Ein neues Zuhause
John führte sie in ein lang gestrecktes Haus in der Mitte der ersten Ansiedlung. Es schien das Versammlungshaus zu sein. Viele Talbewohner waren bereits anwesend, und als Lysan den Raum betrat, ging ein Raunen durch die Menge. Ihnen war zwar bekannt, dass es die Auserwählte gab, aber sie selbst zu sehen, hier, in ihrer eigenen Zuflucht, das war doch etwas Anderes.
An der Kopfseite des langen Raumes stand ein großer, schwerer Tisch. An ihm saßen sieben Personen. Der Rat der Ansiedlung. Man hatte ihnen Stühle an den Tisch gestellt, auf denen sich die Gruppe dankbar niederließ.
Ihnen wurden Becher mit Milch und Brot gereicht, damit sie sich stärken konnten. Eda nutzte die Gelegenheit, ihre wundgescheuerten Füße zu heilen.
Nachdem sie gegessen und getrunken hatten, richtete ein Mann, der in der Mitte des Tisches saß, das Wort an sie. Er war offensichtlich der Vorstand dieser Enklave.
„Ich bin Mario. Es ist schön, euch alle in Sicherheit zu sehen. Gestern hatte mich Eleia kontaktiert. Es war nur ein sehr kurzes Gespräch. Sie erwähnte, dass ihre Ansiedlung von den Grauen angegriffen wurde und dass sie wahrscheinlich keine Chance hätten, den Angriff zu überleben. Dann sagte sie, einer kleinen Gruppe sei die Flucht gelungen und die Auserwählte sei unter ihnen. Danach brach die Gedankenverbindung ab. Wie ist es euch gelungen zu entkommen?"
„Bent und ich waren mit den beiden Kindern auf einem Kletterausflug im Gebirge, als der Angriff stattfand. Ich wurde nur kurz von Elea von dem Angriff unterrichtet. Sie konnte nur noch mitteilen, dass Eda auch die Flucht gelungen war und sie sich auf dem Weg zu uns befände. Wir sollten euch suchen, ihr würdet uns Unterstützung schicken und uns aufnehmen", berichtete Wulf den Anwesenden.
„Wie haben sie es geschafft, die Barriere zu überwinden? Ich dachte, das sei unmöglich", rief einer der Zuhörer.
„Ich habe gespürt, dass sie einen mächtigen Magier unter sich haben. So viel Präsenz schwarzer Magie habe ich seit Jahrhunderten nicht mehr gefühlt. Die Tarnung und die Barriere scheinen kein Problem für ihn dargestellt zu haben. Als wir damals zur Zuflucht gekommen sind, waren uns Dendraks auf den Fersen. Ich bin mir absolut sicher, dass sie nicht gesehen haben, an welcher Stelle wir in den Felsen gegangen sind. Aber die ungefähre Gegend werden sie wohl bemerkt haben. Es hat lange gedauert, bis sie uns gefunden haben. Und der starke Graue scheint auch erst seit kurzer Zeit bei ihnen zu sein."
Ein weiteres Murmeln kam aus der Zuhörerschaft.
„Kann uns das jetzt nicht auch passieren? Es waren ja Graue hinter euch her und du sagst, der starke Graue war unter ihnen."
Diesmal ergriff John das Wort. „Ich habe eine falsche Fährte bis zum See unten im Tal gelegt. Dort befinden sich auch unzählige Höhlen. Außerdem habe ich den Nachen geopfert. Ich habe ihn weit auf den See geschickt. Er wird sie hoffentlich auf die andere Seite führen und damit viele Kilometer von uns weg."
„Wir wollen hoffen, dass du Recht behältst", antwortete der Vorsteher. „Zur Sicherheit werden sich die stärksten Magier im Anschluss an diese Sitzung zusammenfinden und den Schutzbann verstärken. Und nun sollten sich unsere Gäste von den Strapazen ausruhen. Wulf kannst du noch einen Augenblick bleiben?"
Die Versammlung war beendet und bis auf Wulf und den Vorsteher verließen alle den großen Raum.
