Attentat
Die Wächter diskutierten lautstark über das Foul und vernachlässigten ihre Pflichten. Der Mann schob sich weiter auf Lysan zu und stand nur noch wenige Schritte von ihr entfernt. Wulf wartete ab. Er wollte nicht vorzeitig reagieren. Es konnte immer noch eine harmlose Erklärung für das merkwürdige Verhalten geben. Aus den Augenwinkeln beobachtete er, wie der Abstand zwischen Lysan und dem Mann kleiner wurde.
Auf dem Spielfeld legte sich ein kräftig gebauter Feldspieler der Ryders den Ball auf dem Elfmeterpunkt zurecht und ging einige Schritte rückwärts, um genug Anlauf zu haben. Der gegnerische Torhüter stand konzentriert und leicht gebückt zwischen den Torpfosten.
Vollkommene Stille trat ein. Alle Anwesenden starrten gespannt auf den Spieler der Ryders.
Nur der kleine Mann hatte keinen Blick für den Elfmeterschuss. Sein ganzes Interesse galt Lysan. Auch Wulf ließ sich nicht mehr vom Spiel gefangen nehmen. Aufmerksam beobachtete er jede noch so kleine Bewegung des Mannes, der mittlerweile Lysans Wächter hinter sich gelassen hatte.
Der Spieler lief mit langsamen, gleichmäßigen Schritten an. Der Torhüter ließ ihn nicht aus den Augen. Mit ungeheurer Kraft traf der linke Fuß des Spielers den Ball. Die Zuschauer hielten die Luft an. Der Ball löste sich vom gepflegten Rasen, schoss in die Höhe in Richtung des linken Torpfostens. Bis zum letzten Augenblick wartete der Torhüter, ahnte den Weg, den der Ball nehmen würde, schnellte zur linken Seite und lenkte den Ball über die Torauslinie.
Der Jubel der einen und die Entsetzensschreie der anderen Fans waren unbeschreiblich. Jubelnd reckten die Leibwächter ihre Hände in die Höhe, die offensichtlich Fans der Ryders waren.
Auf solch eine Gelegenheit hatte der kleine Mann gewartet. Er sprang die letzten drei Schritte auf Lysan zu, zog seine rechte Hand aus der Hosentasche, in der er ein langes scharfes Messer hielt und stürzte sich auf sein Opfer.
Augenblicke später sank er ohnmächtig zu Boden.
Wulf massierte sich seine rechte Faust, die er dem Attentäter mit all seiner Kraft gegen das Kinn gerammt hatte.
Nun hatten auch die Umstehenden bemerkt, was geschehen war. Schnell sperrten einige Leibwächter einen weiten Kreis um den am Boden Liegenden ab, andere scharten sich in einem dichten Kreis um Lysan und bildeten so eine lebende Mauer zu ihrem Schutz.
„Wegbringen!", rief Arton und zeigte auf den Ohnmächtigen. Zwei Wächter hoben ihn auf und trugen ihn in Richtung Siedlung.
„Das, hätte nicht passieren dürfen", entschuldigte sich Arton. „Er hätte gar nicht so nah an die Auserwählte herankommen dürfen. Gut, dass du so schnell reagiert hast. Für mich ist das Spiel vorbei. Ich werde ihn verhören. Wollt ihr noch hier bleiben oder kommt ihr auch mit zurück?"
Auch den anderen Reisenden war die Lust an dem Spiel vergangen. Sie folgten Arton wortlos zu einem flachen, weißgetünchten Gebäude. In großen, schwarzen Lettern war „Police“ über die Tür gemalt worden.
Wulf folgte Arton ins Haus, während die übrigen und Lysans Leibwächter davor warten wollten.
Drinnen begrüßte sie eine kleine, zierliche Frau mit feuerroten Haaren.
„Sie haben ihn nach hinten gebracht. Soll ich helfen oder kommt ihr alleine zurecht?", fragte sie.
„Komm lieber mit. Ich habe keine Lust, mir irgendwelche Lügen oder Ausflüchte anzuhören." Arton war sichtlich verärgert, dass der Attentäter so nah an Lysan herangekommen war. Und zu Wulf gewandt: „Peg kann jeden Menschen dazu bringen, die Wahrheit zu sagen und sich selbst an Dinge zu erinnern, die sie schon lange vergessen glaubten."
Gemeinsam gingen sie in einen Raum im hinteren Bereich der Polizeistation. Der Gefangene saß, noch immer ohnmächtig und von Hanfseilen aufrecht gehalten, auf einem roh gezimmerten Holzstuhl in der Mitte des Raumes.
