newport Hotspurs gegen die Ryde Wanderers. Newport kann mit einem Sieg die Tabellenspitze erobern. Aber es wird nicht einfach. Die Abwehr der Wanderers steht felsenfest. Da kommen schon die Spieler." Arton zeigte zu einer Gruppe, die im Gänsemarsch auf das Spielfeld zugelaufen kam. Fast ehrfurchtsvoll hielten die Umstehenden Abstand.

„Onkel Wulf, was ist denn hier los? Du grinst ja über das ganze Gesicht." Neugierig sah Lysan zu Wulf und dann wieder zu der sich nähernden Menschenmenge. Auch Wu, der einen Arm um Lysan gelegt hatte, sah Wulf fragend an.

„Wir werden gleich ein Fußballspiel sehen", erklärte Wulf. „Die kleine Gruppe da vorne sind die Spieler. Ihr seht, dass sie unterschiedliche Kleidung tragen. Die mit den rotgestreiften Oberteilen gehören zusammen und die mit den grüngestreiften Oberteilen bilden die andere Mannschaft. Die Rotgestreiften sind Spieler von Newport, die Grüngestreiften sind Spieler von Ryde."

„Da sind aber noch zwei. Der eine ist ganz gelb und der andere blau angezogen."

„Das sind die Torhüter", erklärte Wulf dem interessierten Wu. „Seht einmal. Die Leute, die ganz in Schwarz gekleidet sind, sind die Schiedsrichter. Sie sorgen dafür, dass die Regeln des Spiels eingehalten werden. Ziel des Spiels ist es, den Ball, den der große dunkelhaarige Schiedsrichter trägt, in das Tor der gegnerischen Mannschaft zu schießen."

Langsam wurde es um sie herum lauter.

„We are the champs …", hörten sie von allen Seiten und „You never walk alone…" Einige Leute drehten Rasseln und verursachten so einen Höllenlärm.

„Was tragen die denn alle für merkwürdige Dinge mit sich herum?", fragte Wu.

Wulf sah sich die Menschenmasse, die sich langsam auf den Fußballplatz hinbewegte genauer an.

„Ach, die Schals und Mützen meinst du. Du siehst, dass einige der Schals und Mützen die gleichen Farben haben wie die der Newport-Mannschaft und andere die der Ryde-Mannschaft. Die Leute zeigen damit ihre Zugehörigkeit zu ihnen. Es sind Fans der jeweiligen Mannschaft."

„Kommt mit. Ich werde euch die Funktionäre unserer Fußballliga vorstellen. Da vorne steht Leaves, der Vorsitzende." Arton zeigte auf einen äußerst würdevoll, aussehenden älteren Herren in einer lindgrünen Robe mit goldener Schärpe.

Gemeinsam bahnten sie sich einen Weg durch die Menge. Wulf bemerkte, dass sich eine Gruppe Weißmagier dicht um Lysan und Wu drängten und sie abschirmten. Man nahm die Attentatsandrohung also sehr ernst.

„Leaves. Das sind unsere Gäste vom Festland. Und das hier", er zeigte auf Lysan „ist die Auserwählte."

Leaves reichte Lysan die Hand. Wulf übersetzte alles, was ihre Gastgeber erzählten.

„Ich freue mich aufrichtig, dich kennen zu lernen. Und eine ganz besondere Freude ist es mir, dass ihr ausgerechnet heute hier eingetroffen seid. Das ist das wichtigste Spiel der Saison. Heute entscheidet sich, wer den Pokal gewinnt. Ihr werdet ein spannendes Fußballspiel erleben. Schaut, die Mannschaften betreten gerade das Spielfeld."

Die Gesänge und der Lärm, den die Zuschauer veranstalteten, schwollen noch weiter an. Mittlerweile drängten sich hunderte Menschen um das Spielfeld.

„Das Nutzen von Magie ist den Spielern verboten. Nur die Schieds-, Linien- und Torrichter dürfen ihre magischen Fähigkeiten nutzen", erklärte Arton. „Auch der Stadionsprecher Frost nutzt seine Magie. Schau! Er ist in der Lage zu schweben. So kann er das Spielfeld perfekt überblicken. Außerdem kann jeder Zuschauer die Kommentare hören. Das ist besonders wichtig, wenn es zu strittigen Entscheidungen kommt."

Ein Pfiff ertönte.

Es war ein schnelles Spiel und die Mannschaften schenkten sich nichts. Schon nach wenigen Minuten gelang es Newport, den Ball in den gegnerischen Strafraum zu bringen, wurde aber dort von der ausgezeichneten Abwehr Rydes gestoppt. Der folgende Konter ging ebenso ins Leere.

Wulf war fasziniert von der Schnelligkeit, der Genauigkeit und dem Spielwitz. Er war so auf das Spiel konzentriert, dass ihm beinahe der kleine, unscheinbare Mann entgangen wäre, der sich Zentimeter für Zentimeter immer näher an Lysans Leibwache heranschob. Erst als ein Newportspieler im Strafraum einen Ryders ziemlich unsanft von den Füßen holte, der Schiedsrichter auf den Elfmeterpunkt zeigte und die Menge anfing zu toben, fiel ihm der wie ein einfacher Bauer gekleidete Mann auf. Er war der Einzige, der von der Entscheidung unbeeindruckt schien. Stattdessen blickte er mit verzweifelter Miene zu Lysan. Seine Hände hatte er in den Taschen seiner weiten Hose verborgen.