Aufbruch
Die Sonne war noch nicht aufgegangen, als sie sich für die Abreise rüsteten. Die Satteltaschen waren prall gefüllt und hingen an ihren Plätzen. Die Pferde tänzelten aufgeregt umher. Es wurde Zeit Abschied zu nehmen.
„Viel Glück und kommt gesund zurück.“ Tana drückte alle zum Abschied. Lange blickte sie ihnen noch hinterher. Nun kam für die Daheimgebliebenen der schwerste Teil. Das Warten.
Sie ritten schon den gesamten Vormittag. Mit ihren Pferden kamen sie schnell voran. Vorneweg ritt Wulf mit Lysan. Wulf überprüfte die Gegend immer wieder mit seinen feinen Sinnen. Sie mussten darauf achten, dass sie Siedlungen oder Burgen der Grauen oder gar den Todeszonen der ehemaligen Kernkraftwerke nicht zu nahe kamen.
Um die Pferde zu schonen, legten sie alle vier Stunden eine Pause ein. Doch auch mit diesen Unterbrechungen hatten sie das Gebirge am frühen Abend fast hinter sich gelassen. Die Nacht verbrachten sie in einer kleinen Höhle, die von den Weißen versiegelt wurde, nachdem sie die Spuren, sorgfältig verwischten.
Wulf teilte Nachtwachen ein.
Ständig wurde nach der Anwesenheit von Grauen oder Dendraks gesucht. Aber in dieser Nacht drohte ihnen keine Gefahr.
Gut ausgeruht zogen sie am Morgen weiter. Die Berge, die bisher Sicherheit boten, entfernten sich immer weiter.
Sie folgten zunächst einem Flusslauf, änderten aber ihre Richtung, als am Ufer eine Siedlung zu erkennen war. In einem weiten Bogen umgingen sie die Siedlung.
Die Landschaft wurde kärglicher, je weiter sie sich vom Fluss entfernten. Es schien, als ob die Lebensenergie der Pflanzen mit jedem Meter Abstand weichen würde.
Und dann sahen sie die Warnungen. Sie waren eindeutig.
Im Abstand von fünfzig Metern waren zur Abschreckung Totenköpfe auf lange Stangen aufgespießt worden.
„Nicht weiter in diese Richtung!“, rief Wulf. „Das ist eine der Todeszonen. Wir dürfen nicht weiter in dieses Gebiet eindringen.“
Lysan lief ein kalter Schauer über den Rücken, als sie die Ansammlung von Schädeln sah, die ein immens großes Gebiet markierten. „Was sind eigentlich diese Todeszonen? Ich sehe, dass die Pflanzen hier nicht so gut wachsen, aber warum ist das so?“
„Ich hatte es dir bereits vor einiger Zeit erzählt. In der Zeit vor der Umwandlung benutzte man viele Geräte, die mit Strom – einer Energie – genutzt wurden. Zur Gewinnung dieser Energie betrieb man Kraftwerke. Unter anderem Kernkraftwerke. Die Quelle der Energie musste ständig mit Wasser gekühlt werden. Als während der Umwandlung die Kühlung nicht mehr funktionierte, kam es im Umkreis der meisten Kernkraftwerke zu großen Katastrophen. Die Gebäude selbst verschwanden in einem riesigen Feuerball. Alles Leben in weitem Umkreis wurde vernichtet. Selbst Pflanzen, Tiere und Menschen, die sich in weiter Entfernung zu den Feuerbällen aufhielten, erkrankten, starben oder veränderten sich.
Nicht alle diese Kraftwerke verursachten solche Katastrophen. Während der Umwandlung verwandelten sich auch einige Menschen, die sich in ihnen aufhielten, in Weiße oder Graue. Einigen gelang es, die Katastrophe abzuwenden, in dem sie die Quelle der Energie in etwas Ungefährliches umwandelten. Oder sie legten einen Schutzwall um die Gebäude, so dass die Zerstörung nur auf einen kleinen Raum begrenzt war.
Die Kraftwerke, die aber nicht geschützt werden konnten, verseuchten die Umgebung. Sie ist immer noch gefährlich. Und auch einigen Lebewesen, die sich dort entwickelt haben, sollte man besser aus dem Weg gehen“, erklärte Wulf.
Sie ritten schweigend an den Markierungen der Todeszone vorbei und beobachteten angestrengt die Umgebung.
So entging es ihnen nicht, als das hohe Gras sich vor ihnen zu neigen begann. Wulf gebot allen, stehen zu bleiben.