„Weck ihn auf!" presste Arton heraus, begierig Informationen von der britischen Insel zu erfahren.
Ein Weißer, der sich im Hintergrund gehalten hatte, trat hervor und legte seine Hände auf den Kopf des Gefangenen. Sekunden später öffnete dieser die Augen, erfasste die Situation und sackte resigniert im Stuhl zusammen. Peg würde leichtes Spiel haben. Ohne weitere Aufforderung trat sie an den Gefangenen heran und blickte ihm tief in die Augen. Augenblicklich entspannte er sich.
„Berichte uns von den Grauen. Wie haben sie dich dazu gebracht, das Attentat verüben zu wollen", begann Arton das Verhör.
„Sie kamen vor vier Tagen in unser Haus und haben meine Familie und mich in ihre Burg mitgenommen. Dann gaben sie mir den Auftrag eine junge Frau zu töten. Wenn ich es nicht täte, würden sie meine Familie umbringen. Sie sagten, dass ich die Frau daran erkenne, dass sie besonders stark bewacht würde."
„Du warst in der Burg der Grauen. Hast du Informationen darüber, wie sie die Küste gesichert haben?"
„Als sie mich in die große Halle brachten, habe ich gehört, dass die gesamte Südküste überwacht werden soll. Nachts lauern dort Dendraks, tagsüber werden Bauern aus der Gegend dazu gepresst, Wache zu gehen. Sie sollen auf ein Schiff achten, das vom Festland herüber segelt."
„Hast du sonst noch etwas bei den Grauen erfahren?" Arton hatte sich auf einem großen Blatt Notizen gemacht.
„Als ich fast an der großen Tür der Halle war, habe ich gehört, wie sich zwei Graue unterhalten haben. Der Burgmeister meinte, dass einer der beiden Menschen schon Glück haben und den Auftrag erfüllen würde. Selbst, wenn es bei dem zweiten etwas dauere. Mehr wurde nicht gesagt."
Arton nickte Peg zu und sie wandte ihren Blick vom Gefangenen ab. Benommen schüttelte der kleine Mann den Kopf. Dann wurde ihm bewusst, was er verraten hatte. Seine Augen weiteten sich von Panik. „Bitte! Meine Familie! Sie werden sie umbringen!", rief er stockend.
„Wir werden uns um deine Familie kümmern. Keine Sorge. Man wird dich nun in eine Zelle bringen." Arton wandte sich zum Gehen, Wulf und Peg folgten ihm.
„Es gibt also noch einen Attentäter", seufzte Arton, als sie im vorderen Raum der Polizeistation angekommen waren. „Das war auch zu einfach."
Vor dem Haus wurden sie von den Freunden erwartet, die sie neugierig ansahen. Wulf berichtete, was er soeben erfahren hatte.
„Noch ein Attentäter." Wu legte seinen Arm beschützend um Lysan. „Du bleibst immer dicht bei mir. Keine Sorge. Wer dir etwas antun will, muss erst an mir vorbei."
Wulf lachte. „Ja, Wu, unser Held."
Auch Lysan musste lächeln. Aber in diesem Lächeln verbarg sich mehr als nur reine Amüsiertheit. Wulf hatte offenbar Recht. Zwischen Wu und Lysan schienen sich tiefere Gefühle zu entwickeln.
Das Fußballspiel war dem Anschein nach zu Ende, denn eine Horde laut grölender und rot-weiße Fähnchen schwenkender Menschen strömte aus Richtung des Fußballfeldes auf den Ort zu. Offensichtlich hatte die Mannschaft ihres Gastgebers sowohl das Spiel als auch die Meisterschaft für sich entscheiden können, denn einer der Spieler trug einen großen, goldenen Pokal in seinen hoch erhobenen Händen.
Sofort bildeten die Wachen eine Mauer um Lysan, um sie vor einem etwaigen Attentäter zu schützen.
„Ihr müsst mich nicht immer wie ein kleines Kind behandeln. Ich denke, dass ich sehr gut auf mich selbst aufpassen kann. Außerdem gibt es hier keine Grauen. Ich finde, ihr übertreibt", meinte Lysan mürrisch und versuchte, sich etwas Bewegungsfreiheit zu verschaffen.
„Bitte beruhige dich. Uns geht es alleine um deine Sicherheit. Natürlich bist du nicht hilflos. Aber wir wollen kein Risiko eingehen", versuchte Wulf sie zu beruhigen.
