Entwicklung
John kehrte am nächsten Tag zurück. Er berichtete noch einmal, dass die Dorfbewohner in Angst und Schrecken lebten, seit die Grauen angekündigt hatten, die Durchsuchungen der Häuser wiederholen zu wollen.
Lysan übte intensiv ihre neuen Fähigkeiten.
Allerdings war sie sehr enttäuscht, als sich bei Wu auch eine besondere Fähigkeit herausbildete. Er war in der Lage, jedes Wesen, nach dem er suchte, mit seinen Sinnen aufzuspüren. Fortan konnte sich Lysan nicht mehr vor ihm verstecken.
Auch das Schweben machte Fortschritte. Bereits nach einer Woche war sie in der Lage, über eines der Häuser zu schweben, nach einem Monat gelang es ihr, die Siedlung zu überfliegen, ohne auch nur ein einziges Mal den Boden zu berühren.
Langsam neigte sich das Jahr dem Ende zu und es wurde kälter. An den immer länger werdenden Abenden saß Wulf mit den Kindern am Kamin und lehrte sie Lesen, Schreiben und Rechnen. Er erzählte ihnen Geschichten aus der Zeit vor der Verwandlung und die Kinder staunten nicht schlecht, als er ihnen von Autos, Flugzeugen und Computern berichtete.
„Onkel Wulf", fragte der kleine Wulf. „Warum funktionieren diese Dinge denn nicht mehr?"
„Nun, kurz vor der Verwandlung hatten die Menschen eine Wolke bemerkt, die tief aus dem Weltall kam. Ich vermute, dass sich diese Wolke um die Erde gelegt hat und all diese Veränderungen bewirkte. Früher gab es Elektrizität. Es gab Maschinen. Nach der Veränderung konnte man sie einfach nicht mehr zum Funktionieren bringen. Und wenige Tage später entstanden viele Todeszonen. Wisst Ihr, um die Maschinen bedienen zu können, brauchte man eine Kraft. Sie nennt sich Elektrizität. Diese Elektrizität wurde, unter anderem, in so genannten Kernkraftwerken produziert. Da hinein kamen Stäbe aus einem gefährlichen Material. Um es unter Kontrolle zu halten, musste es ständig überwacht und gekühlt werden. Als keine Maschinen mehr funktionierten, konnten die Stäbe auch nicht mehr gekühlt werden und es kam zu schrecklichen Katastrophen. Am Tag der Veränderungen verwandelten sich einige Menschen in Weiße, andere in Graue und einige in Dendraks. Einige dieser Weißen und Grauen befanden sich zum Glück in der Nähe eines Kraftwerks und konnten so, je nach ihren Fähigkeiten, entweder das gefährliche Material in etwas Ungefährliches umwandeln, oder einen Schutzwall um die Kraftwerke legen, damit die Katastrophe auf einen kleinen Raum begrenzt wurde. Aber das war nicht bei allen Kraftwerken der Fall. Einige verseuchten die Gegend in einem Umkreis von mehreren hundert Kilometern. Aus diesem Grunde gibt es auch sehr viel weniger Menschen als vor der Verwandlung. Viele sind an den Folgen dieser Katastrophe gestorben. Und nun wieder zu den Weißen, Grauen und Dendraks. Es gibt seit der Zeit der Verwandlung eine Legende. Sie besagt, dass eines Tages ein Mädchen geboren wird. Eine Weiße mit unglaublichen Kräften. Sie wird dafür Sorgen, dass die Wolke sich wieder von der Erde löst und dann wird es keine Magie mehr auf der Erde geben. Keine Weißen, keine Grauen und auch keine Dendraks. Und man wird wieder funktionierende Maschinen bauen können."
Die beiden Kinder hatten ihm fast andächtig zugehört.
„Onkel Wulf, dieses Mädchen … Ich habe gehört, dass die Leute hier Ly für eine Auserwählte halten. Ist sie die, die dafür sorgt, dass die Magie verschwindet?" Wu blickte Wulf fragend an.
„Ja, wir vermuten es. Ly, du hast wirklich außergewöhnlich starke Kräfte. Du hast zwei Fähigkeiten, die ich noch nie bei anderen Magiern gesehen habe ..."
Lysan fiel ihm ins Wort. „Onkel Wulf. Ich kann nicht nur fliegen und mich unsichtbar machen. Vorhin hab ich Tante Eda versucht zu helfen. Sie wollte Feuer im Kamin machen. Das hab ich gemacht. Ich hab aber keinen Feuerstein nehmen müssen. Ich wollte, dass das Holz im Kamin brennt und dann brannte es plötzlich. Na ja. Es brannte nicht nur im Kamin. Da ist doch dieses Fell vor dem Teppich. Das hat auch gebrannt. Ich hab Angst bekommen und mir gewünscht, dass Wasser da wäre, damit das Feuer gelöscht wird. Auf einmal war das Fell nass und das Feuer aus. Da ist jetzt aber ein Loch im Fell. Tut mir leid. Bist du jetzt böse auf mich?", sprudelte es aus ihr heraus.
