2.3 Das Christentum wird zur Weltkirche

 

Jesus selbst war nicht „Christ“, sondern frommer Jude. Und auch seine ersten Anhänger gehörten ausnahmslos dem jüdischen Glauben an. In überlieferten Aussagen und der von gegenseitigem Respekt geprägten Begegnung etwa mit dem gottesfürchtigen, aber sicher nicht jüdischen Hauptmann (Zenturio) von Kafarnaum wird auch deutlich, dass Jesus klassisch-jüdisch keine Notwendigkeit gesehen hatte, Nichtjuden zu bekehren.

 

Mit dem Tod Jesu an Pessach, das zum christlichen Ostern wurde, ging die Bewegung jedoch nicht ein. Zunächst einige, dann immer mehr Jesusanhänger verkündeten, dass Jesus von den Toten auferstanden sei, also den Tod stellvertretend für die kommende Zeit bereits besiegt und das verheißene Gottesreich eingeleitet habe. Als sich an Schawuot immer mehr Menschen zu dieser Lehre bekannten, entstand das christliche Pfingstfest – sozusagen der Geburtstag der Kirche.

 

Die Lehre von Christus (der griechischen Übersetzung von Maschiach, dem Gesalbten) breitete sich vor allem in der griechischsprachigen Welt schnell aus (vgl. Kap. 1.5) und wurde auch von Nichtjuden aufgegriffen, was zu gemischten Gemeinden und wachsenden Spannungen zwischen „Judenchristen“ und „Heidenchristen“ führte. Klassisch-antike Mythologien wie die Gottessohnschaft und die Jungfrauengeburt wurden nun auch auf Jesus bezogen.

 

Eine Zeit lang wurde in der Forschung sogar diskutiert, dass man statt Jesus doch Paulus von Tarsus als „Religionsstifter“ des Christentums bezeichnen könnte. Der jüdisch-römische Gelehrte Schaul (römisch: Saulus) war Jesus zu dessen Lebzeiten nie begegnet sondern hatte sich an frühen Christenverfolgungen beteiligt. Nach einem Bekehrungserlebnis zum „Paulus“ geworden, wurde er jedoch zu einem der bedeutendsten Verkünder der neuen Botschaft und stellte als Verfasser biblischer Briefe die neue Religion auf ein eigenes, neues Fundament. Dagegen spricht allerdings, dass sich der Neubekehrte längst einer entstehenden Christenbewegung gegenüber sah und dass sich neben ihm (beispielsweise im entstehenden Johannesevangelium) ebenfalls bereits Verschiebungen der jungen Tradition vom Juden- zum griechisch-römischen Heidenchristentum vollzogen. Neutraler wird man also sagen können, dass Paulus wichtigen Einfluss nahm, als sich das Christentum zu globalisieren und bereits bestehende philosophische und religiöse Systeme aufzusaugen begann. Er beeinflusste die Strömung des Flusses, war jedoch nicht seine Quelle. Nach ihm kamen weitere, vergleichbar einflussreiche Gelehrte, für die Westkirchen zum Beispiel Augustinus (354 – 430).

 

Die Zerstörung des Jerusalemer Tempels und die Zerstreuung der jüdischen Gemeinden um 70 n. Chr. betraf auch die noch immer mehrheitlich jüdischen Christen. Zugleich wuchsen die Spannungen, nachdem die anderen Juden sich zur Wahrung ihrer bedrohten Identität auch gegen die entstehende, christliche Tochterreligion abgrenzten. Umgekehrt erhoben Christen gegen sie den Vorwurf des Jesusmordes und deuteten die Tempelzerstörung als göttliche Strafe dafür. Mutter- und Tochterreligion lösten sich voneinander.

