Träume
Sie befand sich, zusammen mit Wu, auf dem Getreidefeld. Sie saßen Rücken an Rücken und übten die Rechenaufgaben, die Wulf ihnen aufgegeben hatte. Die Sonne stand hoch am Himmel. Einzelne Vögel zogen ihre Bahnen am blauen Firmament. Es war warm, sie übten mit Eifer und hatten ihren Spaß dabei. Lysan fühlte sich wohl, wenn sie in Wus Nähe war.
Plötzlich hörten sie einen schrillen Schrei aus der Siedlung. Schnell sprangen sie auf. Zunächst konnten sie nichts erkennen, die Getreidehalme standen zu hoch. Doch dann entdeckten sie, wie eine schwarze Welle sich tausende und abertausende Dendraks in Richtung ihrer Siedlung drängten. Einige Menschen aus der Siedlung kamen auf sie zu gerannt.
„Lauft! Lauft! Sie haben uns entdeckt!"
Und Ly sah, die ersten furchtbaren Bestien auf sich zu bewegen. Sie war wie erstarrt. Kein Muskel ihres Körpers wollte ihr gehorchen. Wu stellte sich vor sie, wollte sie gegen die Angreifer verteidigen. Ein Grauer stand in einiger Entfernung zu den Dendraks. „Ich werde euch vernichten. Ihr werdet alle sterben“, hörte sie aus seiner Richtung.
Der erste Dendrak hatte sie erreicht. Wu hatte nicht den Hauch einer Chance. Die scharfen Krallen des Dendraks bohrten sich in sein Fleisch.
Lysan hörte ihn laut aufschreien.
„Ly, Ly, wach auf! Du hast einen Albtraum."
Lysan öffnete die Augen. Schweißgebadet lag sie in ihrem Bett. Eda schüttelte sie immer noch, um sie wach zu bekommen.
„Ein Albtraum? Aber, es war so …" Lysan sah sich im Zimmer um. Sie suchte Wu. Er stand neben der Tür und sah sie besorgt an. Er schien unverletzt zu sein. Also doch nur ein Albtraum? Erleichtert atmete Lysan tief durch.
„Was hast du denn geträumt?", fragte Wu sie neugierig.
„Dendraks haben uns überfallen. Es war furchtbar."
„Das kommt davon, wenn Wulf kurz vor dem Schlafengehen solche Geschichten erzählt. Hier, trink etwas Wasser." Eda reichte ihr einen Becher. „Und nun atme tief ein und aus. So ist es gut. Wu, ab ins Bett mit dir. Du läufst mit nackten Füßen hier herum. Nicht, dass du dich noch erkältest." Sie drehte sich wieder zu Lysan. „Geht es jetzt besser?"
Lysan nickte.
„Gut. Dann versuch weiter zu schlafen. Es war nur ein Albtraum. Versuch vor dem Einschlafen an etwas Schönes zu denken."
Sie deckte Lysan zu, gab ihr einen Kuss auf die Stirn, überzeugte sich, dass auch Wu gut zugedeckt war, und verließ das Zimmer.
Lysan lag noch lange wach, ehe sie in den frühen Morgenstunden in einen leichten Schlaf fiel.
Sie fühlte sich wie gerädert, als Wu sie zum Frühstück weckte.
„Hey, alles in Ordnung mit dir?", fragte er besorgt und legte fürsorglich einen Arm um sie.
„Ja, geht schon. Ich hab nur zu wenig geschlafen. Ich lass es heute mal langsam angehen", antwortete Lysan.
Der Tag zog sich hin. Lysan war furchtbar müde und musste andauernd an ihren Traum denken.
Als es endlich Zeit war, ins Bett zu gehen, hatte sie Angst einzuschlafen. Aber der Tag war lang, die Übungen anstrengend und sie hatte in der Nacht zuvor wenig geschlafen. Schon nach wenigen Minuten fielen ihr die Augen zu.
