Vision
Lysan stand immer noch unter Schock, als Wulf sie zum Haus zurückbrachte. Eda bestand darauf, dass sie sich sofort hinlegte, verdunkelte das Zimmer und gebot den anderen, sich leise zu verhalten. Lysan brauchte Ruhe.
„Du solltest dich auch etwas ausruhen", meinte sie zu Wulf. „Ich hab zwar deine Brustwunde vorhin heilen können, aber der Angriff hat dich einiges an Kraft gekostet. Wir wissen nicht, was in den nächsten Tagen geschehen wird."
„Ich werde mich tatsächlich einen Augenblick hinlegen. Ich fühle mich, als wenn eine Kuh auf mir herumgetrampelt hätte. Danke noch mal, euch beiden. Wu, das war sehr mutig von dir, mich hinter das Haus zu ziehen." Dann ging er auf sein Zimmer. Er stellte den Bogen und die restlichen Pfeile in die Ecke und legte sich ins Bett. Aber er konnte nicht schlafen. Zuviel ging ihm im Kopf herum. Vieles war heute in der Versammlung zu besprechen. Lysan war nahezu erwachsen. Bald würde sie über ihre volle Kraft verfügen. So kurz vor dem Ziel durfte nichts mehr dazwischen kommen.
Irgendwann fielen ihm dann doch die Augen zu. Er träumte von Doreen. Er träumte immer von Doreen. Ihr helles Lachen, ihre strahlenden Augen, in denen sich das Glück spiegelte, als sie erfahren hatte, dass sie ein Kind erwartete, die Pläne, die sie für die Zukunft schmiedeten. Der Tag nach der Verwandlung, ihre Flucht, der Angriff der Dendraks, Doreens Tod, all das zog wie im Zeitraffer durch seinen Traum.
Er war froh, als Eda ihn weckte. Es war Zeit für die Versammlung.
Gemeinsam gingen sie in das große Ratsgebäude. Fast alle Bewohner des Tales waren schon anwesend, als sie ihre Plätze einnahmen.
Nach wenigen Minuten erhob sich Tana und das Murmeln, das bisher den Raum erfüllt hatte, verstummte.
„Meine Lieben", begann Tana. „Der heutige Tag war für uns alle ein unglaublicher Schock. Wir haben feststellen müssen, dass unsere Vorsichtsmaßnahmen nicht ausreichend sind. Trotz mehrfacher Überprüfung ist es den Grauen gelungen, ihre dunkle Magie zu verbergen und uns zu überlisten. Wir können von Glück sagen, dass niemand von uns ernstlich zu Schaden gekommen ist.
Durch den Grauen haben wir erfahren, dass unsere Feinde die ungefähre Position unserer neuen Zuflucht kennen. Wir haben, meiner Meinung nach, nur zwei Möglichkeiten. Die Erste wäre, dass wir uns wieder ein anderes Tal suchen."
Sie unterbrach ihre Rede. Das laute Protestieren der Anwesenden machte es ihr unmöglich weiter zu sprechen. Sie hob beschwichtigend die Hände. Das Rufen verstummte.
„Die zweite Möglichkeit birgt ein gewisses Risiko in sich. Wir können versuchen, unsere Spuren zu verwischen. Die Grauen haben in einer Hütte, etwa einen Tagesmarsch von hier, gewohnt. Der Rat schlägt vor, von dort aus eine Spur in Richtung Süden zu legen. Es soll so aussehen, als wenn die beiden Grauen mit dem Kind das Gebirge vollständig überquert hätten und unsere Zuflucht auf der anderen Seite der Bergkämme liegt. Ihr könnt euch vorstellen, dass diese Vorgehensweise sowohl für diejenigen, die die falsche Spur legen, als auch für die Zurückbleibenden mit erheblichen Risiken verbunden ist. Aus diesem Grunde hat der Rat beschlossen, die Meinung aller hierzu einzuholen. Im Anschluss an meine Ansprache habt Ihr Gelegenheit, euch untereinander zu besprechen. Dann können hier Fragen gestellt und Meinungen kundgetan werden. Wenn alle Fragen geklärt sind, werden wir eine Abstimmung durchführen."
Tana setzte sich. Sofort begannen eifrige Diskussionen.
„Wir können doch nicht schon wieder fortziehen!", hörte sie aus der einen Ecke. „Aber, wenn sie doch schon ungefähr wissen, wo wir uns befinden …", kam es aus der Anderen.
