Angriff und Flucht

Zwölf Jahre waren seit Lysans Geburt vergangen. Bent und Ellen waren mittlerweile ein Paar und Bent kümmerte sich um den kleinen Wulf, als wäre es sein eigener Sohn.

Es war ein traumhafter Sommertag. Wulf hatte vor, mit Bent, Lysan und dem mittlerweile gar nicht mehr so kleinen Wulf eine Klettertour in die Berge zu unternehmen. Der magische Schutzschirm reichte bis zu den Gipfeln der hohen Mauerwände und ihnen würde keinerlei Gefahr vor Grauen oder Dendraks drohen. Auch wilde Tiere wurden von der Barriere abgehalten. Wulf versprach den beiden Müttern, gut auf die Kinder zu achten. In den frühen Morgenstunden brachen sie, ausgestattet mit einem großen Verpflegungspaket, das die besorgten Mütter zusammengestellt hatten, zu ihrem Ausflug auf. Sie wollten am späten Nachmittag zurück sein, um mit den anderen Talbewohnern das Mittsommernachtsfest vorzubereiten. Zügig schritten sie aus und waren schon nach kurzer Zeit von der Ansiedlung aus nicht mehr zu sehen.

„Wu, lauf nicht so weit vor!“ Bent war fast heiser vom dauernden Rufen. Der kleine Wulf, genannt Wu, hatte einfach zu viel Kraft und tobte sie nun aus. Es war ein herrlicher Tag. Der Blick über das Tal war von dem Bergvorsprung, den Wulf für ihr Picknick ausgewählt hatte, einfach phantastisch.

Lysan und Wu spielten übermütig mit einer Herde Bergziegen, die hier oben, ein unbeschwertes Leben führten und sehr zutraulich waren.

„Ly, komm mal her, schau dir das an", rief der kleine Wulf plötzlich und sah irritiert ins Tal hinunter. „Die haben schon mit den Feuern von der Mittsommernachtsfeier angefangen. Das ist gemein. Onkel Wulf. Lass uns schnell wieder zurückgehen. Ich will da mitmachen."

Wulf schrak zusammen. Es waren zwar Feuer bei der Feier geplant, aber erst, wenn die Sonne unterginge. Und bis dahin waren es noch mehrere Stunden.

„Bleibt hier! Da stimmt etwas nicht. Verhaltet euch ruhig!" Sein barscher Tonfall lies sie erstarren. Noch nie hatten sie ihn in einer solchen Stimmung gesehen.

Wulf streckte seine feinen Sinne nach unten ins Tal aus. Das Entsetzen über das, was er erfuhr, spiegelte sich in seinem Gesicht.

Nimm die Kinder und flieh!, hörte er die sehr schwachen Gedanken Eleia´s. Die Grauen haben uns aufgespürt. Sie töten alle Weißen. Flieht! Eda ist entkommen. Sie ist auf dem Weg zu euch. Sucht die Enklave auf der anderen Seite der Berge. Ich habe Mario informiert, dass Ihr kommt. Er wird euch entgegenkommen und euch den Weg weisen. Flieht!

Dann brach die geistige Verbindung ab. Eleia war tot.

Wulf konnte im Tal immer weniger Lebenszeichen seiner Freunde erspüren. Dann nur noch die Anwesenheit der Grauen.

Er fuhr herum, als er hörte, wie jemand eilig aus dem Tal zu ihnen herauf lief. Eine kurze Überprüfung der Präsenz lies ihn aber ruhiger werden. Es war Eda, schluchzend fiel sie ihm in die Arme.

„Sie kamen, kurz nachdem ihr aufgebrochen seid. Die Grauen haben einen neuen, starken Magier. Er ließ sich von der Barriere nicht täuschen. Damals, bei eurer Ankunft, hatten die Dendraks wohl die ungefähre Gegend herausgefunden, in der unser Eingang liegt. Der Graue fand den Zugang und brach die Banne, die darauf lagen. Es war schrecklich. Über zweihundert Graue stürmten durch den Tunnel. Wir waren zu überrascht, um sie aufzuhalten. Sie sind tot. Alle tot. Die Grauen zerstören bei ihrer Suche nach Lysan alle Gebäude. Auch unsere Bibliothek. Das Wissen der Vorfahren … Alles ist verbrannt." Die Tränen flossen wie ein unhaltbarer Strom ihre Wangen herunter.

Wulf zuckte zusammen, als er aus dem Tal eine Explosion der Wut zu sich aufsteigen spürte. Die Grauen hatten alle Toten überprüft und festgestellt, dass Lysan nicht unter ihnen war. Sie hatten zwar den größten Teil ihrer Beschützer vernichtet, aber sie selbst war entkommen. Die Grauen schwärmten aus, um sie zu suchen.

„Wir müssen uns beeilen. Sie werden uns hier bald gefunden haben." Wulf und Bent packten schnell die Überreste des Picknicks zusammen. Viel Nahrung war es nicht, die übrig geblieben war und sie würden für ihre Flucht alles benötigen, was sie tragen konnten.

„Onkel Wulf, was ist da unten passiert? Ich … Ich spüre Mama nicht mehr." Lysan wollte zurück ins Tal laufen, konnte aber von Bent zurückgehalten werden.

„Ihr müsst jetzt ganz stark sein, hört Ihr? Die Grauen haben die Siedlungen überfallen und alle getötet. Wir müssen schnellstens hier weg, bevor sie auch uns auch kriegen."

„Mama ist tot? Aber … Da unten waren doch so viele starke Weiße. Wie konnte das nur geschehen?" Lysan sah ihn mit vor Entsetzen aufgerissenen Augen an.

