7.3 Gurus in Fleisch und Schrift – Die Ausbreitung des Sikhismus

Mit dem Tod Nanaks war die Gurureihe nicht abgebrochen und die Nachfolger bauten Lehre und Traditionen weiter aus. So begründete Amardas (1479 – 1574) die öffentliche Speisung der Menschen aller Herkunft, Religionen und Kasten, was eine religiös-sozialen Revolution wie auch missionarischen Erfolgsgeschichte darstellte. Sein Nachfolger Ramdas (1534 – 1581) begann den Bau des Goldenen Tempels in Amritsar, dessen nach allen vier Himmelsrichtungen offenen Tore die Einladung an alle Menschen verkörperte. Der nächste Guru Arjan (1563 – 1606) stellte mit dem Adi Granth die erste Heilige Schrift der Sikhs zusammen, die neben Beiträgen Nanaks und seiner Nachfolger auch Texte anderer und früherer Heiliger wie des erwähnten Kabir und Scheich Ibrahim enthielten.

Doch längst war die wachsende Schar der Sikhs auch zwischen die islamisch-hinduistischen Fronten geraten: Manche Muslime betrachteten sie als Lästerer, die nach-koranische Offenbarungen verkündeten, damit den Islam verhöhnten und seine weitere Ausbreitung gefährdeten. Und manche Hindus sprachen ihnen die eigene, religiöse Identität ab und verlangten die Rückkehr in das brahmanisch dominierte Religions- und Kastensystem. Auch gewaltsame Konflikte und Verfolgungen steigerten sich und unter Hargobind (1595 – 1644) nahmen Sikhs erstmals Schwerter in ihre Symbolik und ihren Alltag auf. Der Guru selbst wurde im Namen der islamischen Mogulherrscher getötet, wie später auch der neunte und vorletzte menschliche Guru Tegh Bahadur (1621 – 1675).

Am 13. April 1699, dem traditionellen Neujahrstag im Punjab, begründete Gobind Rai (1666 – 1708) mit einem dramatischen Aufnahmeritus der panj piaras („fünf Geliebten“) die Khalsa Panth, die „Gemeinschaft der Reinen“. Dabei wurden fünf Freiwillige hinter einem Vorhang schein-enthauptet und bewiesen damit ihre Bereitschaft, für die nun eigenständige Religionsgemeinschaft ihr Leben zu geben. Wenn auch die weiteren Beitrittswilligen nur mehr die unblutige „Nektar-Taufe“ (amrit-pahul) erwartete, so war damit doch der Schritt aus der innerhinduistischen Reformbewegung vollzogen. Alle „getauften“ Khalsa-Sikhs einschließlich des  Gurus erhielten nun die Nachnamen Singh (Löwe, Männer) bzw. Kaur (Prinzessin, Frauen), womit die gemeinschaftliche Identität betont und die an Namen feststellbare Kastenidentität weiter zurückgedrängt werden sollte.

Gobind Singh überarbeitete die Überlieferungen zum Granth Sahib und verkündete, dass dieses nach seinem Tod selbst zum lebendigen Guru werde. Seine eigenen Hymnen ließ er nicht in den Guru Granth Sahib einfließen, sie wurden später unter dem Namen Dasam Granth („Buch des Zehnten“) separat veröffentlicht. 

Doch entgegen der populären Wahrnehmung schlossen sich nicht alle Sikhs der Khalsa an. Manche wandten sich dem exklusiven Beispiel des ersten Gurus Nanak zu. Daneben entwickelten sich weitere, innersikhistische Traditionen um lebende Gurus, die es auch heute noch gibt. Die Ideale der Kastenüberwindung und der Gleichberechtigung von Mann und Frau setzten sich in der gelebten Realität nur teilweise durch. Und obwohl der Sikhismus im Grundsatz keine Priesterklasse kennt, entwickelte sich mit Berufung auf Siri Cand, einen Sohn Nanaks, auch eine kleine, zölibatäre Mönchstradition.

Mit dem Zerfall des islamischen Mogulreiches konnten die Sikhs im 19. Jahrhundert nicht nur endlich die oft blutigen Verfolgungen abschütteln, sondern auch für einige Jahrzehnte einen eigenen Staat erlangen. Doch 1849 fielen sie unter englische Besatzung, breiteten sich jedoch unter der englischen Herrschaft unter anderem als geschätzte Soldaten, Kaufleute und Beamte des Commonwealth aus und begründeten Gemeinschaften unter anderem in Afrika, Hong Kong und Europa, aber auch in Ländern wie Thailand, Malaysia, den Philippinen, Kanada und den USA. Während der Teilung Pakistans und Indiens, die sich auch mitten durch den Punjab zog, verloren zahlreiche Sikhs Leben und Heimat. Nationalistische Bestrebungen für einen eigenen Sikh-Staat Khalistan („Land der Reinen“) eskalierten auch durch eine unglückliche Politik der indischen Regierung unter Indira Gandhi (1917 – 1984), die nach einer blutigen Erstürmung des Goldenen Tempels durch Regierungstruppen von zwei Sikh-Leibwächtern erschossen wurde.

Dass wenige Jahrzehnte später der Sikh Manmohan Singh (geb. 1932) durch die Parteivorsitzende der Kongresspartei Sonia Ghandi – eine Schwiegertochter der Ermordeten - zum Ministerpräsidenten Indiens nominiert und gewählt wurde, spricht für die große Toleranz und Versöhnungsbereitschaft der indischen Kultur. Wenn auch Sikhs heute noch ihre religiöse Identität gegenüber hinduistischen Vereinnahmungsversuchen behaupten müssen, von manchen Muslimen als Apostaten verachtet und von westlichen Menschen wiederum als Turban tragende Muslime missverstanden werden, so haben sie sich doch ihren akzeptierten Platz in Indien sowie lebendige Gemeinschaften auf allen Kontinenten erreicht. Auch in Deutschland haben sich mehrere Sikh-Gotteshäsuer (Gurdwaras) etabliert. Der Sikhismus in Afghanistan ist praktisch erloschen, in Pakistan leben noch etwa 20.000 Sikhs.

In der westlichen Welt, vor allem in Nordamerika, breiteten sich zudem sikhistische Lehren über erfolgreiche Yogaschulen und einige missionarische Sikh-Bewegungen aus. Doch blieb die Zahl der Konvertiten, die dann auch in der doch sehr ethnisch geprägten Sikh-Gemeinschaft Akzeptanz und Partner fanden, letztlich überschaubar.

Zwar sind auch religiöse Sikh-Familien traditionell kinderreich, aber Integrationsdruck, Modernisierung, Individualisierung und religiöse Pluralisierung setzen auch den außerhalb Indiens nicht selten wohlhabend-bürgerlichen Sikh-Gemeinden zu. Wahrscheinlich wird das 21. Jahrhundert zeigen, ob sich der Sikhismus als Weltreligion halten und entwickeln kann oder zu einer ethnisch-religiösen Tradition innerhalb Indiens zurück schrumpft.