Überraschung

Die ganze Stadt lies die Vergänglichkeit alles von Menschenhand geschaffene spüren. Die Hochhäuser, die früher von der Leistungsfähigkeit der Bewohner zeugten, ragten wie abgenagte, zersplitterte Knochen in den Himmel und dienten Efeu als Klettergerüst. Die Straßen, ausgerichtet für einen immensen Autoverkehr, waren durch die Witterung aufgebrochen, Bäume und Sträucher wuchsen auf ihnen und ein Bach teilte die ehemalige Hauptstraße in zwei Teile.

Die drei Gefährten beobachteten ihre Umgebung genau. Hinter jedem Steinbrocken, hinter jedem Busch konnte eine Gefahr lauern.

Aber es war kein Tier oder Monster, was ihre Reise unterbrach. Sie waren so auf die Umgebung fixiert, dass Paul das tiefe Loch im Boden nicht bemerkte und direkt darüber fuhr. Mit einem lauten Knall brach die Vorderachse und der Karren neigte sich abrupt zur Seite. Paul umklammerte fest seine Frau, damit sie nicht vom Wagen fiel. Wulf sprang herunter, um den beiden zu helfen.

„Das hat grade noch gefehlt. Wo bekommen wir jetzt eine neue Achse her? Maria, setz dich hier hin." Paul führte seine Frau einige Meter vom Karren weg. Dort hatte er eine Decke für sie ausgelegt.

Wulf suchte in der Zwischenzeit die Umgebung ab. In einigen Metern Entfernung stand eine große Eiche, deren Krone die ehemaligen Hochhäuser weit überragte.

Einige der Äste schienen gerade gewachsen zu sein. Möglicherweise reichte ihre Länge für die Achse aus.

„Paul kommst du einmal her? Ich glaube, ich habe hier etwas gefunden."

Paul lief zu ihm.

„Schau, der Ast dort oben. Der könnte brauchbar sein.“

„Du hast Recht. Ich versuch ihn, mit der Machete abzutrennen.“

Mit einer Geschicklichkeit, die Wulf der riesenhaften Gestalt gar nicht zugetraut hätte, kletterte Paul den Stamm hinauf. Beim Ast angekommen, begann er sofort, ihn mit der Machete zu bearbeiten. Das wütende Schreien einer Vogelmutter, deren Nest sich in der Verzweigung dieses Astes befand, war die Folge.

Paul arbeitete schnell und schon nach wenigen Augenblicken fiel der Ast Wulf vor die Füße. Genauso schnell, wie er den Baum erklommen hatte, war er auch schon wieder auf dem Erdboden angekommen. Mit Hilfe der Machete entfernt er die Zweige und schnitten ihn in die richtige Länge.

Anschließend entleerten sie die Ladefläche des Karrens und hievten ihn auf die Seite. Die Achse war genau in der Mitte durchgebrochen. Mit Hilfe eines Hammers entfernten sie diese aus der Nabe. Danach ersetzten sie die Achse durch den frisch geschlagenen Ast. Nach einer Stunde stand der Karren wieder aufrecht, war beladen und die Reise konnte fortgesetzt werden.

Paul achtete nur noch auf den Weg. Maria und Wulf übernahmen das Beobachten der Hausruinen. So gelang es ihnen, ohne einen weiteren Zwischenfall, die Innenstadt zu durchqueren. Es war früher Nachmittag, als die Ruinen spärlicher wurden und sie schließlich die Stadt hinter sich gelassen hatten.

Der Weg wurde sumpfig und sie hatten Mühe, vorwärtszukommen. Wulf hatte schon Sorge, dass sie keine geeignete, sichere Unterkunft für die Nacht finden könnten, als er in der Ferne ein weites, offenes Feld mit mehreren barackenartigen, verfallenen Gebäuden erkennen konnte. Sie fuhren auf die Gebäude zu. Wulf erkannte, wo sie sich befanden. Das hier war früher ein Flughafen gewesen. Auf einer Seite war der Tower zu erkennen. Der untere Teil schien noch intakt zu sein, der obere war eingestürzt. Sie fuhren mit ihrem Karren neben die Towerüberreste. Es würde eine ungemütliche Nacht werden, da sie diesmal die Ochsen mit ins Gebäude nehmen mussten. Es bestand keine Möglichkeit, sie anderweitig unterzubringen denn die anderen Gebäude waren nur noch Trümmerhaufen. Also luden sie den Karren aus, schleppten alles in das kleine Gebäude, führten die Tiere herein und versperrten die Türöffnung mit den mitgeführten Holzplatten.