„Sie haben die Barriere eingerissen und uns überfallen. Jetzt kommt, schnell. Wir müssen über das Gebirge. Auf der anderen Seite gibt eine andere Zufluchtsstätte. Dort werden wir vorerst sicher sein."

Sie mussten den kleinen Wulf mehr ziehen, als dass er selber ging. Er wollte unbedingt zurück, um den Tod seiner Mutter und der vielen Freunde zu rächen.

 

Stunde um Stunde kletterten sie den Berg hinauf. Und es wurde zunehmend kälter. Sie selbst hatten ja einigermaßen passende Kleidung an, da sie auf einer Klettertour waren. Eda allerdings musste immer wieder gestützt werden, da sie nur einfaches Schuhwerk trug und ständig in Gefahr geriet, abzustürzen.

Die Nacht brach herein und es war nicht mehr möglich, weiter zu klettern. Unter ihnen sahen sie die Lagerfeuer der Verfolger. Sie getrauten sich nicht, selbst ein Feuer anzufachen, um ihren Standort nicht zu verraten.

Wulf hätte sie zwar mit einem magischen Schutz gegen die Kälte umgeben können, aber er wusste nicht, ob der starke Graue die Magie möglicherweise spüren konnte. So rückten sie eng zusammen, um sich gegenseitig vor der Kälte der Nacht zu schützen.

Bei der ersten Andeutung der Morgendämmerung rüsteten sie sich zum Aufbruch. Vorsichtig und so leise wie möglich kletterten sie dem Gipfel entgegen. Die Sonne wurde gerade über dem Bergkamm im Osten sichtbar, als sie die hier noch immer intakte magische Barriere erreichten. Von dieser Seite des Tales war sie einfach zu durchdringen. Ins Tal hinein kam man aber nur, wenn man über ein magisches Passwort verfügte.

Sie überwanden die Barrieren. Wulf hielt an und überlegte kurz. Dann kehrte er die Barriere und den Schutz um. Das würde ihre Verfolger zwar nicht stoppen, sie aber eine gewisse Zeit aufhalten. Sie brauchten jeden nur erdenklichen Vorsprung.

Zwischen den schroffen Felsvorsprüngen machten sie sich an den Abstieg ins nächstgelegene Tal. Es gestaltete sich noch schwieriger, als der Aufstieg, auch weil die Kinder sehr bedrückt waren. Sie hatten die Heimat verloren, ihre Familien und ihre Freunde.

Wulf suchte den zurückgelegten Weg immer wieder nach Anzeichen für die Anwesenheit von Grauen ab. Bisher schienen sie aber die Barriere nicht überwunden zu haben.

Wulf. Hier ist Mario. Eleia hat mich über eure Situation informiert, bevor sie …, hörte Wulf plötzlich eine Stimme in seinen Gedanken. Mein Freund John kommt euch mit zehn meiner Leute entgegen. Steigt weiter so wie bisher ins Tal. Nehmt den Weg nach Süden. Wenn alles gut geht, werden sie am späten Nachmittag auf euch treffen.

Wulf berichtete die gute Nachricht seinen Gefährten. Von der Aussicht beflügelt, bald in Sicherheit zu sein, beschleunigten sie die Schritte und erreichten schnell die Talsohle.

Wie angewiesen wandten sie sich nach Süden. Hier unten kamen sie deutlich schneller voran. An einem kleinen Bach legten sie eine knappe Pause ein und aßen die letzten Vorräte. Eda stöhnte, als sie wieder aufstehen und ihre wunden Füße belasten musste. Sie hatte nicht genug Zeit gehabt, sich selbst zu heilen.

 

Wir sind in eurer Nähe. Nur noch ein paar Minuten!

Freudestrahlend beschleunigte Wulf seine Schritte und eilte den anderen voraus. Da standen sie vor ihm. Elf Weiße.

„Ist alles in Ordnung mit euch? Ist jemand verletzt? Eleia ist nicht mehr dazu gekommen uns zu sagen, wie vielen die Flucht gelungen ist. Habt Ihr die Auserwählte bei euch?", stürmte John auf ihn ein.

„Wir sind fünf Personen. Nur fünf von dreihundert haben es geschafft. Verletzt ist niemand, aber alle sind wir sehr müde. Eda hat Probleme beim Laufen, da sie nur Sandalen trägt. Und ja, die Auserwählte ist bei uns. Wir sollten uns beeilen, in den sicheren Unterschlupf zu gelangen. Ich habe zwar oben am Berggipfel eine Barriere errichtet, sie wird die Grauen aber bestimmt nicht lange aufhalten." In dem Moment schnellte Wulfs Kopf hoch in Richtung des Bergkammes. Die Grauen. Sie hatten die Barriere überwunden und stürmten mit Macht den Berg hinunter.

„Wir müssen los", antwortete er auf die fragenden Blicke. „Sie kommen. Und sie sind schnell."

Sie mobilisierten ihre letzten Reserven und folgten Johns Gruppe.

Die Grauen hatten gerade das Tal erreicht, als John auf eine massive Felswand zuging und darin kurz verschwand. Dann tauchte er wieder auf. „Kommt! Schnell! Hier herein!" Sie folgten seiner Aufforderung. John drehte sich noch einmal um und präparierte das Tal so, dass es aussah, als wäre dort eine Gruppe Menschen weiter in Richtung Süden gegangen. Dann folgte er ihnen in den Tunnel und verschloss mit einer starken Barriere den Zugang.

Als sie den Tunnel verließen, flossen Eda Tränen über die Wangen. Alles sah ihrer alten Heimat so ähnlich. Auch hier gab es zwei Siedlungen, auch hier lagen Getreidefelder, Obst- und Gemüsegärten, auch hier fand man Weiden mit etlichen Kühen und Pferden. Wulf nahm sie tröstend in die Arme.