4.2 Hinduismus – Kein einzelner Religionsstifter
Da der Hinduismus aus abertausenden regionaler Traditionen zusammenfloss sind durchaus bedeutende Gelehrte und Reformer zu entdecken, aber keine einzelne Person, die auch nur annähernd als „Religionsstifter“ bezeichnet werden könnte. Stattdessen treten immer wieder bedeutende Persönlichkeiten hervor, die – oft als religiöse Leiter, Gurus – die Tradition für ihre Anhängerschaften aufgreifen und deuten.
Die bekannteste, hinduistische Persönlichkeit des 20. Jahrhunderts ist unbestritten Mohandas Karamchand Ghandi (1869 – 1948), der beispielhaft westliche und indische Bildung verknüpfte, hinduistische Traditionen mit Lehren anderer Religionen verband und indischen Nationalismus mit der Bejahung von Demokratie und Pluralität zusammenbrachte.
Ghandi wurde zu Zeiten der britischen Kolonialherrschaft in eine Familie leitender Beamter in Gujarat geboren. Seine Familie war praktizierend hinduistisch, gehörte der höheren Vaishya-Kaste (eigentlich: Kaufleute) an und unterhielt auch freundschaftliche Beziehungen zu Angehörigen anderer Religionen. So übernahm auch Ghandi später das Konzept des Ahimsa (entschiedene Gewaltlosigkeit) aus dem Jainismus, der in Gujarat stark verbreitet war. Mit 13 Jahren wurde er mit seiner Frau Kasturba verheiratet.
Obgleich seine Mutter Bedenken hatte – das Verlassen von Indien galt insbesondere für höherkastige Hindus als unrein und ihm drohte die Aberkennung seines Kastenstandes – nahm Ghandi nach Schule und Studium in Indien 1888 in London ein Jurastudium auf. Dort entwickelte er auch eine Wertschätzung von Christentum und demokratischem Rechtsstaat, vertiefte sich in hinduistische Schriften (vor allem die Bhagavad Ghita) und las auch über Buddhismus und Islam.
Als Rechtsanwalt in Südafrika wurde Ghandi – gewöhnt an das Leben eines respektierten Angehörigen der indischen Oberschicht – als „Farbiger“ mit Diskriminierung und Rassismus konfrontiert. Er begann, sich als Bürgerrechtler vor allem für die Interessen der etwa 60.000 Inder einzusetzen, die von den Briten nach Südafrika geholt worden waren. Bis 1914 gelang es ihm mit Strategien des gewaltlosen Widerstandes deutliche Verbesserungen zu erzielen und er kehrte nach Indien zurück.
Dort gründete er einen eigenen Ashram (wörtlich: „Ort der Anstrengung“, ein hinduistisches Zentrum) und lehrte den gewaltlosen Widerstand gegen die britische Kolonialherrschaft. Dazu legte er sich elf Selbstverpflichtungen auf, die er auch dem wachsenden Kreis seiner indischen und zunehmend auch nichtindischen Anhänger empfahl: 1. Liebe zur Wahrheit (Satyagraha). 2. Gewaltlosigkeit (Ahimsa). 3. Keuschheit. 4. Desinteresse an Materiellem. 5. Furchtlosigkeit. 6. Vegetarische Ernährung. 7. Nicht stehlen. 8. Körperliche Arbeit. 9. Gleichheit der Religionen. 10. Einsatz für die Kastenlosen (Dalit, wörtl. „Zerbrochenen“, Unberührbaren) und 11. Verwendung inländischer Produkte. 1936 gründete er einen zweiten Ashram im dörflichen Kontext.
Zunehmend wurde er nun auch in der indischen Öffentlichkeit als bapu (Vater) und Mahatma (wörtlich „große Seele“) bezeichnet und zu einer Ikone des indischen Nationalkongresses, der die Unabhängigkeit des Landes forderte. Mit öffentlichkeitswirksamen Kampagnen trug Ghandi entscheidend dazu bei, dass Großbritannien schließlich 1947 die Unabhängigkeit Indiens anerkannte.
Doch Ghandis Versuche, auch zwischen Muslimen und Hindus zu vermitteln, scheiterten. Es kam zu Ausschreitungen, Massakern und Vertreibungen sowie der Abspaltung der mehrheitlich islamischen Regionen der heutigen Staaten Pakistan und Bangladesch. Am 30. Januar 1948 wurde Ghandi von einem fanatischen Hindu-Nationalisten ermordet.
Das Beispiel des frommen Hindus Ghandi, der sich auch von den Lehren des Christentums und anderer Religionen hatte inspirieren lassen, wirkte nicht nur in den hinduistischen Traditionen weiter. Es beeinflusste umgekehrt auch Christen wie Martin Luther King (1929 – 1968), Albert Schweitzer (1875 - 1965) sowie die Kultur der überkonfessionellen Bürgerrechts-, Friedens- und Umweltschutzbewegungen.