1.3 Judentum – Volk und Gemeinschaft
In 5. Moses (Deuteronomium) 26,5 wird der Israelit aufgerufen, beim Betreten des verheißenen Landes vor Gott, Priester und Altar zu bekennen: „Mein Vater war ein heimatloser Aramäer. Er zog nach Ägypten und lebte dort mit wenigen Leuten als Fremder. Aber er wurde zu einer großen, starken und zahlreichen Nation.“
Das Judentum wuchs auch nach eigenem Verständnis aus einer Stammesreligion heraus. Auf diesem Wege legte es den Polytheismus (die Anbetung mehrerer Götter) wie auch die bildliche Darstellung der Gottheit zunehmend ab. (Zu den noch geheimnisvollen Hintergründen, vgl. Kap. 1.5). Ab etwa 1000 v.Chr. entstand das (Stammes-)Königreich Israel, das schließlich in das südliche „Juda“ mit der Hauptstadt Jerusalem und das nördliche „Samaria“ zerfiel.
Der babylonische Herrscher Nebukadnezar II. zerstörte den Jerusalemer Tempel und verschleppte die judäische Oberschicht ins „babylonische Exil“. Der Perserkönig Kyros, der in der Bibel als Nichtjude und doch Gottesgesalber, Messias, gefeiert wird, erlaubte den Judäern 538 v. Chr. die Rückkehr und den Wiederaufbau des Tempels. Das Judentum grenzte sich nun stärker von anderen Religionen ab, verarbeitete aber zugleich auch viele Elemente (etwa die Vorstellung eines bösen Widersachers Gottes) aus dem persischen Zoroastrismus. Die deutlichere Abgrenzung galt auch den Samaritanern, die auf dem Berg Garizim einen eigenen Tempel errichteten.
Auf die religiös toleranten Perser folgen griechische und später römische Vorherrschaft und es kam zu Konflikten und Aufständen. Während einer kurzen Zeit der Unabhängigkeit verbanden die Hasmonäer die politische und hohepriesterliche Macht und zerstörten 125 v. Chr. auch den konkurrierenden Tempel auf dem Garizim. Bis heute leben noch einige Hundert Samaritaner an der Stätte und entsenden einen Vertreter ins palästinensische Parlament.
Doch ganz Israel geriet wieder unter römische Herrschaft und nach einem Aufstand zerstörte eine römische Armee unter Titus 70 n. Chr. den Jerusalemer Tempel und leitete die Vertreibung der Juden ein, nur wenige blieben im Land. Nun lebten sie als Religionsgemeinschaft über die Welt verstreut. Einige orthodoxe Strömungen halten bis heute an der Auffassung fest, dass erst der Messias Israel wieder errichten dürfe. Doch als sich im 19. Jahrhundert säkulare und nationalistische Vorstellungen auch unter Juden zu verbreiten begannen, die von den Mehrheitsgesellschaften oft ausgegrenzt wurden, entstand der „Zionismus“, der von der Wiedergewinnung einer nationalen Heimstatt träumte. Unter dem Druck von Diskriminierung und Verfolgung sowie schließlich der NS-Massenmorde siedelten immer mehr Juden nach Palästina über und 1948 erfolgte die Ausrufung des Staates Israel.
Halten wir fest: Gerade „weil“ Israel ein kleines Volk zwischen mächtigen Großreichen war und mehrfach unterworfen, verschleppt, seiner Städte und Tempel beraubt wurde, setzten sich die Schriftgelehrten (später: Rabbiner) immer stärker gegenüber politischen Herrschern einerseits und den klassischen Tempelpriestern andererseits durch. Israel wurde zum „Gottesvolk des Buches“ – und blieb es auch, als die nach Nordeuropa ausgewanderten Juden aschkenasische (hebr: deutschländische), die ans westliche Mittelmeer gezogenen Sephardim (hebr. für Spanier) und auch afrikanisch-jüdische Stämme je eigene Traditionen entwickelten. Der in den Schriften niedergelegte und in Gottesdiensten und Familienritualen gelebte Glaube blieb dabei die verbindende Klammer. Und so wurde Hebräisch die bisher einzige Sprache der Weltgeschichte, die nur noch in Ritualen überlebt hatte, dann aber mit der Neugründung des Staates Israel wieder zu einer gemeinsamen, lebendigen Nationalsprache erneuert wurde.
Wie aber konnten die Juden manchmal Jahrhunderte militärischer und auch kultureller Unterwerfung, der Verschleppungen, Vertreibungen und Existenz als oft diskriminierte Minderheit überleben? Warum lösten sie sich nicht einfach durch Assimilierung in die umgebenden Mehrheiten auf?
