Maria

Heute Morgen war Wulf in dieses Dorf gekommen und hatte beim Wirt der Dorfschänke um eine Unterkunft und Verpflegung gebeten. Er war freundlich aufgenommen worden, als er erwähnte, dass er lesen könne und auch ein Buch bei sich trage, aus dem er den Gästen zur Unterhaltung vorlesen wolle. Bei seinem ersten Spaziergang durch das Dorf überprüfte er mit seinen feinen Sinnen die einheimischen Frauen. Fast hatte er die Hoffnung aufgegeben, hier die Auserwählte zu finden und damit gerechnet, schnell weiterziehen zu müssen, als er am frühen Nachmittag der Frau des Wirtes begegnete. Sofort spürte er die ungewöhnliche, magische Strahlung, die sie umgab. Und diese Frau war augenscheinlich guter Hoffnung. Im Laufe des Abends, als er den Gästen aus dem alten Buch vorlas, hatte er die Frau immer wieder beobachtet. Es war eindeutig nicht sie, die diese Aura verströmte. Es war das Kind. Er war sich sicher, fündig geworden zu sein. Wulf beschloss, in den nächsten Tagen mit der Wirtin ins Gespräch zu kommen.

Vor der Gaststube war das Stapfen großer, schwerer Füße zu hören. Scharfe Klauen kratzten über die fest geschlossenen Läden. Die Dendraks waren unterwegs. Fest in seinen schweren Umhang gehüllt, sank Wulf in einen tiefen, traumlosen Schlaf.

 

Wulf erwachte vom leisen Klappern, das aus einem der hinteren Räume zu ihm drang. Er überprüfte mit einem Blick schnell seine Habseligkeiten. Alles lag da, wo er es am Abend zuvor deponiert hatte.

Er erhob sich, legte seinen Leinensack, in den er vorsichtig sein Buch schob, auf eine der Bänke und ging mit dem Strohballen in Richtung Küche. An der Tür blieb er stehen und beobachtete die Wirtin, die gerade dabei war, das Frühstück zu bereiten. Der Haferbrei kochte munter auf dem Herd, auf dem großen Eichentisch standen bereits ein Brotkorb und eine große Kanne mit Milch. Wulf prüfte noch einmal die magische Aura. Er hatte sich gestern nicht geirrt, die Aura war immer noch vorhanden.

„Guten Morgen“, begrüßte er die Wirtin und legte den Strohballen in eine Ecke. „Die Nacht war ruhig. Keiner der Dendraks scheint in ein Haus eingedrungen zu sein", bemerkte Wulf, als er half, Teller und Besteck zu verteilen.

„Ja. Es war eine Wohltat. Die Monster haben in den letzten Nächten vier Dorfbewohner getötet. Vielleicht waren sie satt. Ich hoffe, dass das noch eine Weile so bleibt“, erwiderte die Wirtin. „Setz dich, ich muss kurz in den Garten und Wasser holen.“

Sie zog einen großen Eimer aus dem Regal. Wulf konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen, als er den Eimer sah. Es war ein roter Plastikeimer. Die Farbe war zwar verblasst, aber er schien immer noch funktionstüchtig zu sein. Auch tausend Jahre hatten dem Material nicht geschadet. Lediglich der Metallhenkel war durch einen Sisalstrick ersetzt worden.

„Lass mich das machen. In deinem Zustand solltest du nicht so schwer tragen.“ Wulf nahm ihr den Eimer aus der Hand und ging durch die hintere Tür in den Garten. Wie fast alle Menschen ohne magische Fähigkeiten besaßen die Wirtsleute einen großen Garten. Wulf sah einige Apfel- und Birnbäume, Stachelbeersträucher, ein Kartoffel- und Gemüsefeld und einen liebevoll eingerichteten, kleinen Kräutergarten. Der Brunnen befand sich nur wenige Schritte neben dem Haus und Wulf hatte den blassroten Eimer rasch gefüllt.