Sie stand mit Tana im großen Ratssaal. Es war kühl, die Tür stand weit offen und der Wind blies hinein. Sie übte gerade mit Tana. Sie ließ den langen Ratstisch in der Luft schweben.
Plötzlich waren sie nicht mehr alleine. Vier Graue stürmten in den Saal und stürzten sich auf Tana. Sie konnte sich nicht wehren und wurde überwältigt. Ein fünfter Grauer trat durch die Tür. Lysan konnte sein Gesicht nicht erkennen, so sehr sie sich auch darauf konzentrierte.
„Wir werden euch alle vernichten. Ihr habt nicht die geringste Chance", hörte sie seine tiefe und doch jungenhafte Stimme sagen.
Dann zückte er ein Messer und schnitt Tana die Kehle durch. Lysan schrie vor Verzweiflung.
„Ly, Ly, wach auf! Ly, hörst du mich?" Lysan bemerkte, dass jemand sie an den Schultern gefasst hatte und schüttelte. „Ly, aufwachen!"
Lysan öffnete die Augen.
„Wieder ein Albtraum?" Eda nahm sie in die Arme und wiegte sie zur Beruhigung wie ein Baby.
„Alles ist gut. Hast du von Dendraks geträumt, du Arme?"
Lysan schüttelte den Kopf. „Diesmal waren keine Dendraks da. Diesmal haben uns die Grauen überfallen. Einer sagte, dass wir alle vernichtet werden. Und dann …"
„Schsch… alles ist gut. Es war nur ein Traum. Nur ein Traum."
Lysan schloss die Augen. Trotzdem kullerten Tränen ihre Wange hinunter.
„Rutsch rüber. Ich bleib heute Nacht bei dir. Es war wirklich nur ein Traum."
Eda legte sich zu ihr ins Bett und hielt sie weiter in den Armen.
Lysan war schrecklich müde, als es Zeit war, aufzustehen. Es kam ihr so vor, als wenn sie überhaupt nicht geschlafen hätte. Tiefe, dunkle Ringe lagen unter ihren Augen. Lustlos stocherte sie in ihrem Hirsebrei. Sie hatte keinen Appetit.
„Du solltest dich gleich noch etwas hinlegen", meinte Wulf, als er die übernächtige Lysan sah.
„Nein!", rief Lysan entsetzt aus. „Nicht schlafen. Dann kommen wieder die Albträume."
„Aber du musst schlafen. Eda kannst du ihr helfen? Es kann doch nicht jede Nacht so weitergehen."
„Ich werde es versuchen", antwortete Eda. „Komm Ly, versuch etwas Brei zu essen und dann geht’s ab ins Bett."
Lysan schob sich einen Löffel Hirsebrei in den Mund. Aber sie hatte das Gefühl, als ob ihr Mund immer voller würde. Sie brachte ihn einfach nicht hinunter.
„Ich kann nichts essen. Kannst du jetzt versuchen, die Träume zu verscheuchen?" Sie sah Eda bittend an.
„Sicher, Kind. Geh schon einmal vor in dein Zimmer. Ich komme gleich nach."
Als Lysan das Zimmer verlassen hatte, sah Wulf Eda an. „Glaubst du, die Albträume kommen nur von der Geschichte, die ich den Kindern erzählt habe?"
„Ich weiß es nicht. Wir werden sehen, ob ich ihr helfen kann. Ich hoffe es für das Kind. Sie ist ja völlig fertig."
Eda folgte Lysan in den Nebenraum. Ly hatte sich schon ins Bett gelegt. Eda deckte sie sorgfältig zu und setzte sich neben sie auf die Bettkante.
„Jetzt schließ die Augen. Denk an etwas Schönes. Denk daran, wie du im Sommer mit Wu im kleinen Teich geplanscht hast, wie ihr fangen gespielt habt. So ist es gut." Eda konzentrierte sich auf Lysan. Sie schickte ihr beruhigende Gedanken.
Schon bald merkte sie, dass Lysans Atem ruhiger und gleichmäßiger wurde. Lysan schlief.