„Siehst du?", grinste Paul. „Ich hab doch gesagt, dass wir sie brauchen werden."

 

Die frühe Morgensonne stand am wolkenlosen Himmel, als sie die Reise fortsetzten. Vom Flughafengelände wollten sie in südöstlicher Richtung weiterfahren, da dort Ansiedlungen spärlicher waren.

Sie waren gerade gestartet, da riss Wulf unvermittelt Paul die Zügel aus der Hand und ließ den Karren halten. Paul sah ihn verwundert an, doch Wulf gebot den Wirtsleuten, ruhig zu sein.

Da hörten sie es auch. Ein leises Wimmern wehte von den eingestürzten Baracken zu ihnen herüber. Wulf übergab Maria die Zügel und zusammen mit Paul schlich er dem Wimmern entgegen. Paul hielt die Machete fest umklammert. Es konnte ein wildes Tier sein, das Schmerzen litt und er wusste, dass verletzte Tiere noch gefährlicher waren.

Wulf schloss die Augen, um die Gegend auf das Vorhandensein magischer Aktivitäten zu überprüfen. Zunächst spürte er nichts. Dann meinte er das kurze Aufflackern einer weißmagischen Aura zu verspüren, die aber fast augenblicklich wieder verschwand. Irritiert schüttelte er den Kopf. Da war es wieder. Diesmal etwas stärker. Und fast gleichzeitig mit dem Aufflackern hörte er wieder das Wimmern.

Sie schlichen weiter.

Ein Großteil der Hangarwand war nicht mehr vorhanden, so dass sie bald die ganze ehemalige Halle überblicken konnten. Einzelne kleine Hügel Rost waren das Einzige, was den Boden bedeckte. Sie betraten die Halle. Das Wimmern kam direkt aus ihrer Mitte.

Doch da war niemand.

Wulf bedeutete Paul, dass er warten solle. Er würde allein weitersuchen. Wenn dort jemand war, der über Magie gebot, war es besser, Paul nicht in Gefahr zu bringen.

Wulf umrundete einen kleinen Rosthügel. Auf dem Boden dahinter lag nur eine quadratische, dicke, von Staub blinde Glasscheibe auf dem Boden. Wulf blieb erstaunt stehen. Direkt vor ihm musste jemand sein. Ein Mensch. Das war eindeutig. Das bedeutete …

Er bückte sich und schob die dicke Glasscheibe beiseite. Sein überraschter Ausruf mischte sich mit einem Schrei des Entsetzens aus der nun freigelegten Grube.

„Was ist los?", rief Paul ihm zu, bereit sich auf einen möglichen Gegner zu stürzen.

Wulf hob beschwichtigend die Hand.

„Keine Angst", sprach er ruhig in die Grube. „Wir tun dir nichts. Kannst du aufstehen?"

Als Antwort kam wieder das Wimmern.

„Wer ist da?", fragte Paul nervös.

Wulf wand sich kurz zu ihm.

„Hol bitte Maria. Mach schnell."

Paul lief zum Karren und kam Augenblicke später mit seiner Frau zurück.

„Paul, hilf mir die Frau aus der Grube zu heben. Hier ist zu wenig Platz", bat er den verblüfften Gefährten.

Paul stieg zusammen mit Wulf vorsichtig in die kleine Wartungsgrube des Hangars hinunter. Zusammengekrümmt und mit schmerzverzerrtem Gesicht lag eine junge Frau vor ihnen. Sie war kaum älter als zwanzig Jahre und sie lag eindeutig in den Wehen.

„Ganz ruhig. Wir sind keine Grauen. Wir werden dir helfen", versuchte Wulf sie zu beruhigen.