Als er die Küche wieder betrat, saßen die Wirtsleute schon am Tisch und frühstückten.

„Setz dich und lang kräftig zu.“ Der Wirt zeigte auf den freien Stuhl am Kopfende des Tisches. Wulf setzte sich und die Wirtin füllte seine Schüssel mit Haferbrei und reichte ihm eine dicke Scheibe Brot.

Das Frühstück verlief wortlos. Nachdem Wulf der Wirtin geholfen hatte, den Tisch wieder abzuräumen, begab er sich in die Wirtsstube. Hier war der Wirt dabei, die Fenster zu öffnen. Die schweren Holzläden hatte er bereits beiseite geräumt.

„Erzähl. Was hast du auf deinen Wanderungen erlebt?“ Der Wirt blickte Wulf neugierig an und fragte weiter. „Warst du auch in einer der alten Stadtruinen? Mein Vater hatte mich einmal dahin mitgenommen, als ich zehn Jahre alt war. Wir haben Glas für die Scheiben hier in der Schenke geholt. Einige sind ja noch vorhanden. Ich hätte mir gerne alles angesehen, aber unser Ochsenkarren ist sehr langsam und wir mussten schnell zurück, um vor Einbruch der Dunkelheit wieder zuhause zu sein. Und seit mein Vater tot ist und ich die Schenke übernommen habe, ist einfach keine Zeit geblieben, noch einmal dorthin zu reisen.“

„Ja, ich war auch in Ruinen von großen Städten. Es ist aber sehr gefährlich dort. Nicht nur wegen der wilden Dendraks. Dort leben auch gefährliche Tiere, die sich auf alles stürzen, was sich nicht schnell genug in Sicherheit bringt. Einige Lebewesen aus den Todeszonen haben dort auch einen Unterschlupf gefunden.“

Wulf sah, dass der Wirt erschauderte.

„Es ist schön, dass du noch ein paar Tage bleiben kannst. Hier gibt es selten Abwechslung. Na ja, wenn man die Durchsuchungen nicht mitrechnet. Vor einem Monat wurden wieder zwei Frauen aus ihren Häusern geholt, weil sie sich nicht rechtzeitig im Palast eingefunden hatten. Sie wollten ihre Kinder zuhause gebären. Keines der Kinder ist mit seiner Mutter zurückgekehrt. Und die Frauen sahen furchtbar aus, als man sie wieder heimgeschickt hatte. Maria, meine Frau, erwartet ihr viertes Kind. Die drei anderen sind kurz nach ihrer Geburt getötet worden.“ Tränen sammelten sich in seinen Augen. „Man hat uns noch nicht einmal gesagt, ob es Jungen oder Mädchen waren. Maria ist voller Angst, dass sie dieses Mal wieder ein weißmagisches Kind zur Welt bringt. Ich glaube nicht, dass sie es verkraften würde, wenn man es ihr auch noch nimmt. Und es ist furchtbar, dabeistehen zu müssen und nichts unternehmen zu können.“

Wulf legte tröstend seine Hand auf den Arm des Wirtes. Er wusste, dass es diesmal ein Mädchen würde. Und er würde alles dafür tun, damit dieses Kind am Leben blieb.

Der Wirt atmete tief ein. „Ich brauche jetzt erst einmal etwas frische Luft, bevor die ersten Gäste kommen. Begleite mich doch. Ich zeige dir das Dorf und vom Dorfende aus kannst du die dunkle Burg sehen."

Wurf folgte dem Wirt auf die Straße.

„Wie du siehst, gibt es nicht viele Bewohner. Aber das soll ja in allen Dörfern so sein. Die Dunklen haben dadurch alles besser unter Kontrolle. Ich habe gehört, dass es vor der Umwandlung viel mehr Menschen gegeben hat. Da vorne wohnt Martin mit seiner Familie. Seine Frau ist eine, von denen ich gerade erzählt habe. Von sieben Kindern sind ihr zwei geblieben." Das Gesicht des Wirtes verfinsterte sich, als sie an einem, für die heutigen Verhältnisse, prachtvollen Haus vorbei kamen. Die Steine des Hauses waren weiß getüncht, es besaß nicht nur eine Etage, wie alle übrigen Häuser, sondern zwei und eine Mauer aus Feldsteinen umgab das Grundstück.

