Sieg
Es folgte kein solcher Angriff der Grauen mehr. Jeder, der das Tal verließ, musste sich nach seiner Rückkehr einer intensiven Untersuchung unterziehen. Man wollte nicht noch einmal einen Anschlag riskieren.
Als der Herbst ins Land ging und die erste Ernte eingefahren wurde, kam John von einem Jagdausflug zurück.
„Einen knappen Fußmarsch entfernt liegt eine alte Jagdhütte. Dort hat eine kleine Familie Unterschlupf gefunden. So wie es aussieht, ist der Neugeborene ein Weißer“, berichtete er der Ratsversammlung.
„Das wird eine Falle sein“, rief Orno, der immer skeptisch war. Sein Rat war aber hoch angesehen, weil er schon viele Fallen durchschaut hatte.
„Die Grauen werden wohl kaum einen Weißen am Leben lassen. Das kann ich mir wirklich nicht vorstellen,“ hielt Tana ihm entgegen.
„Denen traue ich alles zu“, antwortete Orno. Er funkelte sie zornig an.
„Nun, wir können uns ja vergewissern. Zwei Sehende sollen sich zur Hütte aufmachen und die Familie überprüfen. Sollte das Kind weißmagisch sein und die Eltern normale Menschen, werden wir noch einmal beraten.“
So wurde es beschlossen.
Am späten Abend des folgenden Tages waren die Sehenden zurück und bestätigten dem Rat, dass es sich wirklich um ein weißmagisches Kind handele und die Eltern über keinerlei magische Fähigkeiten verfügten.
„Gut. Dann sollen sich morgen Leon, Orno, Kaal und Wenz mit einem Pferdekarren auf den Weg machen. Bietet der Familie Schutz in unserer Zuflucht an.“
Die vier Angesprochenen nickten.
Bei Sonnenaufgang machten sie sich auf den Weg.
Derweil lernte Lysan von Edna, sie war ein Mensch, ihr Mann ein Weißmagier, das Nähen. Lysan war wie immer eifrig bei der Sache, wie immer, wenn es etwas Neues zu lernen gab. Sie wollte für ihren Onkel Wulf einen Umhang nähen, da der alte Umhang schon sehr zerschlissen war. Das Wetter war herrlich und sie saß mit Edna unter einem der Apfelbäume im Schatten.
„Wir sollten langsam zurückgehen. Es ist schon spät", meinte Edna und blickte zum Himmel. Die Sonne neigte sich schon dem westlichen Talende entgegen.
„Nur noch einen kleinen Augenblick. Ich bin gleich fertig", entgegnete Lysan und versuchte noch schnell den Saum des Umhangs umzunähen.
Beide schauten auf, als das Rumpeln der schweren Räder eines Karrens und Hufgeklapper zu ihnen herüber klang. Neugierig liefen sie den Neuankömmlingen entgegen. Seit Lysan mit ihren Freunden zur Gruppe gestoßen war, hatte es keine Neuen mehr gegeben. Sie freuten sich schon auf Berichte und Geschichten von außerhalb.
Edna und Lysan hatten die ersten Häuser der Siedlung erreicht, als die Fremden vom Karren sprangen und sich angeregt mit den Siedlungsbewohnern unterhielten. Lysan blieb ruckartig stehen und hielt auch Edna am Arm fest, so dass sie fast gefallen wäre.
„Was ist los? Komm, lass uns weiter laufen."
„Warte", antwortete Lysan. „Da ist etwas sehr merkwürdig. Dieser Mann … Wie er sich bewegt, er kommt mir bekannt vor. Er macht mir Angst."
Edna sah sie mit großen Augen an.
„Du kannst ihn nicht kennen. Diese Leute waren niemals vorher hier."
„Das ist ja das Merkwürdige. Trotzdem ist mir so, als wenn ich ihm schon einmal begegnet wäre. Ich weiß selbst, dass das unmöglich ist."