Lysan sah Wulf mit diesem treuen Blick an, von dem sie wusste, dass sie damit bei Wulf alles erreichen konnte.
„Natürlich bin ich nicht böse auf dich. Wenn du aber noch einmal feststellst, dass du eine Fähigkeit hast, die du vorher nicht hattest, dann sag mir oder einem der anderen Erwachsenen Bescheid, bevor du sie ausprobierst. Versprochen?"
„Versprochen", sagte Ly erleichtert.
Eda kam mit zwei Bechern heißer Milch herein und reichte sie den Kindern.
„Hast du wieder von der Vergangenheit und all den Wundern erzählt, die es früher gab?", fragte sie Wulf. „Die Kinder haben ja vor Aufregung ganz rote Wangen. Sie werden heute Nacht bestimmt davon träumen."
„Ja", meinte der kleine Wulf begeistert. „Ich werde von schnellen Autos träumen und davon, mit einem Flugzeug zu fliegen. Und in meinen Träumen werd ich viel höher und schneller fliegen können, als Ly."
Eda rollte die Augen.
„Siehst du, was du mit deinen Geschichten angerichtet hast? Der Junge wird vor Aufregung kein Auge zumachen. Und wie ich Ly kenne, wird sie auch nicht schlafen können. Sie werden beide die ganze Nacht in ihren Betten sitzen und sich erzählen, was sie alles gemacht hätten, wenn es die Verwandlung nicht gegeben hätte."
„Die Kinder sollen ruhig von der Vergangenheit der Menschen erfahren. Und eine Nacht, in der man mit einem Freund in der Dunkelheit sitzt und sich Geschichten erzählt, hat noch niemandem geschadet. So, Ihr Racker. Trinkt eure Milch und dann ab ins Bett. Eda bringst du die beiden auf ihr Zimmer? Ich muss noch einmal zu Tana."
„Sicher. Das ist kein Problem. Nehmt eure Becher mit und dann ab nach nebenan."
Wulf warf sich seinen langen Umhang über und ging zum Versammlungshaus. Tana erwartete ihn.
„Ich habe gespürt, dass du mich heute noch aufsuchen willst. Was ist geschehen?", begann sie.
„Lysan hat zwei weitere Fähigkeiten. Sie ist nun in der Lage, Feuer und Wasser zu erschaffen. Ihre Kräfte werden immer umfangreicher. Wir sollten ihre Unterrichtsstunden ausdehnen, damit sie jede ihrer Fähigkeiten trainieren kann."
„Das sehe ich genauso. Morgen früh werde ich mich mit dem Rat zusammensetzen und wir werden besprechen, wer für diese Aufgaben am Besten geeignet ist. Sie entwickelt sich schneller, als ich in meinen kühnsten Träumen gehofft habe. Wir sehen uns morgen früh dann hier. Bring Lysan mit."
Wulf verabschiedete sich und ging zurück zu seinem Haus.
Eda kam gerade aus den Schlafräumen zurück, als er das Haus betrat.
„Ich hab dir ja gesagt, dass sie nicht schlafen werden. Sie sitzen in ihren Betten und erzählen sich Geschichten."
„Lass sie doch. Ich bin so froh, dass sie alles so einfach verkraften. Sie haben in ihrem jungen Leben schon so viel mitgemacht. Und du musst dir keine Sorgen machen. Sie werden gleich schlafen. Es ist ein anstrengender und aufregender Tag gewesen."
Als Wulf nach einer Stunde sein Zimmer aufsuchte, hörte er nur noch leises Schnarchen aus dem Raum der beiden Kinder.
In den nächsten Tagen begann der Einzelunterricht. Tagsüber lernten die Kinder ihre Fähigkeiten immer besser zu nutzen, abends lernten sie weiter Lesen, Schreiben und Rechnen und lauschten vor dem Schlafengehen den spannenden Geschichten, die Wulf erzählte.
Er wollte ihnen so viel beibringen, wie er nur konnte. Sie sollten wissen, wie es war, wenn keine Wolke um die Erde geschlungen war, die allen technischen Fortschritt unterdrückte. Sie lernten die alten Gedichte, die Wulf noch in Erinnerung waren und erfuhren von bedeutenden Männern und Frauen und was sie für die Menschheit geleistet hatten. Sie hörten aber auch von den großen Fehlern, die in der Geschichte gemacht wurden, damit die Lehren, die daraus gezogen werden mussten, nicht in Vergessenheit gerieten und diese Fehler sich nicht noch einmal wiederholten.
In diesem Rhythmus verging die Zeit und die Kinder wuchsen heran.