Eine Stunde hitziger Diskussionen war vergangen. Lysan hatte sich die gesamte Zeit über nicht auf ihrem Stuhl bewegt. Scheinbar teilnahmslos verfolgte sie die Streitgespräche. Es ging um sie. Sie brachte hier alle in Gefahr. Die Menschen hier erwarteten ein Wunder von ihr. Sie sollte sie befreien. Lysan wurde immer verzweifelter. Wie sollte sie den Vorstellungen der Leute gerecht werden? Tiefe Zweifel nagten an ihr. Und wenn sie nicht diese Auserwählte war? Wenn sich alle hier unnötig in Gefahr brachten? Hatte sich Wulf geirrt? Warum sollte ausgerechnet sie diejenige sein, die die Welt befreite? Lysan sank noch tiefer in sich zusammen.
Wulf bemerkte ihre innere Anspannung. Tröstend legte er einen Arm um sie.
„Es wird alles gut", meinte er.
Wie sollte alles gut werden, wenn sie selbst nicht wusste, was zu tun ist, wenn sie noch nicht einmal sicher war, ob das Vertrauen und die Hoffnungen gerechtfertigt waren?
„Ich bitte um Ruhe." Tana hatte sich wieder erhoben und augenblicklich herrschte absolute Stille im Saal. „Habt ihr noch Fragen, die vor der Abstimmung geklärt werden müssen oder wollt ihr zu der Angelegenheit vorher noch etwas sagen? Ja, Franka?"
„Seid ihr sicher, dass sich die Grauen täuschen lassen werden? Sie vermuten uns hier in dieser Gegend. Wieso sollten sie plötzlich annehmen, dass wir uns so weit südlich aufhalten?"
„Wir werden die Strecke so präparieren, dass es aussieht, als wenn wir abermals weiter gezogen sind. Das wird nicht so schwer sein. Die beiden Grauen müssten uns dann gefolgt sein. Wir werden es so aussehen lassen, dass ihre Spuren in Richtung Süden etwas frischer aussehen. Ich denke schon, dass die Grauen der Ansicht sein werden, dass wir nach dem Winter aus Angst südwärts gezogen und dass die beiden Grauen mit dem Baby uns gefolgt sind. Jost, du hast eine Frage oder Anmerkung?"
„Können wir nicht tatsächlich nach Süden ziehen? Ich weiß, es würde wieder eine anstrengende und gefährliche Reise werden und wir haben uns gerade erst hier richtig eingerichtet. Aber wäre das nicht sicherer für uns?"
„Natürlich könnten wir weiterziehen. Aber ich kenne kein weiteres Tal, in dem wir Zuflucht finden könnten. Wir müssten also zunächst Kundschafter aussenden, die ein entsprechendes Tal suchen müssten. So etwas kann sehr lange dauern. Und ich bezweifle, dass die Grauen uns diese Zeit geben werden. Wenn sie von ihren Kumpanen nichts mehr hören, werden sie beginnen, sie zu suchen. Noch weitere Fragen?"
Niemand meldete sich.
„Dann müsst ihr euch nun entscheiden, ob wir versuchen sollen, in Richtung Süden zu ziehen oder ob wir hier bleiben und den Grauen nur vorspielen, dass wir nach Süden gezogen sind. Bitte hebt die Hand, wenn ihr dafür seid, nach Süden zu ziehen." Sie blickte in die Runde und zählte. „Das sind zwanzig Stimmen. Nun heben diejenigen die Hände, die für das Täuschungsmanöver sind."
Fast alle aus dem Saal hatten die Hände erhoben. „Gut. Das ist eindeutig die Mehrheit. Wir werden also hier bleiben und eine falsche Spur legen. Der Rat wird noch heute Nacht einen Plan ausarbeiten. Die Versammlung ist geschlossen."
Sie gingen in ihre Häuser zurück. Bevor Lysan zu Bett ging, nahm sie Wulf noch einmal zur Seite.
„Onkel Wulf, bist du ganz sicher, dass ich diejenige bin, die die Magie vertreiben wird? Was ist, wenn du dich irrst? Ich könnte es nicht ertragen, wenn noch mehr Menschen meinetwegen sterben würden."
„Ich bin mir vollkommen sicher. Noch nie gab es ein Kind, das schon vor seiner Geburt über ein so ungeheures magisches Potential verfügte. Die Grauen sind auch sicher, dass du die Auserwählte bist. Sie würden sonst nicht so viel daran setzen, dich zu vernichten. Jetzt geh schlafen. Gute Nacht."