Dann traf sie die Erkenntnis wie ein Paukenschlag. Ihr wurde eiskalt. Sie wusste, woher sie den Mann kannte.
„Vorsicht! Das sind Graue! Das ist eine Falle!", schrie sie aus Leibeskräften.
Alle fuhren zu ihr herum.
Die Gesichter der beiden Grauen verzogen sich zu einer Fratze.
„Da ist sie! Wir müssen sie töten!", schrie der Mann und schleuderte Ly einen riesigen Feuerball entgegen, der mit immenser Schnelligkeit auf sie und Edna zugeschossen kam. Ly und Edna hätten keine Möglichkeit gehabt, dem Feuer auszuweichen. Der Ball war größer als das Ratshaus.
Die Freunde schrien entsetzt auf und stürzten sich auf die beiden Grauen. Wulf lief, so schnell er nur konnte, auf Ly und Edna zu. Er wusste, dass er den Feuerball nicht aufhalten konnte, dass er zu spät kommen würde.
Der Feuerball hatte die beiden fast erreicht. Die Hitze, die er ausstrahlte, schien ihnen bereits die Haare zu versengen.
Noch einmal hörte man Wulfs verzweifeltes Rufen. Er rannte wie um sein Leben auf Lysan zu.
Dann plötzlich war der Weg vor ihm in einen Dunstschleier gehüllt, der so dicht war, dass er nicht hindurchsehen konnte. Wulf blieb wie angewurzelt neben einem Apfelbaum stehen.
Ein leichter Wind kam auf.
Die Blätter des Baumes wiegten sich im Rhythmus der Böen, die immer stärker wurden. Und der Wind trieb den Dunstschleier zur Seite.
Wulf traute seinen Augen nicht. Vor ihm standen, nass bis auf die Haut, aber vollkommen unversehrt, Lysan und Edna.
„Ly." Wulf stürmte auf die beiden zu. „Kind ist dir etwas geschehen?" Er schloss sie in seine Arme.
„Mir geht es gut", antwortete Lysan mit zitternder Stimme. „Mir geht es gut."
Sofort führte Wulf die beiden in die Siedlung zurück.
Die beiden Grauen lagen, unfähig sich zu bewegen, gefesselt am Boden. Ein hasserfüllter Schrei entfuhr der Kehle des Grauen, als er sah, dass Lysan am Leben war.
„Lysan. Gott sei Dank ist dir nichts geschehen." Tana lief ihnen entgegen. „Woher wusstest du, dass die beiden Graue sind? Die Sehenden konnten keinerlei Magie an ihnen feststellen."
„Der Mann", antwortete Lysan stockend. „Es ist der Mann aus meinen Albträumen. Der, dessen Gesicht ich nie erkennen konnte. Er sagte immer, dass man uns vernichten würde. Ich habe sein Gesicht nie gesehen, aber die Art, wie er sich bewegte. Ich war mir ganz sicher, dass er es ist. Er ist dieser starke Graue", fügte sie flüsternd hinzu.
Ein Kichern lies sie, zu den am Boden liegenden Grauen, herumfahren.
„Ihr glaubt doch nicht ernsthaft, dass mich diese lächerlichen Fesseln hier aufhalten werden."
Auch die Frau lachte hämisch, als sich die Fesseln der beiden Grauen in Nichts auflösten.
Langsam und sehr selbstsicher stand der Graue auf.
„Es ist so einfach, euch zu täuschen. Wir ahnten seit langem, in welcher Gegend ihr euch verkrochen habt. Unser Plan war so simpel. Wir mussten nur direkt nach der Geburt eines von den minderwertigen, weißmagischen Kindern nehmen und in diese Gegend ziehen. Die Gelegenheit, einen neugeborenen Weißen zu retten, würdet Ihr euch nicht entgehen lassen. Unsere Magie abzuschirmen, war ein Kinderspiel. Ihr seid ja so schwach und leichtgläubig. Und jetzt kümmere ich mich um das Mädchen. Clarissa halte die Leute hier in Schach." Er ging langsam auf Lysan zu.
