1.2 Judentum – Moses

 

Wenn vom Judentum die Rede ist, so wird häufig auch vom „mosaischen Glauben“ gesprochen. Die ersten fünf Bücher der hebräischen Bibel (des „Alten Testamentes“) werden ihm als die „Tora“ zugeschrieben und es heißt oft, Moses habe „das Judentum gegründet“. Die Wirklichkeit ist aber noch viel spannender.

 

So beginnt die biblische Selbsterzählung des Judentums nicht bei Moses, sondern bei: Adam und Eva. Im ersten Buch der Bibel heißt es, dass alle Menschen – Juden und Nichtjuden – vom gleichen Gott „nach seinem Ebenbild (be-Zelem-Elohim) geschaffen wurden und von den gleichen Ureltern abstammten. Was heute wie eine Selbstverständlichkeit klingt, war damals eine echte Sensation: Stammesreligionen unterscheiden häufig zwischen „Menschen“ (der eigenen Gruppe und Verbündeten) und „Nicht-Menschen“ (Fremden und besonders Feinden). Und andere große Religionen wie der Hinduismus lehren teilweise bis heute, dass Menschen in verschiedene Kasten (wörtlich „Farben“) geboren werden. Das gewachsene Judentum aber verkündete: Ein einziger Gott schuf alles Leben und auch alle Menschen – als Nachkommen einer Familie. Mehr noch: Dieser Gott darf nicht in Bildern dargestellt werden, sondern hat sein Ebenbild im Menschen verwirklicht.

 

Warum aber bemühen sich Juden dann nicht darum, alle Menschen zu ihrem Glauben zu bekehren? Die Antwort findet sich – bei Noah. Dabei handelt es sich nach jüdischem Glauben nicht nur um eine nette Geschichte mit Wasser, Tieren und Regenbogen, sondern um die Erzählung vom göttlichen Bund Gottes mit allen Lebewesen und allen Menschen. Nichtjuden können also als „Kinder Noahs“ betrachtet werden und durch das Führen eines gottgefälligen Lebens durchaus auch „Anteil an der kommenden Welt“ erlangen. Schon im alten Tempel und später auch in den Synagogen gab es Plätze für „Gottesfürchtige“ – Nichtjuden, die dennoch den Einen Gott verehrten. Und wer heute zum Judentum übertreten will (was möglich ist), wird entsprechend sogar darauf hingewiesen, dass dies gar nicht notwendig sei, um vor Gott zu bestehen – es sei als Jude sogar unter Umständen viel schwieriger!

 

Schon die erste Weltreligion unseres Buches widerlegt damit das Vorurteil, dass alle Religionen alle Anders- oder Nichtglaubenden für verdammt halten würden. Und zeigt, dass sich hinter vermeintlichen Kindergeschichten und Regenbögen manchmal Überraschendes finden lässt.

 

Adam, Eva, Noah – kommt jetzt Moses? Immer noch nicht. Es kommt noch Abraham, der als „Hebräer“ bezeichnet wird – was ein geringschätziger Ausdruck der damaligen Großreiche des Nahen und Mittleren Ostens für arme, machtlose Menschen und Schuldsklaven war. Auf seinen Sohn Isaak beziehen sich die Juden – und auf seinen anderen Sohn Ismael die Muslime. Isaaks Sohn Jakob rang laut 1. Buch Mose (Genesis) 32.23 33 tapfer mit Gott in Menschengestalt (oder, wie spätere Gelehrte interpretierten: einem Engel) und erhielt zur Belohnung den Namen Israel – Gottesstreiter. Und so heißt nicht nur der Staat Israel nach diesem Gottesringer, sondern beispielsweise auch die jüdischen Gemeinden in Baden-Württemberg „Israelitische Religionsgemeinschaft“. Die zwölf Söhne Israels, darunter Juda, gaben wiederum den israelitischen Stämmen den Namen – und aus Juda entwickelte sich die Bezeichnung „Jude“ und „Judentum“. Im ganzen Buch Genesis, dem „ersten Buch Moses“, also noch gar keine Spur von ihm!

 

Moses in der Bibel

 

Er begegnet uns erstmals im 2. Buch Mose (Exodus), als das Volk Israel unter ägyptische Knechtschaft geraten sei. Nicht die Männer, die auf dem Bau schuften müssen, sondern die Frauen halten hier die Tradition am Leben: Sie schenken vielen Kindern das Leben und halten die Gemeinschaft zusammen. Die Hebammen Schifra und Pua werden sogar namentlich genannt, da sie sich trotz pharaonischem Befehl weigern, die israelitischen Neugeborenen zu töten. Und so wird laut Bibel schließlich auch ein Baby von seiner verzweifelten Mutter im Schilf am Nilufer versteckt, von der Tochter des Pharao gefunden und adoptiert. Sie, die Ägypterin, gibt ihm den Namen Moses (ägyptisch: „Kind“) und zieht ihn am Königshof auf.