„Wulf, ist diese Lysan wirklich die Auserwählte? Du musst meine Frage verstehen. Wir gehen ein hohes Risiko ein, wenn wir euch bei uns behalten."
„Du kannst mir vertrauen, sie ist es. So eine starke magische Präsenz habe ich noch nie in meinem Leben bemerkt. Noch nicht einmal der starke Graue kommt an ihre Kräfte heran. Bereits vor ihrer Geburt war ihre Aura stärker, als die jedes anderen Magiers, sei er nun Weiß oder Grau."
„Ich hoffe, du bist mir nicht böse, weil ich dich gefragt habe. Selbstverständlich könnt ihr bei uns bleiben. Wir werden die weitere Ausbildung der Kinder übernehmen. Der Junge ist auch ein Weißer, wie ich bemerkt habe."
„Ja, er ist auch einer von uns. Und er besitzt starke Magie. Nicht so stark wie Lysans, aber sie ist doch enorm. Die Kinder sind jetzt in dem Alter, in dem sie ihre besonderen Fähigkeiten entwickeln. Ich bin wirklich gespannt, welche es sein werden."
„Danke, Wulf. Und nun leg dich auch hin. Wir werden morgen weiter reden."
Wulf verließ das Gebäude und wurde von einem Bewohner der Siedlung zu den anderen in ein schmuckes kleines Haus geführt.
Die Kinder standen noch unter Schock. Sie saßen still nebeneinander auf einer Bank in der Küche des Hauses und starrten vor sich hin. Eda und Bent setzten sich zu ihnen und schlossen sie tröstend in die Arme.
Die Nacht brach herein. Aber niemand in der Zuflucht war so unbeschwert, wie vor dem Anschlag der Grauen. Bei jedem Geräusch, bei jedem Knistern des Laubes, bei jedem Schnaufen eines Pferdes zuckten die Menschen zusammen. Ihnen war wieder bewusst geworden, dass sie, als Weiße, ständig in Gefahr waren. Und alle hofften auf das Kind, das sie von der Plage der Grauen und der Dendraks befreien würde.
So jedenfalls sagten es die Legenden seit fast eintausend Jahren.
Die Weißen dieser Enklave hatten schon immer gute Beziehungen zu einigen Bewohnern der Dörfer. John beschloss, eines der Dörfer zu besuchen und mögliche Informationen einzuholen. Sie wollten keinerlei Risiko eingehen und jegliches Gerücht über das Vorgehen der Grauen war wichtig.
Er brach so früh auf, wie es die Sicherheit zuließ.
Man hatte einen Karren mit Fässern voller Fische aus dem See im Tal beladen. John würde sich, wie immer, als Fischhändler ausgeben. Man wusste im Dorf, dass er mindestens zwei Mal im Jahr Fisch auf dem Markt verkaufte und es würde nicht auffallen, wenn er nun erschien.
Die Enklave hier hatte einen weiteren Ausgang auf der gegenüberliegenden Seite des Tales. Um nicht von Patrouillen der Grauen, die bestimmt immer noch nach ihnen suchten, bemerkt zu werden, nahm er diesen Ausgang. Die Weißen verschlossen ihn sorgfältig, als John ihn passiert hatte. Tana, ein Mitglied des Rates, blieb in ständigem Kontakt mit ihm.
Wulf erwachte, als John gerade den Tunnel zum Ausgang passiert hatte. Die anderen waren noch zu erschöpft und schliefen weiter.
Er zog sich an und ging zum Versammlungshaus, in der Hoffnung, dort eines der Ratsmitglieder zu treffen.
„Hallo Wulf, schon so früh auf den Beinen? Ich habe gedacht, dass du nach der anstrengenden Flucht länger schläfst", begrüßte ihn Mowa, die er gestern auch am Tisch des Rates gesehen hatte. Sie trug, wie alle Verantwortlichen, einen weiten, hellbeigen Umhang, hatte aber die Kapuze nicht aufgesetzt.