Wulf schob Ly hinter seinen Rücken. Er würde sie mit aller Kraft verteidigen, selbst, wenn es sein Ende bedeutete. Der Graue lachte verächtlich. Ein Heben seiner Hand reichte aus, um Wulf in die Luft zu befördern und gegen die Wand des nächsten Hauses zu schleudern. Ohnmächtig blieb Wulf auf dem Boden liegen.
Lysan wich ängstlich zurück. Es fühlte sich alles so unwirklich an, so, als wenn sie nur ein Zuschauer wäre und nicht bald das Opfer dieses Mörders.
Der Graue kam immer näher.
„Komm, lass uns spielen", rief er ihr zu. „Ich versuche dich zu töten und du versuchst es, zu verhindern. Und bitte", fügte er lächelnd hinzu, „bitte streng dich ein wenig an. Ich will ja schließlich meinen Spaß bei der Sache haben."
Seine Begleiterin schüttelte sich vor Lachen.
Lysan sah hilfesuchend zu den Talbewohnern. Alle schauten sie mit vor Schreck geweiteten Augen an, aber niemand rührte sich.
Der Graue bemerkte ihren Blick. „Oh, von denen kannst du keine Hilfe erwarten. Clarissa hat dafür gesorgt, dass sie sich nicht bewegen können. Deine Freunde werden miterleben, wie ich ihre Hoffnung vernichte, bevor ich sie dann einen nach dem anderen auch töten werde."
Verzweifelt stolperte Lysan wieder einige Schritte zurück.
Sie suchte die Gebäude ab. War niemand mehr in der Lage, ihr zu helfen? Ihr Blick fiel auf das Gebäude, vor dem Wulf zusammengebrochen war. Doch Wulf war verschwunden.
Ein kleiner Hoffnungsschimmer keimte in ihr auf. Sie sah sich die Talbewohner an. Suchte die bekannten Gesichter. Es fehlten einige. Es waren tatsächlich nicht alle zu Salzsäulen erstarrt.
Wu, Eda, Tana, John und Bent konnte sie nirgendwo entdecken.
Sie wich wieder einige Schritte zurück.
„Na komm schon. Greif mich an", hörte sie den Grauen übermütig rufen. „Du willst doch wohl nicht kampflos aufgeben?"
Lysan ignorierte seine Worte. Sie suchte die Häuser ab. Da. Ein Schatten. Oder hatte sie es sich nur eingebildet? War es nur ein Wunschtraum?
Ein leises Sirren drang an ihr Ohr. Auch der Graue hatte es bemerkt. Er fuhr herum.
„Nein!" Sein Schrei erfüllte das ganze Tal, wurde von den Felswänden wieder und wieder zurückgeworfen.
Die Graue sah ihn mit ungläubigen Augen an. Dann fiel ihr Blick auf den Pfeil, der tief in ihrer Brust steckte und noch immer von der Wucht des Abschusses vibrierte. Langsam sank sie zu Boden, ihre Augen auf das tödliche Holz gerichtet. Als sie starb, löste sich der Bann, der die Talbewohner hatte erstarren lassen. Sie stoben auseinander und suchten hinter den Häusern nach Deckung.
Auch Ly nutzte ihre Chance und versteckte sich hinter dem Brunnen, der nur wenige Meter hinter ihr stand. Was konnte sie tun? Der Graue war ein voll ausgebildeter, starker Magier. Ihre Fähigkeiten waren zwar herausragend, aber sie noch längst nicht soweit sich mit ihm messen zu können. Und hier, hinter dem Brunnen, würde er sie schnell finden. Sie musste weg. Das nächste Haus lag mehr als einhundert Meter weit entfernt. Sie würde die Strecke nicht überwinden können, ohne dass der Graue sie bemerkte.