Lysan ging in ihr Zimmer. Noch immer nagten Zweifel an ihr. Wulf hatte sie nicht überzeugen können.
Am nächsten Morgen rief der Rat diejenigen zu sich, die er für die gefährliche Aufgabe der Legung einer falschen Spur für am Besten geeignet hielt. Es waren sieben Weiße, die mit schnellen Pferden ausgestattet, eine falsche Fährte nach Süden legen sollten. Vom Karren, auf dem die Grauen ins Tal gebracht wurden, nahmen sie einige persönliche Gegenstände der beiden mit. In unregelmäßig langen Abständen würden sie diese am Wegesrand zurücklassen.
Drei Tage waren sie nun schon unterwegs und die Anspannung im Tal war fast greifbar.
„Glaubst du, dass es Horm und den anderen gut geht? Sie sind schon so lange unterwegs.“ Kareen war in großer Sorge um ihren Mann und ihre Freunde.
„Sie sind am Leben. Ich spüre ihre Präsenz. Beruhig dich. Es wird alles gut gehen“, antwortete Tana und schenkte ihrer Freundin eine Tasse Kräutertee ein.
Am Abend des dritten Tages kehrten sie zurück. Sieben vollkommen erschöpfte Menschen hingen mehr auf ihren Pferden, als dass sie darauf saßen. Auch die Pferde waren am Ende ihrer Kräfte.
Man half den Weißen von den Tieren.
„Ist die Spur gelegt?", fragte Tana besorgt, als sie bei zweien der Rückkehrer schwere Wunden feststellte. „Eda, schnell!"
Eda war sofort bei ihr. Sie untersuchte die Wunden.
„Das sind Spuren von Dendrakangriffen. Eindeutig." Dann konzentrierte sie sich auf die Heilung.
Der Weiße öffnete unter ungeheurer Anstrengung die Augen. „Die Spur ist gelegt. Wir wurden, kurz bevor wir wieder zurückkehren wollten, aus dem Hinterhalt von Dendraks angegriffen. Keine Sorge. Von denen hat niemand überlebt. Sie können ihren Herren nichts berichten. Ihr Tod wird die Annahme verstärken, dass wir das Gebirge vollständig überwunden haben und uns nun auf der anderen Seite befinden." Dann verließen ihn die Kräfte und er fiel in einen tiefen Schlaf.
Am nächsten Morgen war der Rat in heller Aufregung. Man holte Wulf und Lysan ins Ratshaus.
„Hennig verfügt, wie Ihr wisst, über die Gabe des zweiten Gesichts. Heute Nacht hatte er eine Vision. Hennig, erzähl uns bitte, was du gesehen hast."
Henning war sehr aufgeregt, als er mit seinen Ausführungen begann.
„Ich sah Lysan. Sie stand in einem Kreis aus großen Steinen. Dieser war von zwei Weiteren umgeben. Ich sah, wie sie einen Graben und einen zusätzlichen Steinkreis errichtete. Als die Sonne aufging, fiel ihr Schein genau auf den am Boden liegenden Stein, auf dem Lysan stand. Sie erstrahlte in hellem Licht. Dann hob sie ihre Arme und das helle Licht breitete sich über die gesamte Erde aus.
Dann war die Vision zu Ende."
„Hast du gesehen, wo es sich zugetragen hat?", fragte Tana aufgeregt. Ihr Gesicht hatte hektische rote Flecken bekommen.
„Nein. Die Gegend kam mir vollkommen unbekannt vor. Ich sah keine Felsen. Ich sah grüne Hügel. An mehr kann ich mich nicht erinnern."
Tana drehte sich zu Wulf, um ihn etwas zu fragen. Doch Wulf saß mit weit aufgerissenen Augen da und starrte Henning an.
„Was ist los, Wulf?", fragte Tana besorgt.
Doch Wulf antwortete nicht auf ihre Frage. Stattdessen stellte er selbst Fragen an Henning.
„Du sagst, sie stand in einem Kreis aus großen Steinen, um den sich zwei weitere Steinkreise befanden. Und diese Steinkreise liegen nicht hier im Gebirge?"
„Ja. So habe ich es gesehen. Weißt du, wo das ist?", fragte Henning.