Der Wirt sprach erst weiter, als sie es ein gutes Stück hinter sich gelassen hatten. „Dort wohnt Jakob. Er arbeitet für die Dunklen. Er meldet die Frauen, die ein Kind erwarten. Außerdem bespitzelt er die Dorfbewohner. Ist wohl eine einträgliche Aufgabe. Ich habe gehört, dass zwei seiner Kinder schwarzmagisch sind und von den Dunklen aufgezogen werden. Hast du den Mann gesehen, der neben dem Haus die Blumenbeete bearbeitet hat? Das ist Claas. In dieser Woche müssen er und seine Frau hier arbeiten. Ist ja auch unter Jakobs Würde selbst zu arbeiten. Und Sefa, seine Frau, kann sich ja wirklich nicht bei der Hausarbeit die Hände schmutzig machen.“ Der Wirt spuckte verächtlich auf den Boden.

Danach gingen sie schweigend weiter, bis sie den Dorfrand erreichten.

Wortlos zeigte der Wirt in Richtung Norden. In einigen Kilometern Entfernung sah Wulf die dunkle Burg auf einem Hügel, in unmittelbarer Nähe eines undurchdringlichen Waldes stehen. Es war eine imposante Anlage. Die Burg war von einer hohen steinernen Mauer umgeben. Wulf kannte solche Anlagen. In der Mitte befand sich die eigentliche Burganlage. In ihr wohnten die erwachsenen Schwarzmagier sowie die Heranwachsenden. Hier wurden sie erzogen und ihre schwarzmagischen Kräfte trainiert. Direkt an die Burg angeschlossen befanden sich die Internatsräume der Kinder. An der Mauer standen dann die primitiven kleinen Hütten der Diener. Hinter der Mauer, von einer weiteren hohen steinernen Einfassung umgeben, hausten die Dendraks.

Mit gesenktem Kopf hatte der Wirt neben ihm gewartet.

„Komm, lass uns zurückgehen. Weiter gibt es bei uns nichts zu sehen. Außerdem kommen gleich die ersten Gäste und ich will nicht, dass Maria die ganze Arbeit alleine erledigen muss."

Wulf nickte und folgte dem Wirt zurück ins Dorf.

Schon von weitem sahen sie Maria, die auf dem Weg in den Stall hinter dem Haus war, um Kühe, Ochsen und Schweine zu versorgen. Ein Dutzend Hühner tummelten sich vor dem Stall und in einem Gatter neben der Stallanlage konnte Wulf eine große Gruppe Gänse erkennen.

„Hallo Paul." Der Wirt zuckte zusammen, als er seinen Namen hörte. „Wie gehen die Geschäfte? Bei deiner Frau ist es ja spätestens in einem Monat soweit. Hoffentlich bringt sie wenigstens jetzt einen ordentlichen Magier zustande. Oder wenigstens einen Erben für deinen Gasthof und nicht wieder solch einen wertlosen Bastard."

Wulf sah, wie der Wirt die Fäuste ballte, aber dann wortlos und ohne den Kopf zu heben, weiterging. Das musste wohl dieser Jakob sein, dachte Wulf. Solche Menschen hatte er in seinem langen Leben schon oft erlebt. Sie waren alle gleich. Es machte ihnen Freude, ihre Position und die Nähe zu den Dunklen auszunutzen und ihre Mitmenschen zu quälen.

Als sie die Gaststube erreicht hatten, kam Maria gerade mit einem Korb voller Eier ins Haus zurück. Man sah ihr an, dass die Arbeit ihr viel Kraft abverlangt hatte. Auf dem Herd in der Küche stand ein großer Topf, in dem eine Gemüsesuppe kochte, die Tische der Gaststube hatte sie bereits abgewischt und den Boden gefegt.