Sie dachte nach. Musste er sie sehen? Warum eigentlich? Sie konzentrierte sich auf den Umriss ihres Körpers. Langsam wurde er durchscheinend. Lysan hörte die Schritte des Grauen, der gemächlich auf den Brunnen zuschritt.
„Ich weiß, wo du dich versteckt hast. Komm raus und ich mache es kurz und schmerzlos."
Ly blickte an sich hinunter. Es war fast vollbracht. Nur, wenn man genau hinsah, konnte man eine fast substanzlose Form erkennen. Leise und vorsichtig begann sie, in die Richtung des nächsten Hauses zu robben. Sie blieb gebückt, bis sie sich vergewissert hatte, dass sie vollkommen unsichtbar war. Dann stand sie auf und lief hinter das Haus.
Der Graue hatte mittlerweile den Brunnen erreicht und umrundete ihn. Nichts. Sein Opfer war nicht zu sehen. Er runzelte die Stirn. Mit schnellen Schritten umrundete er erneut den Brunnen.
Lysan war so schnell gelaufen, dass sie fast mit Wulf zusammengestoßen wäre, der gerade den Bogen wieder gespannt hatte, um einen Pfeil auf den Grauen abzuschießen. Schnell sprang sie zur Seite, um nicht im Schussfeld zu stehen.
Wulf zielte sorgfältig. Sein Blick war starr auf den Grauen gerichtet. Seine rechte Hand hielt den Pfeil ruhig. Dann schnellte der Pfeil nach vorne.
Der Graue hörte das Sirren des schnellen Geschosses und versuchte zur Seite zu springen. Doch er war nicht schnell genug. Der Pfeil bohrte sich tief in seine Schulter.
Vor Schmerz und Überraschung brüllte er auf.
Nun griffen auch die übrigen Bewohner den Grauen an. Aus allen Verstecken feuerten sie Magiekugeln auf ihn ab und traktierten ihn mit Steingeschossen. Der Graue wehrte sich nach Kräften. Aber die stark blutende Wunde und etliche Magiekugeln, die trotz seiner verzweifelten Abwehrversuche ihr Ziel fanden, hatten ihn stark geschwächt. Aus einem Fenster des Ratshauses schoss eine gewaltige Kugel aus reiner, weißer Magie auf ihn zu. Er sah sie erst sehr spät, wollte ausweichen, wollte die Kugel seinerseits mit seiner Magie aufhalten. Aber er wurde getroffen, ehe er seinen gesunden Arm heben konnte.
Die gleißend helle Kugel verschmolz mit seinem Körper, loderte noch einmal auf und er verbrannte zu Asche.
Es war sehr still im Tal. Niemand bewegte sich.
Das hungrige Schreien des Babys, das noch immer im Karren lag, lies sie aus ihrer Erstarrung erwachen. Sie hatten gesiegt. Sie hatten tatsächlich die beiden Grauen vernichtet.
Wulf suchte Lysan. War ihr etwas geschehen? „Ly", rief er sorgenvoll.
„Ich bin hier, Onkel Wulf", hörte er direkt neben sich. Lysan wurde langsam wieder sichtbar. Wulf nahm sie in seine Arme. „Gott sei Dank. Dir ist nichts geschehen", flüsterte er leise.
Mittlerweile hatten sich alle Bewohner vor dem Ratshaus versammelt. Eda hatte den kleinen Jungen aus dem Karren gehoben und in eine dicke Decke gehüllt. Nochmals wurde er gründlich untersucht. Aber auch diese Untersuchung ergab, dass es sich um ein weißmagisches Kind handelte.
Die Leiche der Grauen wurde, zusammen mit der Asche ihres Gefährten, in der Nähe des kleinen Sees beerdigt.
Tana bot an, sich um das Baby zu kümmern. Niemand erhob Einwände.
Für den Abend wurde eine Versammlung aller Bewohner des Tales angekündigt. Die Ereignisse des Tages sollten besprochen und ausgewertet werden.