 

Römische Diskriminierungen und Verfolgungen konnten den Aufstieg des Christentums nicht nachhaltig bremsen – vielmehr schweißte das Leid und Martyrium (griechisch: Zeugnis, Beweis) der Verfolgten die Gemeinden zusammen und verlieh ihnen Glaubwürdigkeit. Zu den Missionserfolgen traten intensive Sozialbeziehungen in den entstehenden Kirchen sowie die vom Judentum entlehnte, strengere Ehe- und Familienmoral, die auch Christen größere Familien bescherte. Die altantiken Religionen zerfielen dagegen gemeinschaftlich und demografisch. In nur drei Jahrhunderten wuchsen die Christen zur größten Religionsgemeinschaft des römischen Reiches und Kaiser Konstantin I. (ca. 280 – 337 n.Chr.), ein Sohn des entschieden Christenverfolgers Kaiser Diokletian, vollzog schließlich den Schwenk. Konstantin ließ die unaufhaltsam aufstrebende, christliche Lehre zunächst tolerieren, förderte staatstreue Varianten, verschmolz sie mit bestehenden Sonnenkulten und ließ sich schließlich auf dem Totenbett taufen.

 

Die Umwandlung zu Staatskirchen (z.B. in Armenien bereits um 301 n.Chr., ebenso in Äthiopien usw.) veränderte jedoch nicht nur die Strukturen und Machtverhältnisse, sondern führte auch zum Zustrom vieler Neuchristen aus den etablierten Oberschichten an die Taufbecken. Die Kirchen wurden prunkvoller und rückten zugleich von ihrer Basis aus Armen und Bedrängten stärker an die Seite der Reichen und Herrschenden. Bis heute schwanken christliche Traditionen immer wieder zwischen solchen Bündnissen mit staatlichen Herrschern und der Glut der frühen Sozial- und Reformbewegung.

 

Wie jede wachsende Religion brachte auch das frühe Christentum von Anfang an eine große Vielfalt und viele, oft erbittert streitende Varianten hervor. Beispielsweise entwickelte sich in Ägypten das Asketen- und Mönchtum und in gotisch-germanischen Stämmen setzte sich zeitweise der Arianismus durch, nach dem auch Jesus nur ein Geschöpf Gottes gewesen sei. Insgesamt sieben (heute „altkirchlich“ genannte) Konzile sollten diese Lehrdebatten entscheiden, schufen dabei immer komplexere Lehrgebäude wie die Trinität und beförderten weitere Abgrenzungen. So erkennen einige „altorientalische“ Kirchen nur zwei oder drei der Konzile an, einige christliche Sondergemeinschaften gar keine.

 

Mit dem weiteren Zerfall des weströmischen Reiches lösten sich vor allem oströmische Traditionen und wurden zu eigenständigen, orthodoxen Nationalkirchen etwa Russland, Bulgariens, Griechenlands usw. Aber auch in Mittel- und Nordeuropa erhoben sich immer neue Varianten, die teilweise verfolgt und zerschlagen wurden wie die Katharer (Schmähruf „Ketzer“), in verborgenen Tälern überlebten wie die Waldenser oder sich schließlich abzuspalten vermochten wie die Lutheraner, die Calvinisten, die von einem englischen König ins Leben gerufenen Anglikaner u.v.m. Soweit diese Kirchen noch die altkirchlichen Konzilien anerkennen werden sie als „protestantische“, „reformierte“ und „evangelische“ Kirchen bezeichnet. Spätere Abspaltungen wie die Mormonen, die Zeugen Jehovas oder die anthroposophische Christengemeinschaft gelten dagegen als christliche Sondergemeinschaften.

 

Die große und weiter wachsende Vielfalt christlicher Varianten und der Wettbewerb zwischen ihnen hat jedoch die Ausbreitung des Christentums zur zahlenmäßig größten Weltreligion eher befördert. Heute gehören mehr als zwei Milliarden Menschen, fast jeder dritte Erdenbürger, einer der abertausenden Kirchen an, die sich auf Jesus beruft – etwa die Hälfte davon der römisch-katholischen Kirche. Während das Christentum in Europa durch Austritte und Geburtenarmut schrumpft, wächst es in Asien und Afrika weiterhin dynamisch.