Die Antwort findet sich schon in der (halb-mythischen), im letzten Kapitel kurz geschilderten Exodus-Geschichte der Bibel: Der gemeinsame und zunehmend strenge Glauben an (nach und nach) nur noch einen Gott schuf eine hohe Verbindlichkeit und ein klares Regelwerk: Man konnte sich seine Gottheit und deren Regeln nicht mehr je nach den eigenen Wünschen aussuchen. Entweder man teilte den überlieferten Glauben an die besondere Geschichte mit diesem ganz bestimmten Gott und den daraus erfolgenden Geboten, oder man ging in den umgebenden Mehrheiten auf. „Der Schabbat hat die Juden mehr gehalten als die Juden den Schabbat.“ ist eines von vielen Sprichwörtern, mit dem jüdische Beobachter die Wirkung der eigenen Gebote beschrieben. Als „Halacha“ (deutsch: gehen, beschreiten) wird dabei ihre Auslegung beschrieben.
In jüdischen Gemeinden konnte so ein intensives, religiöses Leben und ein höheres, gegenseitiges Vertrauen wachsen – das auch erfolgreiche Kultur- und Handelsbeziehungen ermöglichte -, aber auch eine familien- und kinderbejahende Tradition. Schon die ersten Worte Gottes an die gerade erschaffenen Menschen und nach jüdischem Glauben damit auch das erste Gebot, lautete: „Seid fruchtbar und mehret euch!“ (Genesis 1,28) und wurde durch die Einrichtung von Schulen und Stiftungen unterstützt.
Den umliegenden Völkern war diese Kombination aus Abgrenzung, Erfolg und Wachstum – wie schon dem biblischen Pharao – oft ein Dorn im Auge. Und so mangelte es schon in der ägyptischen, griechischen und römischen Antike nicht am Vorwurf der Arroganz und Vorurteilen, an üblen Verschwörungstheorien und oft auch Gewalt gegen die religiöse Minderheit. Politische Herrscher nahmen jüdische Gemeinden bisweilen „in Schutz“, ließen sich diesen aber meist auch teuer bezahlen.
Aber bis heute weisen fromme Juden betont große Familien auf, so dass sich ihre Gemeinschaften auch nach schlimmsten Zeiten der Verfolgung und Vernichtung – wie dem Holocaust, jüdisch die Schoah (hebr. Katastrophe) – doch wieder zahlenmäßig erholen konnten. Und gerade „weil“ Juden nicht glaubten, Anders- oder Nichtglaubende per Bekehrung „retten“ zu müssen, konnten sie sich ihrerseits um Frieden mit anderen Religionen und Kulturen bemühen und entscheiden, wen und was sie in die eigenen Gemeinschaften aufnahmen. Stilbildend rief der biblische Jeremia der im babylonischen Exil lebenden, verschleppten Gemeinde zu: „Bauet Häuser, darin ihr wohnen möget, pflanzet Gärten, daraus ihr Früchte essen möget; nehmet Frauen und zeuget Söhne und Töchter; nehmet euren Söhnen Frauen und gebet euren Töchtern Männern, dass sie Söhne und Töchter zeugen; mehret euch daselbst, dass euer nicht wenig sei. Suchet der Stadt Bestes, dahin ich euch habe lassen wegführen, und betet für sie zum HERRN; denn wenn's ihr wohl geht, so geht's auch euch wohl.“
Heute weist der Staat Israel vor allem aufgrund der schnell wachsenden, streng religiösen Gemeinschaften als einziger, westlicher Staat stabil mehr als zwei Geburten pro Frau auf. Weltweit leben derzeit etwa 15 Millionen Menschen, die von einer jüdischen Mutter geboren wurden oder zum Judentum konvertierten und also „halachisch“ als Juden gelten, davon knapp die Hälfte in Israel.
Juden werten andere Völker und Religionen also nicht grundsätzlich ab und behaupten auch nicht, bessere Menschen zu sein, oder dass Gott nur ihr Volk geschaffen habe und liebe. Der Prophet Amos warnt laut Bibel sogar ausdrücklich vor Rassismus und Überheblichkeit, vor denen kein Menschenvolk gefeit ist und bekräftigt, dass Gott auch die Geschicke anderer Völker leitet:
„Seid ihr Kinder Israel mir nicht gleich wie Mohren? spricht der Herr. Habe ich nicht Israel aus Ägyptenland geführt und die Philister aus Kaphthor und die Syrer aus Kir?“