„Ich brauche nicht sehr viel Schlaf. Außerdem habe ich mir angewöhnt, selbst im Schlaf die Umgebung mit meinen Sinnen zu beobachten. Außerhalb des Felsmassives waren heute Nacht sehr viele Dendraks und Graue unterwegs. Sie sind aber alle in Richtung des Sees gezogen. Für die Felswände hier hat niemand Interesse gezeigt. Auch die Präsenz des starken Grauen habe ich gespürt. Und eine wahnsinnige Wut, dass er Lysan nicht töten konnte. Sie haben Angst. Und diese Angst macht sie unberechenbar."
„Ich hoffe so sehr, dass Lysan diesen Albtraum endlich beenden kann. Wie weit ist ihre Ausbildung?"
„Nun, sie erforscht gerade ihre magischen Fähigkeiten. Sie ist schon in der Lage, sie gezielt zu steuern. Auch der kleine Wulf ist ein begabter Magier. Beide beherrschen die Kunst, Materie zu vergrößern und Tiere zu manipulieren. Daran muss zwar noch gearbeitet werden, aber mit ein wenig Übung werden sie bald perfekt darin sein."
„Das ist gut zu hören. Haben sich bei einem der Kinder und ich meine jetzt speziell Lysan, schon besondere Fähigkeiten herauskristallisiert? Ich weiß, sie ist noch sehr jung, aber vielleicht ist da schon in Ansätzen etwas zu sehen."
„Bisher noch nicht. Sie hat die normalen Fähigkeiten eines Weißmagiers. Allerdings viel stärker ausgeprägt. Besonderheiten wie Gedankenlesen oder ähnliches habe ich noch nicht bemerkt. Ich weiß, dass du darauf brennst, dass sie ihre Fähigkeiten schnell voll entwickelt und die Tyrannei der Grauen endlich beendet. Aber du musst ihr Zeit lassen. Sie ist immerhin nicht nur die Auserwählte, sondern auch ein Kind. Ein Kind, das gerade seine Eltern und viele Freunde verloren hat. Lass sie das erst einmal verkraften. Man kann die Magie nicht zwingen. Sie ist Segen und Fluch zugleich. Lysan wird bereit sein, wenn ihre Zeit gekommen ist."
„Du hast Recht", antwortete Tana. „Sie hat schmerzliche Verluste erlitten. Wir werden auch nicht sofort mit der weiteren Ausbildung beginnen. Sie muss erst einmal wieder zu sich selbst finden. Das gilt auch für den Jungen."
„Ah, ich bemerke gerade, John nähert sich dem Dorf. Er meint, dass die Bewohner ziemlich unruhig sind. Er will sich erst einmal bei seinem Freund, bei dem er auch unterkommen wird, erkundigen, was dort los ist.“
John bemerkte auf der Straße viele Menschen in Gruppen zusammenstehen, die sich unterhielten. In einer der Gruppen entdeckte er seinen Freund Kerb. Er stellte den Karren mit den Fischen vor Kerbs Hütte ab. Gerade, als er sich auf den Weg zu seinem Freund machen wollte, bemerkte dieser ihn und kam auf ihn zu.
„Hallo Kerb, alter Freund. Was ist denn los? Was sind das für ungewöhnliche Versammlungen?“
„Heute Morgen sind die Grauen ins Dorf gekommen und haben jedes Haus gründlich untersucht. Sie haben nicht gesagt, was sie suchen, scheinen aber nichts gefunden zu haben. Kurz bevor sie das Dorf wieder verließen, haben sie die Sperrstunde verändert. Niemand darf zwischen sieben Uhr abends bis sieben Uhr morgens auf der Straße angetroffen werden. Die Dendraks werden länger unterwegs sein. Es wurde den Dorfbewohnern unter Androhung von Strafe verboten, Kinder, die nicht zum Dorf gehören, in ihre Häuser aufzunehmen. Man kündigte an, dass man die Einhaltung dieser neuen Vorschrift überprüfen werde.“
„Das ist ja äußerst merkwürdig“, bemerkte John.
„Komm, lass uns ins Haus gehen. Dort können wir uns ungestörter unterhalten.“ John und Kerb luden die Fässer mit Fisch vom Karren und trugen sie ins Haus.
Wulf hatte in Johns Gedanken das Gespräch angespannt verfolgt und berichtete Tana.
„Sie haben die Spur verloren.“ Tana war erleichtert.