Eda blieb noch einen Moment auf der Bettkante sitzen und beobachtete das entspannte Gesicht. Dann ging sie zurück zu den beiden Wulfs und Bent in die Küche.
„Sie schläft. Und sie ist ruhig. Vielleicht haben wir Glück und die Albträume kehren nicht zurück."
Lysan saß am Ufer des kleinen Teiches und ließ die Füße ins Wasser baumeln. Wu stand einige Meter entfernt im Wasser und versuchte mit der Hand Fische zu fangen. Immer wieder stieß seine Hand ins Wasser, immer wieder holte er sie enttäuscht zurück. Dann lachte er schelmisch, aber Ly wusste, was er vorhatte. „Nicht schummeln. Wir haben gesagt, keine Magie." Enttäuscht darüber, dass sie hinter seine Pläne gekommen war, verzog Wu das Gesicht. „Aber, die sind so glitschig. Die schlüpfen mir immer aus der Hand."
„Ach was, du bist einfach viel zu langsam, wie eine lahme Ente." Ly lachte.
Dann fiel ihr Blick auf den schmalen Schilfgürtel am anderen Ende des Teiches. Sie war sich ganz sicher, dass sich dort irgendetwas bewegt hatte. Lysan stand auf und umrundete den Teich.
„Wo willst du hin?", fragte Wu.
„Hier ist jemand. Ich hab hier etwas gesehen", antwortete sie ihm. Nun hatte sie den Schilfgürtel erreicht. Vor ihr stand ein Mann mit einem grauen Umhang. Das Gesicht konnte sie nicht erkennen. Es verschwamm vor ihren Augen, so sehr sie sich auch darauf konzentrierte.
„Wir werden euch umbringen. Alle. Niemand kann uns entkommen." Dann schoss ein Flammenball aus der Hand des Grauen und traf Wu direkt in die Brust. Lysan schrie auf.
„Ly! Hörst du, Kind? Aufwachen!" Wulf hatte sie an den Schultern gefasst und im Bett aufrecht hingesetzt.
Lysan öffnete die Augen.
„Oh, Onkel Wulf, es war so schrecklich. Was ist denn nur mit mir los? Warum hab ich immer so schreckliche Träume?" Dicke Tränen fielen auf Wulfs Hemd, als sie sich Hilfe suchend an ihn schmiegte.
„Ich weiß es nicht, mein Kleines. Ich weiß es nicht. Ich werde gleich zu Tana gehen und mich mit ihr und den anderen Ratsmitgliedern besprechen. Vielleicht kann dir einer von ihnen helfen."
Wulf stellte mit Erstaunen fest, dass alle Ratsmitglieder im Saal versammelt waren und sich eifrig unterhielten.
„Hallo, Wulf. Können wir dir irgendwie behilflich sein?", fragte Tana, als sie ihn bemerkte.
„Es geht um Lysan. Sie wird seit kurzem von fürchterlichen Albträumen geplagt. Zunächst dachte ich, dass die Träume von der Geschichte kommen, die ich den Kindern erzählt habe. Aber mittlerweile glaube ich nicht mehr daran. Ich habe ein ungutes Gefühl."
„Seit wann hat Lysan diese Albträume?", fragte Tana.
„Seit vorgestern. Heute hat sie sich nach dem Frühstück hingelegt, um etwas Schlaf nachzuholen. Da hatte sie wieder solch einen Albtraum. In den Träumen erscheinen immer wieder Dendraks oder Graue, die uns hier überfallen. In den Träumen hat ein Grauer mit ihr gesprochen und gesagt, dass sie uns alle vernichten werden", antwortete Wulf.
Tana sah Leon, der erst seit kurzem Ratsmitglied war, mit einem Blick an, den Wulf nicht deuten konnte.
„Setz dich, Wulf. Wir haben dir etwas zu sagen." Tana deutete auf einen freien Stuhl ihr gegenüber.
Verwirrt setzte sich Wulf.