„Ach, ist doch wahr. Immer ist jemand in meiner Nähe. Niemals kann ich mal alleine für mich sein."
„Bald ist ja alles vorbei und du kannst ein ganz normales Leben führen. Komm her." Wulf nahm sie tröstend in seine Arme und flüsterte: „Bald ist alles vorbei."
„Kommt mit auf den Festplatz. Wir haben heute einiges zu feiern. Eure Ankunft, das vereitelte Attentat und ", Arton lächelte jetzt „nicht zuletzt den Gewinn des Pokals. Folgt mir." Er reihte sich in die Menschenmenge ein, die sich in Richtung Hafen schob. Die Übrigen folgten ihnen, wobei Lysan von einem undurchdringlichen Kokon von Leibwächtern umgeben war.
Kurz vor den letzten Häusern der Siedlung bog die Menschenmenge nach links ab. Nach weniger als fünfhundert Metern erreichte sie einen großen Festplatz, in dessen Mitte bereits mehrere Ochsen am Spieß gedreht wurden und ein köstliches Aroma verbreiteten. In weitem Kreis waren lange Holztische und –bänke aufgestellt, an denen sich die Feiernden rasch niederließen. Arton führte seine Gruppe zu einem freien Tisch, an dem auch die siegreiche Mannschaft und die Schiedsrichter Platz nahmen. Der große, goldene Pokal wurde in der Mitte des Tisches platziert.
Mehrere Hunde liefen frei umher und Lysan hatte ihren Spaß, ihnen beim Herumtollen zuzusehen. Ein großer, spindeldürrer Kellner, bei dessen Anblick Wulf befürchtete, dass er jeden Augenblick in der Mitte zusammenklappen würde, servierte die Getränke. Wulf unterhielt sich mit seinem Nachbarn, der sich als Gate vorstellte und der Hauptschiedsrichter des Spiels und im Hauptberuf oberster Lordrichter der Insel war, angeregt über die Partie. Derweil spielte Lysan mit einem zutraulichen kleinen Terrier, der sie offensichtlich in sein Herz geschlossen hatte. Immer wieder sprang der kleine weiße Wirbelwind zu ihr, leckte ihre Hand, ließ sich hinter den Ohren kraulen und über den Rücken streicheln.
„Ah. Da kommt das Essen", bemerkte Arton nach einer Weile und zum Kellner gewandt: „Zuerst unsere Ehrengäste."
Der Kellner stellte einen Teller mit mehreren Scheiben Fleisch vor Lysan. Den großen Korb Brot, den er in der anderen Hand hielt, stellte er in die Mitte des Tisches, damit sich alle bedienen konnten. Dann beeilte er sich, das Essen für die Übrigen zu holen.
Lysan wollte höflich mit dem Essen warten, bis alle am Tisch versorgt waren, und spielte weiter mit dem kleinen Terrier. Der Kleine war allerliebst. Er lief hinter dem Stöckchen her, das Lysan auf die Wiese hinter dem Festplatz, warf und brachte es zurück, sprang aufgeregt hoch, als Lysan das Stöckchen hoch in der Luft hielt und dann plötzlich setzte er sich vor sie und blickte sie mit großen, bettelnden Augen an, den Kopf schräg zur Seite geneigt.
Lysan lachte. „Du kleiner Bettler. Du weißt genau, wie du mich rumkriegen kannst." Sie schnitt ein Stück ihres Bratens ab und warf es einige Meter weit weg, wobei sie darauf achtete, dass es nicht bemerkt wurde. Sie wollte ihre Gastgeber nicht verärgern und wusste nicht, wie sie das Füttern des Hundes mit dem Festtagsbraten aufnehmen würden.
Augenblicklich sprang der Terrier auf und rannte, aufgeregt mit dem Schwanz wedelnd, auf das Bratenstück zu. Mit einem einzigen Happs war es verschwunden. Er lief zu Lysan zurück und blickte sie erwartungsvoll an.
„Nichts da, du Vielfraß. Den Rest möchte ich selbst essen", lachte Ly.
Mittlerweile hatten alle ihr Essen bekommen und Arton erhob sich, um eine Ansprache zu halten.
Der Hund neben Lysan winselte leise.
„Bist du wohl still!", flüsterte Ly. Doch der kleine Terrier winselte immer lauter. Arton hatte mit seiner Rede begonnen, von der Lysan, außer ihrem Namen, nichts verstand.
Der kleine Hund war jetzt ruhig. Lysan beugte sich zu ihm, um ihn zu loben und schrie entsetzt auf. Das Tier lag zitternd und sich in Krämpfen windend auf dem Boden. Aus seinem Maul quoll Schaum und Speichel tropfte auf den Rasen.