Einige Meter vor ihnen erblickten sie ein seltsames Tier, das ihren Weg kreuzte. Es maß mehr als zwei Meter, war etwa einen halben Meter hoch, der Körper war mit einem dunkelbraunen Panzer bedeckt und zwei Antennen, die sich tastend auf und ab bewegten, ragten aus dem abgeflachten Kopf.
Wulf erschauderte, als er diese Riesenkakerlake beobachtete.
„Verhaltet euch ruhig. Wir dürfen dieses Biest nicht auf uns aufmerksam machen. Kakerlaken sind schnell und gefräßig“, flüsterte er.
Sie bemühten sich, ihre Pferde so leise wie möglich von dem Monstrum fortzubewegen. Meter um Meter entfernten sie sich von ihm.
Wulf glaubte schon, dass sie der Gefahr entronnen waren, als der Wind sich drehte und eine Böe sein Haar zerzauste.
Die Kakerlake hielt in ihrer Bewegung inne.
Wulf stockte der Atem, als er sah, dass sich die Fühler der Kreatur langsam und ruckartig in ihre Richtung drehten.
„Weg hier!“, schrie er und gab seinem Pferd die Sporen. „Schneller!“ Die Pferde brauchten kaum angetrieben zu werden. Auch sie spürten die Gefahr, die auf sechs langen, dünnen Beinen hinter ihnen herjagte.
Nur mit Mühe erreichten sie vor dem Biest den Fluss. Doch ihnen war bewusst, dass die Kakerlake auch durch die Fluten nicht aufgehalten werden konnte. Die Pferde stürzten sich ins Wasser und wurden sofort von der Strömung flussabwärts gezogen.
Wulf blickte sich um. Nun hatte auch die Kakerlake das Ufer erreicht. Sie hatten keine Chance. Das Tier war viel zu schnell.
Dann ertönte ein Krachen, als wenn ein Baum vom Wind umgeknickt würde. Die Gefährten trauten ihren Augen nicht. Eine riesige Schlange hatte sich auf ihren Verfolger gestürzt und die großen Giftzähne offenbar mühelos in dessen Panzer versenkt.
„Los, weiter!“, rief Wulf. „Wir müssen das andere Ufer erreichen, bevor die Schlange mit ihrer Mahlzeit fertig ist und Appetit auf einen Nachtisch hat.“
Vollkommen erschöpft erreichten sie nach mehreren Minuten das Ufer. Aber es war keine Zeit zu rasten. Sie mussten die Todeszone schnell hinter sich lassen.
Am späten Nachmittag erreichten sie eine kleinere Ruinenstadt und beschlossen, dort das Nachtlager aufzuschlagen.
Sie verbarrikadierten sich in dem halb verfallenen Keller eines größeren Gebäudes, dessen vordere, mit Efeu überwachsene Fassade, noch über zwei Etagen stand. Es waren noch vier Kellerräume vorhanden, die sie selbst mit den Pferden erreichen konnten. Nachdem die Eingänge gegen einen Angriff der Dendraks gesichert waren, erkundeten Lysan und Wu den Keller. Die hinteren Räume waren mit Schutt übersät. Hier war teilweise die Decke eingestürzt und die Mauerreste versperrten den Weg nach oben.
Der Staub lag zentimeterdick auf dem Boden. Wu entzündete eine Kerze und suchte den ersten Raum ab. Außer ein paar morschen, zerbrochenen Holzbalken und verrosteten Metallstreben, die vielleicht in früheren Zeiten ein Regal dargestellt hatten, war hier nichts zu finden. Die beiden gingen in den nächsten Raum und blieben wie angewurzelt stehen. Wu beleuchtete ihren Fund. Es war eindeutig. Dann schlichen beide leise zu ihren Gefährten zurück.
Im ersten Keller war man dabei, aus den mitgenommenen Decken Schlafstellen herzurichten. Eda holte gerade fürs Abendessen ein großes Stück Schinken hervor, als sie die leichenblassen Gesichter der Kinder sah. „Was ist lo ...?"
Da sprang Wu zu ihr und hielt ihren Mund zu. Erschrocken ließ sie den Schinken zurück in die Satteltasche fallen.
„Spuren. Im übernächsten Keller. Sie sind ganz frisch. Es sind eindeutig Dendrakspuren", flüsterte Wu.
Bent sprang auf und ergriff die Machete.
Wulf hob einen Finger an seinen Mund. Sie sollten alle still sein. Er wollte mit Hilfe seiner Sinne die Gegend noch einmal nach Lebewesen durchsuchen. Er konzentrierte sich und ließ die Umgebung auf sich einwirken. Wulf spürte in nächster Nähe die Anwesenheit vieler kleiner Tiere, die aber keine Gefahr für sie darstellten. Er weitete seine Suche aus. In nicht allzu weiter Entfernung erspürte er Lebewesen, konnte aber nicht erkennen, worum es sich handelte.