„Leg dich etwas hin." Paul nahm seiner Frau den Korb ab. „Du solltest dich nicht so anstrengen." Liebevoll strich er mit seiner großen Hand über ihr braunes, gewelltes Haar. Er blickte ihr besorgt hinterher, als sie in einem Raum neben der Küche verschwand, der offensichtlich zu den Privaträumen des Wirtspaares gehörte.

 

Paul zapfte zwei Krüge Met und stellte einen vor Wulf auf die Theke.

„Ich weiß nicht, was ich machen soll", begann der Wirt. Er hatte mittlerweile Vertrauen zu Wulf gefasst. „Am liebsten würde ich mit meiner Frau von hier fortgehen, bevor das Kind auf die Welt kommt. Aber ich fürchte, dass es in anderen Dörfern genauso ist. Die Grauen herrschen überall und überall töten sie weißmagische Kinder sofort nach der Geburt. Wir können also nirgendwo hin. Und Maria ...", er schluckte und blickte an Wulf vorbei ins Leere. „Ich glaube nicht, dass sie einen weiteren Schicksalsschlag überstehen wird."

Wulf schwieg zunächst. Er prüfte den Mann vor ihm mit seinen feinen Sinnen nach Spuren von Hinterhältigkeit und Lüge. Aber er konnte nichts dergleichen finden. Paul war ein rechtschaffener, aufrichtiger Mann.

„Wir sollten uns heute Abend unterhalten, sobald die Gäste gegangen sind und wir nicht belauscht werden können. Ich denke, dass ich euch helfen kann." Wulf setzte alles auf eine Karte. Aber er war sich absolut sicher, dass der Wirt nicht mit den Dunklen im Bunde war.

Der Tag verlief ruhig. Wulf hatte in seinem langen Leben gelernt, geduldig zu sein. Die Wirtsleute allerdings waren den ganzen Tag über sehr nervös. Immer wieder blickten sie zu ihm herüber, wagten aber nicht ihn anzusprechen, da sie Angst hatten, belauscht zu werden.

Am Abend las Wulf wieder aus dem alten Buch vor. Die anwesenden Gäste lauschten andächtig seinen Worten. Für sie war es sehr spannend von der Zeit der Verwandlung zu hören.

Nachdem der letzte Gast gegangen war, half Wulf den Wirtsleuten, die Fenster und Türen mit den schweren Holzläden zu verbarrikadieren. Dann gingen sie in die Küche und setzten sich an den großen Eichentisch. Die beiden sahen Wulf gleichzeitig neugierig und ängstlich an.

„Dein Mann hat mir von deinen Ängsten erzählt“, wandte sich Wulf zunächst an Maria. „Du fürchtest, dass du wieder ein weißmagisches Kind zur Welt bringst und dass die Grauen auch dieses Kind töten werden."

Maria sackte bei seinen letzten Worten in sich zusammen. Mit Tränen in den Augen nickte sie. „Ja. Es war bis jetzt jedes Mal so. Es war so schrecklich …“ Ihr versagte die Stimme.

Wulf nickte. „Das kann ich mir vorstellen. Nun, es gibt im Gebirge im Süden eine abgeschirmte Heimstatt der Weißmagier. Ich werde euch dorthin führen. Dort seid ihr in Sicherheit."

„Es gibt wirklich lebende Weiße?", fragte Paul erstaunt. „Ich dachte, dass alle Kinder mit weißmagischen Fähigkeiten sofort nach der Geburt getötet werden."