Von ihrem Schrei alarmiert, unterbracht Arton seine Rede und sah irritiert zu ihr herüber. Wulf, der neben Lysan Platz genommen hatte, erfasste die Situation als Erster.
„Nichts essen!", schrie er. „Das Essen ist vergiftet!"
Er schlug Bent das Stück Braten aus der Hand, das dieser sich gerade in den Mund schieben wollte.
Zunächst war es totenstill. Niemand bewegte sich.
„Alles abriegeln!" Arton hatte sich gefasst. „Niemand verlässt seinen Platz!" Hinter Lysan bauten sich auf Artons Geheiß die Leibwächter auf. Ly stand unter Schock. Zwei Mal innerhalb weniger Stunden hatte man versucht, sie umzubringen und nun schreckte der Attentäter noch nicht einmal vor einem Massenmord zurück.
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf, als von der Mitte des Festplatzes, dort wo die drei Feuer brannten, über denen die Ochsen geröstet wurden, Schreie zu ihr herüber drangen.
Ein Hüne von einem Mann, bekleidet mit weiten, blauen Gewändern, wie sie ein Fischer trägt, stolperte in ihre Richtung. Schaum trat aus seinem Mund hervor und seine blutunterlaufenen Augen stierten sie an. In seiner zitternden, hoch erhobenen Hand hielt er ein langes, scharfes Messer, mit dem er vorher noch Fleischstücke aus den gerösteten Tieren geschnitten hatte. Fett tropfte vom Messer auf sein fleckiges Hemd, als er, mühsam einen Schritt vor den anderen setzend, immer näher kam.
Niemand rührte sich. Alle starrten vor Entsetzen auf das grausige Bild, das sich ihnen bot. Immer weiter stolperte der von Schmerzen geschüttelte Mann auf den Tisch der Ehrengäste zu. Und dann reagierten Lysans Leibwächter. Gleichzeitig feuerten sie vier Feuerkugeln auf den Attentäter. Innerhalb eines Sekundenbruchteils verwandelte er sich in ein kleines Häufchen Asche, die der Wind, der von der See stetig heranwehte, sofort davontrug.
Bent hielt die Gabel, auf der das Fleischstück gesteckt hatte, immer noch ungläubig in seiner zitternden Hand. Langsam lies er sie auf seinen Teller sinken, seinen Blick weiterhin auf die Stelle gerichtet, an der der Mann vor wenigen Augenblicken noch gestanden hatte.
„Also kein Braten. Na ja, Eda hat sowieso gesagt, dass zuviel Fleisch nicht besonders gesund ist. Aber … Ob sie das hier gemeint hat?“, versuchte er zu scherzen. Jedoch war niemand in der Stimmung, zu lachen.
Wulf sah, dass die ersten Inselbewohner sich aufmachten, zu ihren Häusern zurückzukehren. Die Feier hatte ein abruptes Ende gefunden. Lysan wurde, von einem Pulk Leibwächter umringt, zu ihrem Quartier gebracht. Die übrigen Mitglieder der Gruppe folgten schweigend.
„Du bleibst so lange im Haus, bis wir dich zur Inselmitte bringen. Ich denke nicht, dass dir noch weiter Gefahr droht, aber wir wollen nichts riskieren.“
Arton führte sie in einen gemütlichen Aufenthaltsraum, der mit kleinen Tischen und Stühlen ausgestattet war. Jeder Tisch war mit einem karierten Deckchen und kunstvoll hergestellten Vasen mit bunten Blumen darin dekoriert. Ein gemauerter Kamin in der rechten Ecke des Raumes verbreitete eine behagliche Wärme. Wenn die beiden Attentatsversuche nicht gewesen wären, hätte sich Lysan hier sehr wohl fühlen können. Mit einem Seufzen setzte sie sich auf den Stuhl, den Wu ihr zurecht geschoben hatte. Die übrigen Gefährten setzten sich ebenfalls. Der Schock über die beiden Mordversuche war in ihren Gesichtern abzulesen.
Arton nahm Wulf zur Seite. „Ich habe Anweisung gegeben, dass eure Pferde gesattelt werden. Kurz vor Sonnenuntergang können wir uns auf den Weg machen. Ich selbst werde euch begleiten, genauso wie fünf unserer besten Magier.“
Zwei Frauen betraten den Raum und stellten große Teller mit belegten Broten auf die Tische.
Niemand rührte das Essen an.