„Da ist irgendetwas. Etwas Lebendiges. Aber ich kann nicht feststellen, was es ist", erklärte er den Wartenden. „Wir müssen nachsehen. Eda, Lysan, ihr bleibt hier. Die anderen folgen mir."
Sie zündeten weitere Kerzen an und verließen den Kellerraum.
Lysan und Eda blieben im Schein einer einzelnen Kerze in einer Ecke zusammengekauert zurück.
Die Gruppe betrat den Raum, in dem Wu die Spuren bemerkt hatte. Wulf beugte sich hinunter. Eindeutig. Es waren Dendrakspuren. Man konnte deutlich die Schleifspuren des langen Schwanzes und die Abdrücke der scharfen Krallen erkennen. Er beleuchtete mit der Kerze die Kellerwände. In der hintersten Ecke war ein etwa ein Mal ein Meter großes Loch in der Wand herausgebrochen. Vorsichtig gingen sie darauf zu. Schon nach wenigen Augenblicken hörten sie ein eigentümliches Rascheln aus dem Raum hinter dem Loch. Hennig kniete sich neben die Öffnung und beleuchtete den Raum dahinter mit seiner Kerze. Fast hätte er sie vor Schreck in den Staub fallenlassen. Die übrigen Mitglieder der Gruppe wichen entsetzt zurück.
Wulf war der Erste, der sich wieder in der Gewalt hatte.
„Wir müssen die Öffnung sofort verschließen. Seid leise. Nehmt die Felsbrocken, die hier überall herumliegen. Vielleicht haben wir Glück und es sind momentan keine Ausgewachsenen hier. Die Dendraks scheinen die Eier erst vor kurzer Zeit hier gelegt zu haben."
Sie begannen, so leise wie nur möglich, Steine vor die Öffnung zu stapeln. Nach einer Stunde war das Loch so versperrt, dass selbst ausgewachsene, starke Dendraks es nicht mehr öffnen konnten. Sie gingen in den ersten Keller zurück.
„Was habt Ihr die ganze Zeit gemacht? Ihr habt so lange gebraucht." Lysan kam ihnen entgegen.
„Die Spuren, die du gesehen hast, stammen tatsächlich von einem Dendrak. Wir haben eine Öffnung zu einem Nebenraum gefunden.
Dort liegt ein Nest mit Dendrakeiern. Alle frisch gelegt. Von den erwachsenen Dendraks haben wir keine Spur entdeckt. Wir wissen zu wenig über das Brutgeschäft der Dendraks. Vielleicht lassen sie ihre Brut nach der Eiablage ja vollkommen alleine.
Wir haben das Loch verschlossen. Da kommt erst einmal nichts mehr durch", erklärte Wulf.
Sie saßen noch eine Weile eng beieinander, doch niemand sprach ein Wort.
Am nächsten Morgen entfernten sie früh die Bretter vor dem Eingang zum Keller, nachdem Wulf die Gegend nach Dendraks abgesucht hatte. Müde stiegen sie auf ihre Pferde und ritten weiter in nordwestliche Richtung, immer der Küste entgegen.
Als sie am Mittag eine Rast einlegten, setzte sich Lysan neben Wulf.
„Onkel Wulf, wie weit müssen wir denn über das Meer fahren?", fragte sie.
„Nun, wenn wir die engste Stelle zwischen dem Festland und dem ehemaligen England nehmen, sind das ungefähr zweiunddreißig Kilometer. Das hört sich wenig an, aber dort herrscht eine starke Strömung. Wenn wir hinübersegeln, werden wir an realer Strecke viel mehr zurücklegen müssen. Es ist aber möglich, dass wir die engste Stelle gar nicht nutzen können. Ich weiß nicht, ob sich dort vielleicht eine Todeszone befindet. Wir werden sehen. Zunächst einmal müssen wir die Küste erreichen." Er stand auf. „Wir müssen weiter."
Sechs Tage waren sie unterwegs. Zwei Mal mussten sie einen weiten Bogen reiten, um Siedlungen oder Burgen aus dem Weg zu gehen. Ein weiteres Mal sahen sie vor sich plötzlich nur noch verkrüppelte Vegetation, keine Wälder, keine grünen, satten Grasflächen. Sie hatten wieder eine der Todeszonen erreicht, die auch hier mit Totenkopfpfählen markiert war. Lysan schüttelte sich vor Entsetzen, als sie an ihre erste Begegnung mit den mutierten Kreaturen dachte.