Wulf nickte. „Ich weiß, wo das ist. Wir müssen hoch zur Küste, dann über das Meer in ein anderes Land. Dort liegt ein Ort, den man einstmals Stonehenge nannte. Er besteht aus Steinkreisen. Vor der Umwandlung rätselten die Wissenschaftler, welchem Zweck diese Kreise dienten. Sie vermuteten, dass sie eine Begräbnisstätte, ein Beobachtungszentrum für Sterne waren oder dass die Kreise einen Tempel darstellten. Sollte es möglich sein … Sollte es schon einmal eine Verwandlung gegeben haben und Stonehenge der Ort sein, an dem diesem Spuk schon einmal ein Ende bereitet wurde? Je länger ich darüber nachdenke, umso logischer erscheint mir diese Theorie."
„Übers Meer? Wie soll das zu schaffen sein? Ihr werdet ein Schiff brauchen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Schiff so einfach aufzutreiben ist", entgegnete Tana.
„Wir sollten Onkel Bent holen. Er hat mir einmal erzählt, dass er Boote bauen kann. Er hat früher ja Fische gefangen", warf Lysan ein.
Wulf war zwar skeptisch, denn die Boote, die Bent gebaut hatte, waren ausschließlich für die Fahrt auf Seen und bestimmt nicht für das offene Meer geeignet. Da er aber selbst keine bessere Idee hatte, ging er in sein Haus zurück und holte ihn.
„Ein Boot bauen, das über das Meer fährt?" Bent blickte sie entgeistert an, als sie ihm von dem Plan erzählten. „Ich kann euch alles Mögliche bauen, aber solch ein Boot? Wie groß muss es denn sein? Wie viel Leute sollen darauf Platz finden?"
„Ich denke, dass es Platz für zehn Personen bieten sollte. Du müsstest mitfahren, außerdem selbstverständlich Lysan, dann Wulf und sieben andere Weiße. Mehr Leute können wir nicht mitgeben. Wir besitzen nur zehn Pferde. Ohne Pferde würdet ihr die Küste nicht erreichen. Selbst mit den schnellen Pferden ist der Weg sehr gefährlich."
„Zehn Personen und dann auch noch die Pferde. Ich werde überlegen, wie man das bewerkstelligen kann." Er verließ den Ratssaal sehr nachdenklich.
In der nächsten Zeit ging es im Tal sehr geschäftig zu. Es wurden große Satteltaschen genäht, die die Vorräte der zehn Reisenden aufnehmen sollten. Decken und Reiseumhänge stapelten sich im Lagerhaus. Fast täglich kamen neue Ausrüstungsgegenstände dazu. Es wurden Tiere geschlachtet, Fische gefangen, geräuchert oder getrocknet.
Die Häute der geschlachteten Tiere wurden nach Bents Anweisungen zu dünnen Lederstücken verarbeitet. Er hatte eine ungefähre Vorstellung, wie groß das Segel sein musste, das sie benötigten. Als die Stücke allerdings nebeneinandergelegt wurden, war allen klar, dass dieses Segel nicht in einem Stück transportiert werden konnte. So kam man überein, das Segel in zehn Stücken auf die Pferde aufzuteilen und erst an der Küste zu einem vollständigen Segel zusammenzunähen.
Es wurde beschlossen, die gefährliche Reise bei Anbruch des Frühlings zu wagen.
Als die Tage länger wurden und die Schneedecke sich immer weiter zurückzog, war das Lagerhaus gefüllt und die Reise stand kurz bevor.
Bent hatte fast den gesamten Winter in seinem Zimmer verbracht, gegrübelt, Entwürfe erstellt und wieder verworfen, Modelle gebaut und immer wieder Berechnungen angestellt.
Gegen Ende des Winters hatte er ein Modell entworfen, das sowohl die Menschen, als auch die Pferde aufnehmen konnte und seiner Meinung nach auch die Überfahrt überstehen würde. Voraussetzung war, dass man genug entsprechend dicke und große Bäume an der Küste fand. Wulf nickte anerkennend, als er das Modell sah. Es ähnelte einem Katamaran aus früheren Zeiten.
Am Abend vor der Reise wurde ein Abschiedsfest veranstaltet. Dabei herrschte eine seltsame Stimmung.
Einerseits wuchs mit der Abreise Lysans die Hoffnung, dass die Herrschaft der Dunklen bald ein Ende nehmen würde, andererseits wussten alle um die Gefahren, die außerhalb des Tales lauerten. Es würde eine lange und gefährliche Reise werden und niemand konnte sicher sein, dass alle sie überleben würden.