„Es gibt sie. Es sind nicht viele. Der Unterschlupf besteht schon seit dem Zeitpunkt der Verwandlung. Die Weißen sind dorthin geflüchtet, nachdem die Grauen begonnen hatten, sie zu verfolgen und zu töten. Der Weg dorthin ist gefährlich. Er dauert, selbst mit einem Ochsenkarren, viele Tage. Man muss sich nachts vor den Dendraks verstecken und tagsüber vor wilden Tieren und den Spitzeln der Grauen. Und man muss stets große Umwege um die Dörfer, Burgen und Todeszonen fahren. Es ist aber zu schaffen. Mir ist es selbst vor sehr langer Zeit gelungen, das Gebirge und die Weißmagier zu erreichen. Ich werde euch helfen."

„Du bist dort gewesen? Dann bist du selbst …"

Wulf nickte. „Ja, ich bin selbst einer von ihnen."

„Du sagtest gerade, dass du selbst zu ihnen gegangen bist. Wie hat deine Mutter es geschafft, dass du nicht bei der Geburt getötet wurdest? Wie konnte sie deine Magie verbergen?" Maria sprach sehr schnell, so aufgeregt war sie. In ihr keimte eine Hoffnung auf. Eine Hoffnung für sich und ihr ungeborenes Kind.

Wulf hatte den gesamten Abend darüber nachgedacht, wie er es den beiden erklären sollte. Sie würden vermutlich einen Schock bekommen.

„Meine Mutter musste meine Magie nicht verbergen. Bei meiner Geburt hatte ich noch keine magischen Kräfte. Die habe ich erst in der Zeit der Umwandlung bekommen."

Paul erstarrte. Dann schüttelte er den Kopf.

„Das ist nicht möglich. Die Umwandlung fand vor fast eintausend Jahren statt. Das würde bedeuten …", er sprach nicht weiter. Seine Augen waren ungläubig auf Wulf gerichtet.

„Ja. Das bedeutet, dass ich über eintausend Jahre alt bin. Um genau zu sein, ich habe vor zwei Monaten meinen eintausendzweiundzwanzigsten Geburtstag gefeiert.“ Wulf lies diese Information ein paar Augenblicke wirken, bevor er weitersprach: „Das Buch, aus dem ich euren Gästen vorgelesen habe, ist von mir selbst vor fast eintausend Jahren geschrieben worden. Ich habe Max Bauer, der plötzlich übermenschliche Kräfte besaß, selbst kennen gelernt. Die übrigen Geschichten habe ich aufgrund von Zeugenaussagen notiert.“

„Aber, wie ist das möglich? Bist du durch die Magie unsterblich geworden?“ Fast ehrfurchtsvoll sahen sie ihn an.

„Nein, nicht unsterblich. Der Alterungsprozess ist bei mir extrem verlangsamt. Genau wie der Verfall einiger der alten Städte. Ein Freund, der von Zeit zu Zeit die Gabe besitzt, in die Zukunft zu sehen, sagte mir, dass ich sterben werde, sobald die Welt wieder normal ist. Wenn die Magie wieder verschwunden ist. Ich hoffe, dass ich nicht mehr so lange darauf warten muss. Ich hatte ein sehr langes Leben. Ich bin müde. Es wird langsam Zeit für mich, zu gehen.“

„Die Zukunft?“, fragte Maria. „Hat dein Freund auch gesagt, wann die Magie wieder verschwindet, wann wir wieder frei sind?“

Wulf schwieg einen Augenblick. Er wollte ihnen nicht sagen, dass das Ende der Magie durch ihre jetzt noch ungeborene Tochter kommen wird. Sie waren sowieso schon zu aufgeregt und eine lange, gefährliche Reise lag vor ihnen.

„Ihr solltet ihn selbst fragen. Wenn ihr zustimmt, mich zu begleiten, werdet ihr in der Heimstatt alles erfahren." Wulf sah an ihren Blicken, dass er sie nicht überreden musste, mit ihm zu kommen. Sie sahen die Möglichkeit, dem Terror der Grauen zu entkommen und die Chance, dass Maria ihr Kind ohne Sorge um dessen Leben gebären könnte.

Die Wirtsleute sahen sich an, dann nickten beide.