„Leon hier erzählte uns gerade, dass er seit vorgestern eine merkwürdige Spannung hier im Tal fühle. Es ist so, als wenn jemand von außerhalb versucht, geistigen Kontakt mit uns aufzunehmen. Aber es ist keine Nachricht, die er empfängt, es ist mehr wie ein Rauschen. Nachts ist dieses Rauschen besonders stark. Und er meinte, vor einer Stunde dieses Rauschen auch wieder verstärkt empfangen zu haben."
„Du meinst also, dass dieses Rauschen, das Leon empfängt, etwas mit Lysans Abträumen zu tun haben könnte?"
„Nun, es wäre schon ein unglaublicher Zufall, dass das Rauschen und die Albträume immer zum gleichen Zeitpunkt auftreten. Ja, ich denke schon, dass es da eine Verbindung gibt."
„Aber, was für eine Verbindung sollte das sein?" Wulf sah sie skeptisch an. „Wir sind hier vollkommen abgeschottet. Die Grauen wissen nicht, wo sich unsere Zuflucht befindet. Und selbst, wenn sie eine ungefähre Ahnung hätten, sie könnten nicht wissen, dass ausgerechnet Lysan die Auserwählte ist. Es gibt mehrere Mädchen in Lysans Alter hier."
„Es ist, wie gesagt, nur eine Vermutung. Du hast ja gehört, dass es bei den Grauen jetzt sehr starke Schwarzmagier gibt. Wir kennen ihre Fähigkeiten nicht. Vielleicht ist einer von ihnen in der Lage, auch auf große Entfernungen das Magiepotential eines Menschen zu erkennen. Das würde dann erklären, warum er sich, von all den Menschen hier, ausgerechnet Lysan ausgesucht hat und ihr Albträume schickt."
„Warum sollte er so etwas tun? Das macht doch keinen Sinn." Wulf war immer noch skeptisch.
„Es würde einen Sinn machen, wenn sie herausbekommen hätten, wo wir uns aufhalten. Lysan ist die Person hier mit den stärksten magischen Fähigkeiten. Wenn es ihm gelingen sollte, sie mental zu schwächen, könnten sie leichter einen Angriff auf uns starten."
„Du meinst also, sie haben uns entdeckt und planen einen Angriff?" Die Skepsis in Wulfs Gesicht verwandelte sich in bloßes Entsetzen. Er dachte sofort an den letzten Angriff der Grauen auf ihre vorherige Zufluchtsstätte.
„Ja, das denke ich. Und ich denke auch, dass ein Angriff unmittelbar bevorsteht. Sie würden Lysan nicht jetzt schon mit Albträumen traktieren, wenn sie noch lange warten wollten."
Die übrigen Ratsmitglieder nickten zustimmend.
„Was werden wir also tun?", fragte Wulf.
„Wir werden von hier weggehen. Direkt, wenn morgen die Sonne aufgegangen ist. Wir nehmen nur das Nötigste mit. In Richtung Osten gibt es ein großes Tal. Ich habe es vor einigen Jahren einmal erkundet. Das Tal hat zwei Zugänge. Ich denke, dass wir sie gut sichern können. Heute werden wir alles packen. Außerdem werden die Sehenden die Gegend hier um das Tal mit ihren mentalen Kräften nach Grauen oder Dendraks absuchen. Ich glaube zwar nicht, dass sie schon auf dem Weg hierher sind, aber ich will auch kein Risiko eingehen."
„Vielleicht sollten sie auch nach Menschen Ausschau halten. Es gibt einige unter ihnen, die mit den Grauen zusammenarbeiten, um sich Vorteile zu verschaffen." Wulf erinnerte sich an Jakob.
„Gut. Das werden wir tun. Jetzt geh, sag deinen Freunden, dass sie ihre Sachen packen sollen. Jeder nimmt nur so viel mit, wie er selbst tragen kann. Die Karren werden wir für die Vorräte brauchen. Der Winter ist noch lang und wir sollten uns in nächster Zeit in keinem Dorf blicken lassen."
Wulf nickte und verließ die Ratsversammlung.