 

Später wird Moses einen ägyptischen Sklaventreiber erschlagen und sich damit auf die Seite seines Volkes stellen, dieses sammeln und Richtung Israel führen, auf der Flucht vor der Armee des Pharaos mancherlei Wunder erfahren, Gottes Gebote am Berg Sinai erhalten, aber auch zur Tötung von Abweichlern schreiten, die während seiner Abwesenheit das „Goldene Kalb“ – eine klassische Fruchtbarkeitsgottheit - verehrten. Er wird aber auch eine Nichtisraelitin heiraten und mit seinem Schwiegervater, einem „Priester von Midian“, gemeinsam Gott verehren. Im fünften Buch Mose (Deuteronomium) wird schließlich sein Tod auf dem Berg Nebo, in Sichtweite des verheißenen Landes Israel, berichtet – den er selbst also nicht aufgeschrieben haben kann.

 

Gab es Moses?

 

Außerhalb der Bibel finden sich keine sicheren Belege für die Existenz des Moses. Zwar sind Hebräer (Hapiru) als unterdrückte Arbeiter und Sklaven in Ägypten belegt, aber für die Geschichte des dramatischen Massenexodus fehlen die Belege. Daher wurde auch angenommen, Moses sei eine spätere Erfindung gewesen. So vertrat der Begründer der Psychoanalyse Sigmund Freud (1856 – 1939), der selbst einer jüdischen Familie entstammte, die These, dass es sich bei Moses eigentlich um den legendären Pharao Echnaton (14. Jahrhundert v. Chr.) gehandelt habe. Dieser war mit dem Versuch gescheitert, den ägyptischen Vielgötterglauben (Polytheismus) durch den Glauben an nur noch einen Gott (Monotheismus), Aton, zu ersetzen. Könnten die frühen Juden nicht einfach die Geschichte dieses Ur-Monotheisten aufgenommen und für die eigene Tradition umgeformt haben?

 

Nach intensiven Forschungen sowohl zur Entstehung der Bibeltexte wie auch durch die Archäologie sind jedoch einlinige Herleitungen von Moses immer fragwürdiger geworden: Weder ist davon auszugehen, dass sich alles genau so abspielte, noch, dass alles nur erfunden war. Vielmehr gibt es frühe und sehr unterschiedliche Moses-Überlieferungen, die dann miteinander verbunden, vermischt und neu ausgelegt wurden. Wahrscheinlich gab es einen Menschen namens Mose, dem dann nach und nach immer mehr Bedeutendes zugeschrieben wurde, bis er schließlich zum Zentralhelden des jüdischen Glaubens geworden war.

 

Die jüdischen Schriftgelehrten selbst beobachteten diese Fortschreibung sogar der schriftlich fixierten Traditionen übrigens bereits im Babylonischen Talmud mit einer Mischung aus Weisheit und Humor. So heißt es im Traktat Menachot:

 

„Als Mose zum Himmel fuhr, fand er den Allmächtigen damit beschäftigt, jeden einzelnen Buchstabe der Tora mit Blümchen und Zeichnungen zu zieren. Mose fragte Gott, was er da tue, und Gott antwortete, dass in einer der künftigen Generationen ein Mann sein werde, der aus jedem einzelnen Zug der Feder Haufen von Regeln herleiten würde: Akiba ben Josef. Da wünschte sich Mose, den Mann sehen zu dürfen, was ihm auch versprochen wurde. Die Tage des Akiba kamen und Mose besuchte dessen Schule, setze sich in den hinteren Reihen und hörte zu. Er verstand aber die gelehrten Argumentationen nicht und wurde mehr und mehr bestürzt. Als sich ein schwieriges Problem stellte und ein mutiger Schüler Akiba fragte, woher er die Autorität nehme, um seine Regel herzuleiten, antwortete der Rabbi: ‚Es ist eine Vorschrift des Moses, aus dem Sinai.‘
Da wurde Mose wieder stolz und munter.“

 

Und tatsächlich entspricht diese frühe Beobachtung auch dem Stand heutiger Forschung: Kein Mensch ist für sich „Religionsstifter“ und keine von Menschen gelebte Tradition steht jemals still. Vielmehr wachsen aus mündlichen wie auch schriftlichen Überlieferungen immer neue Deutungen, Mythen und Varianten, die sich meist auch um zentrale Personen sammeln. Wie aus einem Sandkorn oder einer Epithelzelle in einer Muschel eine Perle wird, indem sich Perlmutt anschichtet, so kann aus einem Menschen schließlich der Zentralheld ganzer Völker und Religionen werden. Ob es sich dabei einfach um historische Zufälle oder Gottes wundersame Wege der Erwählung und fortlaufenden Offenbarung handelt, kann die Wissenschaft nicht entscheiden. Man kann es also je glauben – oder auch nicht glauben.