Skeptisch blickte die junge Frau ihn an, ließ sich aber dann doch von ihm und Paul aus der Grube tragen.

Maria war zwischenzeitlich zum Karren zurückgelaufen und hatte eine Decke geholt. Die Frau wurde vorsichtig darauf gebettet.

Wieder drang ein leises Wimmern aus ihrer Kehle.

„Glaubt Ihr, dass wir es riskieren können, Wasser zu kochen?“, fragte Maria hastig. „Ich brauche heißes Wasser, ein scharfes Messer und etwas zum Abbinden der Nabelschnur."

Wulf und Paul sammelten trockene Zweige und entzündeten ein Feuer, um im gusseisernen Kessel ihr restliches Wasser aufzukochen. Wulf hielt die Machete in die Glut und spülte sie dann mit dem kochenden Wasser ab. Auch eine Nylonschnur desinfizierte er im Wasser.

Das Wimmern der Frau hörte plötzlich auf und die beiden Männer hoben ihre Köpfe, als ein kräftiger, heller Schrei ertönte.

„Ein Junge! Es ist ein Junge!", rief Maria ihnen zu.

Sie band geschickt die Nabelschnur ab und durchtrennte sie mit der Machete, die sie von Paul bekommen hatte. Dann reichte sie das Baby der jungen Mutter.

„Ein Weißmagier", sagte Wulf der Mutter, die ihr Baby zärtlich an sich drückte. „Wie heißt du und wo kommst du her?", fragte er sie.

„Ich heiße Ellen und wohne in einem Dorf, eine Tagesreise von hier entfernt. Heute in der Frühe sollte ich mich eigentlich in der Burg melden. Aber ich hatte Angst, dass sie wieder eines meiner Kinder töten. Im letzten Jahr habe ich schon einmal eine Weißmagierin geboren. Sie wurde nicht einmal eine Stunde alt. So bin ich geflüchtet. Als ich gestern hier angekommen bin, habe ich mich hier in der Kuhle vor den Dendraks versteckt. Vorhin, als ihr die Abdeckung entfernt habt, dachte ich, die Grauen hätten mich gefunden. Bitte. Schickt mich nicht zurück. Sie werden mein Kind umbringen." Ellen sah sie mit großen, verzweifelten Augen an.

Beruhigend legte Wulf einen Arm an ihre Schulter. „Du kannst mit uns kommen. Wir sollten jetzt aber schleunigst aufbrechen. Die Grauen werden bereits bemerkt haben, dass du nicht in der Burg bist und sie werden ganz sicher nach dir suchen. Von hier aus werden wir einen großen Bogen fahren müssen, damit wir ihnen nicht in die Hände fallen."

 

Sie bereiteten Ellen ein bequemes Lager auf der Ladefläche des Karrens und fuhren schnell los.

An einem kleinen Bach füllten sie ihre Wasservorräte auf. Ansonsten legten sie keine Rast ein. Als die Sonne sich langsam zum Horizont neigte, fanden sie eine alte, heruntergekommene Hütte in der Nähe eines Waldes und richteten das Nachtquartier ein. Maria fand in der Nähe der Hütte eine große Anzahl an Beeren und Pilzen und bereitete eine einfache, aber schmackhafte, Mahlzeit zu.

Die Nacht verlief ruhig. Dendraks schien es in dieser Gegend nicht zu geben und auch Graue tauchten nicht auf. Wulf vermutete, dass sie nicht damit rechneten, dass Ellen und ihr Kind bereits so weit weg von ihrem Dorf waren.

 

Sie kamen, trotz des relativ langsamen Ochsenkarrens, schnell voran und erreichten ohne Zwischenfälle die Ausläufer der Alpen. Es gelang ihnen immer wieder in den Vororten von Ruinenstädten oder in verlassenen Bauernhöfen eine sichere Unterkunft zu finden. Wulf ging mehrfach kurz vor der Dämmerung auf die Jagd und bereicherte ihr Speiseangebot durch Hasenbraten und sogar einmal durch einen Hirsch, den er mit Hilfe von Pfeil und Bogen erlegte.