„Wir sollten trotzdem sehr vorsichtig sein. Zu viel steht auf dem Spiel", antwortete Wulf.
John verkaufte die Fische noch am gleichen Tag und erwarb dafür Obst und Gemüse. Die Nacht wollte er im Haus seines Freundes verbringen. „Wenn du nichts dagegen hast, werde ich in zwei Monaten noch einmal vorbeischauen. Ich möchte mir größere Vorräte anlegen. Im letzten Winter ist einiges zu schnell zur Neige gegangen.“ John beabsichtigte, zu dieser Zeit die Lage erneut zu überprüfen. Vielleicht erfuhr er dabei Neuigkeiten von den Grauen.
„Onkel Wulf?", hörte Wulf Lysan von draußen her rufen.
„Bist du hier drinnen?"
„Ja, Kleines. Ich bin gleich bei dir. Geh erst einmal Frühstücken. Ich komme gleich."
„Onkel Wulf, bitte! Es ist dringend!", hörte er ihre ungeduldige Stimme.
„Geh ruhig. Ich werde dich informieren, sobald ich etwas Neues weiß", sagte Tana lächelnd.
Wulf verließ das Versammlungshaus.
„Was gibt es denn so Wichtiges, dass du dafür das Frühstück …", Wulf stockte mitten im Satz. Das, was er da sah, verschlug ihm die Sprache. Lysan schwebte mehrere Zentimeter über dem Boden. Und nicht nur das. Sie löste sich vor seinen Augen auf.
„Lysan? Lysan, wo bist du?" Panik ergriff ihn. So etwas hatte er noch nie erlebt. Und er hatte in seinem langen Leben schon die unmöglichsten Dinge gesehen.
„Ich bin hier, Onkel Wulf. Direkt vor dir", hörte er ihre Stimme, nur wenige Zentimeter von seinem Ohr entfernt. „Moment. Ich mach, dass du mich wieder sehen kannst."
Zunächst waren nur die Umrisse des Mädchens zu erkennen. Doch nach und nach schien sie an Substanz zu gewinnen und schwebte schließlich vor ihm.
„Ups", sagte sie und dann stand sie wieder mit beiden Beinen auf dem Boden. „Ich hab vergessen, dass ich noch geflogen bin." Lysan strahlte ihn an. Für einen kurzen Augenblick schien sie ihr Leid vergessen zu haben.
„Wie hast du das gemacht?", fragte Wulf entgeistert.
„Na ja, du warst nicht da, als Wu und ich aufgewacht sind und Eda und Bent haben noch geschlafen. Da haben Wu und ich beschlossen, dass wir vor dem Frühstück Verstecken spielen. Wu musste mich suchen. Ich hab gehört, dass er auf mein Versteck zukam. Ich konnte mich nicht woanders verstecken. Das war der einzige Heuhaufen weit und breit. Da hab ich die Augen zugemacht und mir ganz doll gewünscht, dass mich Wu nicht sehen kann. Der ist dann um den Heuhaufen herum und direkt in mich reingelaufen. Der hat sich vielleicht erschreckt." Lysan lachte. „Dann hab ich mir ganz doll gewünscht, dass ich wieder gesehen werden kann. Und das hat auch geklappt. Wu war begeistert. Er meinte, so was würde er auch gerne können. Aber noch viel lieber würde er fliegen können. Na ja, ich hab’s mal ausprobiert. Ich kann aber nur ein ganz klein wenig schweben. Und das Unsichtbarsein geht auch nicht lange."
„Kind." Wulf nahm Lysan in seine Arme. „Das ist ja wunderbar. Dass du länger unsichtbar bleiben kannst und höher schweben, das ist alles nur eine Sache der Übung. Pass auf. Bald kannst du so hoch fliegen, wieder der Adler dort oben."
„Wow. Das ist aber mächtig hoch." Lysan folgte Wulfs Blick zum Himmel, wo ein Adler seine Runden drehte. „Da ist es bestimmt kalt. Dann muss ich mich aber dick anziehen."
Wulf lachte und ging mit Lysan zurück zu ihrem Haus, um dort in aller Ruhe zu frühstücken.