6.5 Die Physik des Tao und andere Dialogversuche
Schon im 19. Jahrhundert setzte in Europa eine Taoismus-Begeisterung ein, die etwa durch erfolgreiche Schriften des katholischen Theologen Hermann Schell (1805 – 1906) ausgelöst wurde. Aber auch evangelische Kollegen wie Richard Wilhelm (1873 – 1930), der Trappistenmönch Thomas Merton (1915 – 1968) oder der jüdische Religionsphilosoph Martin Buber (1878 – 1965) begeisterten sich für das Taoteking. Auf philosophischer Seite würdigten unter anderem Carl Gustav Jung (1875 – 1961), Karl Jaspers (1883 – 1969) und Eugen Rosenstock-Huessy (1888 – 1973) den chinesischen Kollegen. Ernst Bloch (1885 – 1997) nahm ihn in das „Prinzip Hoffnung“ auf, Bert Brecht (1898 – 1956) widmete ihm ein Lied und Martin Heidegger (1889 – 1976) versuchte sich an einer deutsch-chinesischen Übersetzung des Taoteking.
Der endgültige Durchbruch insbesondere des Ying-und-Yang-Symbols in die Populärkultur gelang jedoch durch das Buch „Die Physik des Tao“ (1977) des Physikers Fritjof Capra (geb. 1939). In dem weltweit übersetzten Bestseller vertrat Capra dabei die Auffassung, dass wesentliche Entdeckungen der modernen Quantenphysik bereits in den chinesischen Weisheitstraditionen zu finden und durch diese besser als durch den „griechischen Atomismus“ zu verstehen seien – eine Labsal für post-christliche und sinnsuchende, auf die Versöhnung von West und Ost, Wissenschaft und Religion hoffende Zeitgenossen.
Kritiker dieser Taoismus- und Fernost-Begeisterung blieben jedoch nicht aus. Sie wiesen darauf hin, dass all die theologischen, philosophischen, politischen und naturwissenschaftlichen Sucher in die fremden Texte vor allem hinein lasen, was sie ohnehin zu finden hofften. Die aus dem Kontext gerissene Zitierweise und die Vielzahl an nach Belieben zu verwendenden Übersetzungen erlaube eine große Beliebigkeit der Auslegung. Letztlich bedienten sich die westlichen Denker der bestenfalls halb verstandenen Fernostzitate, um die je eigenen Aussagen – in Capras Fall: seine Lesarten der Quantenphysik - mit vermeintlich höheren Weihen zu popularisieren. Auf die Begeisterung folgte der Spott und gegen Ende des 20. Jahrhunderts erlahmte die Taoismus-Rezeption daher auch schon wieder.
Aus heutiger, religionswissenschaftlicher Sicht lässt sich milder urteilen: Alle Texte und Erfahrungen, seien sie traditioneller oder moderner, religiöser oder wissenschaftlicher Art, erschließen sich Menschen immer nur durch Interpretationen und Übersetzungen vor dem eigenen Verständnishorizont. Gerade auch vom Taoteking gab und gibt es nicht „die“ Auslegung, sondern eine Vielzahl von zeit- und kontextbezogenen Deutungen.
Jeder Dialog – zwischen Religionen, Philosophien, Weltanschauungen oder wissenschaftlichen Lesarten – wirkt sich demnach in beide Richtungen aus: Er fügt dem Gedeuteten neue Deutungsvarianten hinzu und eröffnet den Deutenden neue Sprach- und Denkwege. Zwischenmenschliche Dialoge sind Prozesse, die sich nicht nur auf der rationalen Ebene auswirken, sondern auch soziale und emotionale Wahrnehmungen wertschätzend verändern. Wenn es eine höchste Wahrheit gibt, so wird sie nicht ohne Dialoge (wieder) zu finden sein. Wie es das Taoteking formuliert:
„Der Name, den man
nennen kann, ist nicht der ewige Name.
Jenseits des Nennbaren liegt der Anfang der
Welt.
Diesseits des Nennbaren liegt die Geburt
der Geschöpfe.“ (Taoteking 11)