„Wir werden mit dir gehen. Allerdings werden wir sehr vorsichtig sein müssen. Jakob darf nicht erfahren, dass wir von hier verschwinden wollen."

Wulf überlegte. „Du hast erzählt, dass du vor langer Zeit mit deinem Vater in den Ruinen der nahen, großen Stadt warst und dort Scheiben für die Fenster der Schenke besorgt hast. Nun, wir können es so einrichten, dass eine der Scheiben hier zu Bruch geht, wenn dieser Jakob in der Nähe ist. Du kannst erzählen, dass du mit deiner Frau neue Scheiben besorgen willst. Dann fällt es auch nicht auf, wenn ihr einen Ochsenkarren nehmt. Wir würden damit schneller vorankommen. Auf mich wird er nicht achten. Ich warte außerhalb des Dorfes auf euch."

„Das könnte funktionieren. Glas ist knapp und wirklich gute Scheiben gibt es nur in den Ruinen. Er wird uns glauben, dass wir sofort aufbrechen wollen, um die Scheibe zu ersetzen. Und es ist auch nicht ungewöhnlich, dass ich meine Frau mitnehme. Alleine ist es schwierig, die Scheiben unversehrt herauszubrechen. Wenn er bemerkt, dass wir nicht zurückkommen, haben wir schon einen großen Vorsprung. Allerdings muss ich gestehen, dass ich mich vor den Dendraks und wilden Tieren fürchte. Was machen wir also nachts, wenn wir keine sichere Unterkunft finden?" Der Wirt blickte Wulf fragend an.

„Nun, meine Magie beschränkt sich nicht nur darauf, länger als andere zu leben.“ Wulf lächelte. „Ich bin zwar nicht unbesiegbar, aber einige dieser Biester werde ich schon abhalten können. Wilde Dendraks jagen einzeln. Erst, wenn sie unter der Kontrolle eines Grauen stehen, sind sie auch im Rudel anzutreffen. Normalerweise würden sie sich gegenseitig zerfleischen. Ich würde vorschlagen, dass wir die Scheibe morgen in den Vormittagsstunden zerbrechen. Dann bleibt ein halber Tag, die Reisepläne zu verbreiten und alles vorzubereiten. Geht jetzt schlafen. Es liegt eine anstrengende Reise vor uns.“

 

„Kannst du Tölpel nicht aufpassen? Weißt du eigentlich, wie viel Mühe es gekostet hat, dieses Glas zu besorgen? So etwas wächst nicht im Garten. Verschwinde, ehe ich mich vergesse!“, schrie Paul und schaffte es tatsächlich, dass sich sein Gesicht hochrot färbte. Wulf vermutete, dass es die Aufregung war. Er blickte zu Boden, als wenn er ein schlechtes Gewissen habe.

„Ich … Ich kann nur um Entschuldigung bitten. Es tut mir wirklich leid …“, stammelte Wulf vor sich hin.

„Das nützt mir jetzt auch nichts mehr. Ich muss eine neue Scheibe besorgen. Hast du eine Ahnung, wie gefährlich das ist? Los! Verschwinde! Aus meinen Augen!“

Das Klirren der Fensterscheibe und der anschließende Disput waren von einigen Dorfbewohnern verfolgt worden. Also würden spätestens in einer Stunde alle anderen davon erfahren haben. Der erste Teil des Plans war gelungen. Wulf nahm sein Bündel, murmelte noch eine Entschuldigung in Richtung des Wirtspaares und verließ das Dorf. Er spürte die Blicke der Dorfbewohner, als er das letzte Haus hinter sich gelassen hatte. Er sah sich nicht um, sondern ging weiter, bis der Weg nach Süden bog und ihn vor den Blicken verbarg. Nun musste er sich nur noch bis zum nächsten Morgen hier verstecken, bis die Wirtsleute ihn in den frühen Morgenstunden mit ihrem Ochsengespann auflesen würden.