Wulf lenkte sein Pferd in weitem Bogen um die kontaminierte Zone.
Am Abend des sechsten Tages, als sie sich gerade in einer verlassenen Hütte einrichteten, sahen sie die ersten Möwen. Sie waren also nicht mehr weit von der Küste entfernt. Morgen würden sie das Meer sehen.
Nun musste es ihnen nur noch gelingen, die schmalste Stelle nach England zu finden und dann war noch das Boot zu bauen. Wulf lachte bitter auf. Noch so viel Arbeit. Noch so viele Gefahren.
Wie Wulf richtig vermutet hatte, lag nach einem kurzen Ritt am nächsten Morgen die Küste vor ihnen. Die übrigen Mitglieder der Gruppe hatten so viel Wasser noch nie gesehen. So blieben sie einen Augenblick am Strand und ließen den Wind und die Wellen auf sich einwirken. Doch Wulf drängte zum Aufbruch. Sie ritten am Strand entlang, in der Hoffnung, einen Anhaltspunkt für die günstigste Überquerungsmöglichkeit zu finden.
Es war Eda, die gegen Mittag die uralte, verfallene Hafenanlage entdeckte.
Wulf suchte die Ruine ab. Hier gab es, außer kleinen Nagern und Insekten, keine Lebewesen. Sie ritten auf die Hafenanlage zu. Hier musste einmal ein großes Hafenbecken gewesen sein. Die Gebäude, die in der Nähe des Wassers gestanden hatten, waren vollkommen verschwunden. Wind, Regen und Salzwasser hatten nichts zurückgelassen.
Etwas weiter vom Strand entfernt, sahen sie allerdings verfallene Häuser. Sie beschlossen, in einem der Häuser ihr Quartier aufzuschlagen. Vor einem der Steinhaufen, der vor sehr langer Zeit einmal ein Haus gewesen sein musste, blieb Wulf stehen, als er im Geröll etwas blinken sah. Er stieg von seinem Pferd ab und bückte sich.
Das glänzende Etwas war ein Stück Glas, das einmal zu einer Schneekugel gehört haben musste. Man konnte immer doch das Eingravierte Chers salutations de Calais erkennen. Calais. Sie hatten die engste Stelle erreicht. Der Steinhaufen zu seinen Füßen war vermutlich in früheren Zeiten ein Souvenirgeschäft gewesen.
Sie ritten in die Ruinenstadt hinein. In der Mitte eines großen, fast freien Platzes, auf dem sich nur wenige Bäume und Sträucher durch den früher einmal vorhandenen Asphalt einen Weg gebahnt hatten, stand ein viel versprechendes Gebäude. Die oberen Etagen waren zwar nicht mehr vorhanden, doch einige zusammenhängende Räume im Erdgeschoss schienen halbwegs intakt und leicht abzuschotten zu sein. Sie führten ihre Pferde in das Gebäude. Auch in diesen Räumen lag der Staub zentimeterdick. Aber nirgendwo fanden sie Spuren von Leben. Sie richteten sich in einem der leicht zu verschließenden Zimmer ein. Da es schon sehr spät war und alle ziemlich erschöpft waren, beschlossen sie, nichts mehr zu unternehmen und sich auszuruhen. Am nächsten Tag wollten sie die Ruinenstadt erkunden und nach Material für ihr Boot suchen.
Wulf sandte seine feinen Sinne so weit wie möglich aus, konnte aber auch in mehreren hundert Kilometern keine Menschen, Graue oder Dendrak spüren. Sie verzehrten schnell ihr Abendessen, hüllten sich in ihre Decken und schliefen fast augenblicklich ein. Allein John saß an der Tür und lauschte den Geräuschen. Er hatte die erste Wache übernommen.
Bent schlief schlecht. Immer wieder schreckte er auf. Schließlich sah er ein, dass er in dieser Nacht keine Ruhe mehr finden würde, und setzte sich neben Thoralf, der mittlerweile die Wache übernommen hatte, an die Tür.
„Ich kann nicht schlafen. Immer wieder überlege ich, wie das Boot am schnellsten gebaut werden soll. Wir haben ja nicht viel Zeit. Wer weiß, wann hier Graue oder Dendraks auftauchen." Er seufzte. „Hoffentlich finden wir hier genug Material. Auf dem Ritt hierher habe ich nicht sehr viele Bäume von dem Umfang gesehen, den wir brauchen werden."
„Beruhige dich. Uns wird schon etwas einfallen", flüsterte Thoralf.