Lysan machte in kurzer Zeit große Fortschritte. Bereits nach einem Monat war sie in der Lage Feuer gezielt und in jeder beliebigen Größe, entstehen zu lassen. Das Heraufbeschwören von Wasser entpuppte sich als Segen in dem folgenden trockenen Sommer. Sie bewässerte mit Hilfe ihrer Magie sowohl die Getreide- und Gemüsefelder als auch die Obstgärten und sorgte für ausreichend Wasser für Mensch und Tier.
Als Lysan gerade vierzehn Jahre alt wurde, konnte sie den Wind beherrschen.
Über dem Tal zog sich ein fürchterliches Unwetter zusammen. Der erste Regen klatschte in dicken Tropfen hinunter und nach einer kurzen Zeit mischten sich schwere, dicke Hagelkörner darunter.
Lysan befand sich mit Wu auf den Feldern und sie lasen sich selbst geschriebene Geschichten vor, als der Regen einsetzte.
Beide liefen schnell in Richtung der Siedlung. Aber sie waren nicht schnell genug. Die ersten dicken Hagelkörner knallten vom Himmel hinunter. Wu wurde getroffen und schrie vor Schmerz auf. Lysan lief zu ihm. Wütend über die Naturgewalten blickte sie zum Himmel. Sie konzentrierte sich. Sie wollte, dass die Wolken verschwanden. Sie wollte es mit aller Kraft.
Ein Wind kam auf. Hier unten im Tal war er nicht so sehr zu spüren, aber, wenn man hinaufblickte zu den dunklen, schweren Wolken, sah man sie in einer unglaublichen Geschwindigkeit nach allen Seiten aufreißen. Der Regen ließ nach und die Hagelattacken verschwanden. Über dem Tal war nur noch blauer Himmel zu sehen.
Lysan wandte sich zu ihrem Freund, der mit schmerzverzerrtem Gesicht vor ihr lag. Ein Hagelkorn hatte eine blutende Wunde auf seiner Stirn hinterlassen.
„Tut es sehr weh?", fragte sie. „Wir müssen sofort zu Eda. Sie muss die Blutung stillen."
„Eda ist doch heute mit John ins Dorf gefahren, um Fische zu verkaufen und Informationen über die Grauen einzuholen. Sie kommt erst heute Abend wieder zurück", antwortete Wu.
„So lange kannst du aber nicht warten. Es blutet fürchterlich."
Lysan überlegte. Sie hatte schon so viele Dinge einfach gekonnt, wenn sie sich nur fest darauf konzentrierte. Warum sollte es mit dem Heilen anders sein.
„Ich werde versuchen, es selbst zu machen. Vertraust du mir?"
Wu blickte sie skeptisch an, nickte dann aber.
Lysan legte, wie sie es bei Eda gesehen hatte, eine Hand auf die blutende Stirn und konzentrierte sich. Sie wollte ganz fest, dass die Wunde sich wieder schloss. Sie konzentrierte sich auf den blutenden Riss.
Und plötzlich war es ganz einfach. Es war, als könne sie mit den Zellen sprechen. Sie sah sie ganz deutlich vor sich. Schicht um Schicht befahl sie den Zellen, sich wieder zusammenzufügen. Schicht um Schicht wurde die Wunde kleiner. Nachdem sich die äußerste Hautschicht auch geschlossen hatte, entspannte sie sich, betrachtete ihr Werk und meinte lächelnd zu Wu: „Fertig. Dein Kopf sieht hübscher aus als vorher."
Wu knuffte sie kameradschaftlich in die Seite.
„Danke. Lass uns zurück. Tana will doch immer sofort wissen, wenn du etwas Neues kannst."
Die Kinder liefen zum langen Versammlungshaus.
„Tana! Tana! Ly kann heilen und sie kann Wolken wegpusten. Hat sie grade gemacht."
„Langsam, Kinder. Was ist genau geschehen?"
Und die Kinder berichteten aufgeregt, was geschehen war.
Tara sah sich Wus Stirn an. Es war nicht einmal eine Narbe zurückgeblieben, lediglich ein wenig Blut war auf der Stirn verschmiert.
„Das hast du gut gemacht, Lysan. Wenn Eda nachher zurück ist, werde ich mich mit ihr absprechen. Sie kann dir einige Tricks und Kniffe zeigen, wie man noch besser heilt. Schön, dass ihr so schnell Bescheid gegeben habt. Wenn euch noch etwas auffällt, kommt einfach zu mir. Egal, um welche Tageszeit. So. Jetzt geht wieder spielen."
Tana blickte den Kindern nach, bis sie auf den Getreidefeldern verschwunden waren. Lysan entwickelte sich schneller, als sie es für möglich gehalten hatte. Sie sollte eine Versammlung des Rates einberufen. Es musste entschieden werden, wie sie weiter vorgehen wollten.