3.3 Der Islam wird zur zweitgrößten Weltreligion
Der Tod des Gesandten im Jahr 632 löste eine erste Krise der islamischen Gemeinschaft (Umma vgl. arab. umm = Mutter) aus. Wer konnte, wer sollte Nachfolger (Halifa, Kalif) des Muhammad werden? Hatte dieser seinen Vetter und Schwiegersohn Ali als Nachfolger ausersehen, wie die Partei Alis (Schiat Ali) verkündete? In einer Art Wahlversammlung (schura) entschied eine Mehrheit zunächst anders und wählte Abu Bakr (632 – 634), dann Umar (634 – 644), Uthman (644 – 656) und schließlich Ali (656 – 661). In diesen Jahren wurde der bislang rezitierte Koran verschriftet und kanonisiert und das islamische Reich enorm ausgeweitet. Viele Völker, darunter auch altorientalische Christen und Juden, begrüßten die Muslime als Befreier von byzantinischem und persischem Joch und auch immer mehr Neumuslime wandten sich dem aufstrebenden Glauben zu. Bestehende religiöse Minderheiten wurden meist als Schutzbefohlene (dimmis) mit erhöhten Steuersätzen, aber sogar eigener Gerichtsbarkeit in den islamischen Gebieten toleriert und trugen so erheblich zu deren kulturellen und wirtschaftlichen Aufschwung bei.
Zugleich wuchsen jedoch auch die Spannungen innerhalb der Umma und es vollzog sich, analog zum Christentum nach der konstantinischen Wende, ein Wandel: Nicht mehr die auch gegen Widerstände Glaubenden, sondern die neu eintretenden, bisherigen Führungsschichten begannen den Ton anzugeben. Als Ali 661 nach schweren Kämpfen von einem Attentäter ermordet wurde, ernannte sich so der syrische Statthalter Muawiya mit der Macht seiner Truppen zum Kalifen und begründete mit der Nachfolge seines Sohnes die erste Dynastie – die Zeit der durch Wahlen bestimmten und bis heute oft als „rechtgeleiteten“ (rashidun) empfundenen Kalifen war zu Ende.
Mit der blutigen Verfolgung der Ali-Nachfahren und ihrer Anhänger bildete sich zudem die Schia als erste eigene Konfession innerhalb des Islam heraus, die besonders in Oppositionskreisen und unter den stolzen und araberkritischen Persern bleibende Anhängerschaft fand. Aber auch die bald riesigen Gebiete der sunnitischen Kalifate zerfielen faktisch in zahlreiche Regionalreiche, in denen der Islam sich mit den Ethnien und Kulturen verband und beispielsweise mit den Mogulkaisern von Afghanistan bis tief nach Indien reichte oder mit dem Osmanischen Reich bis vor die Tore Wiens gelangte.
Der Erfolg des Islam ging dabei jedoch keineswegs nur auf „Feuer und Schwert“ zurück, wie ein beliebtes Vorurteil bis heute behauptet. Eine große Rolle spielten auch Kaufleute und volksnahe Mystiker (Sufis), die christliche und buddhistische Einflüsse aufnahmen und den globalen Islam mit lokalen Kulturen zu farbenreichen Traditionen verbanden. So wurde beispielsweise Indonesien, die mit knapp 240 Millionen Einwohnern bis heute zahlenmäßig größte, dominant islamische Nation der Welt, nie von einem islamischen Heer erobert. Auch entstanden über die sunnitischen und schiitischen Konfessionen hinaus zahlreiche islamische Sondergemeinschaften und Synkretismen, schließlich auch eigene Religionen wie der Alevismus, der Sikhismus und Bahaismus (vgl. Kap. 7 und 8).
Hatten die Muslime die europäischen Kreuzfahrer des Mittelalters wieder vertrieben, so hatten sie aber einige Jahrhunderte später dem Ägyptenfeldzug von Napoleon Bonbaparte (1769 – 1821) nichts mehr entgegen zu setzen. Bald schon gerieten fast alle islamischen Gesellschaften unter westlich-europäische Vorherrschaft, die bis heute als oft schwere Demütigung erfahren wird. Was war geschehen?
Die Forschungen sind noch nicht abgeschlossen, doch scheint es, als hätte gerade die allzu lange Verschmelzung von religiöser und politischer Macht die eindrucksvolle Blüte islamischer Hochkultur langsam in eine Stagnation übergehen lassen. Dagegen gelang es in Europa insbesondere im Gefolge der Reformation, Kirchen, Staaten, Wirtschaften und Wissenschaften klarer zu unterscheiden und dadurch voneinander zu befreien: Christliche Kirchen entwickelten Wettbewerbsdynamiken, die Staaten entfalteten säkulares und schließlich demokratisches Recht, die Marktwirtschaft entfesselte Wellen von Innovation und Industrialisierung und die Wissenschaften revolutionierten Weltbilder und Technologien.
Anfang des 20. Jahrhunderts brach schließlich das Osmanische Reich unter europäischen Schlägen zusammen und das Kalifat wurde 1924 abgeschafft. Namhafte Herrscher wie Kemal Atatürk (1881 – 1938) in der Türkei, Gamal Abdel Nasser (1918 – 1970) in Ägypten, Mohammad Rezah Schah (1919 – 1980) im Iran oder auch Saddam Hussein (1937 – 2006) im Irak setzten auf vor-islamische Nationalismen und die Unterwerfung der Religion und der Geistlichen unter den Staat. Das weitgehende Scheitern aber auch dieser Bestrebungen führte seit den 70er Jahren zu einer Wiederbelebung islamisch-politischer Bewegungen, von denen ein wachsender Teil analog zu den europäisch-deutschen Christdemokraten eine Versöhnung von Islam, Demokratie und Moderne anstrebt, ein fundamentalistischer und teilweise auch gewalttätiger Flügel jedoch eine Rückkehr zu einem vermeintlich „reinen“ Ur-Islam einschließlich der Abwehr aller nichtmuslimischen Einflüsse anstrebt. Welche Seite sich in diesem innerislamischen Ringen schließlich durchsetzen wird (und wie klug sich die bereits demokratischen Gesellschaften dabei verhalten) wird für die Geschichte des 21. Jahrhunderts von entscheidender Bedeutung sein.