KAPITEL ZWANZIG
Das Übelkeit erregende Gefühl der Schwerelosigkeit wusch über sie hinweg, ein Gefühl, als hätte der Geisterzug sie erneut erfasst.
In der vertrauten Umgebung des Devil’s Bathtub öffnete Anya die Augen und seufzte erleichtert auf. Die alten Zinndeckenplatten, der vernarbte Holzboden, die Flaschen, die farbenfroh wie Juwelen hinter der Bar thronten, sogar die Staubschicht auf den Buntglaslampen über dem Tresen – alles war ihr wohlbekannt. Sie war zu Hause.
Aber dann begriff sie, dass die Perspektive ganz und gar nicht stimmte.
Sie schwebte unter der Decke. Die geprägten Zinnplatten waren nahe genug, sie zu berühren. Unter sich konnte sie ihr physisches Ich reglos in der Badewanne sehen, die ein fester Bestandteil des Inventars war und sich derzeit im Zentrum hektischer Betriebsamkeit befand.
Ihr Körper war in die mit Münzen gefüllte Wanne gesunken. Brian stand breitbeinig über ihr und presste immer wieder die verschränkten Hände auf ihre Brust. Bei jedem Stoß rasselte Kleingeld aus der Wanne auf den Boden. Ein Feuerlöscher rollte über die Dielen. Fetzen chemischen Schaums besudelten Boden und Münzen. Sie nahm Brandgeruch wahr und fragte sich, woher er kommen mochte.
»Du bist wieder da.« Renee schwebte plötzlich neben Anya.
Anya nagte an ihrer Lippe. »Das verstehe ich nicht. Warum bin ich nicht da unten bei den anderen?«
Renee berührte sacht Anyas Wange. »Schätzchen, du entgleitest ihnen.«
Jules brüllte am Telefon den Menschen in der Notrufzentrale an, und Katie rannte zur Tür hinaus, um den Sanitätern zu zeigen, wo sie hin mussten. Max stand hinter Ciros Rollstuhl, und der alte Mann presste beide Hände an seine Brust. Tränen rannen über seine Wangen.
»… fünf, sechs, sieben, acht …« zählte Brian mit, während er die Herzdruckmassage weiterführte.
»… fünf Minuten«, sagte Jules. »Sie atmet seit fünf Minuten nicht mehr … woher zum Teufel soll ich das wissen?«
Anya blickte hinab auf ihren Körper. Das silberne Band, das ihn mit Anyas astraler Doppelgängerin verbinden sollte, war durchtrennt. Sie betastete verwundert blinzelnd das ausgefranste Ende.
Brian hob ihren Kopf an, um ihre Atemwege freizumachen. »Du«, flüsterte er. »Geh nicht.« Dann presste er seine Lippen auf ihre und zwang Luft in ihre Lunge.
Und diesmal war es nicht der kalte Atem eines Geistes. Anya konnte es schmecken. Fühlen. Er fühlte sich warm an. Warm wie das Leben.
Anya hustete, erbebte in den Armen, die sie hielten.
»Brian«, wisperte sie, und ihre Finger krallten sich in sein Hemd.
»Falscher Ort«, sagte eine Stimme. »Trink.«
Lauwarmes Wasser glitt über ihre Lippen und in ihren Rachen. Es schmeckte schleimig, und sie würgte es wieder heraus.
Blinzelnd kämpfte sie gegen ihre vernebelte Sicht an und erkannte, dass sie nicht in Brians Armen lag, sondern in Charons. Sie lag über seinen Knien, den Kopf in einer Ellbogenbeuge geborgen. In der anderen Hand hielt er eine schmutzige Flasche mit Wasser. Sein Mantel roch nach Schießpulver, und sie erkannte, dass ihre Finger sich in Kugellöcher gebohrt hatten. Sparky leckte ihr Gesicht.
»Was ist …« Ein neuer Hustenanfall überwältigte sie.
Fältchen der Erleichterung zeigten sich um Charons Augen. Er verschloss die Flasche und steckte sie in seine Tasche. »Wasser des Styx.«
Ihre Augen weiteten sich. »Du hast gesagt, es wäre giftig.«
»Es war nur ein Tropfen.« Ein düsterer Zug legte sich über seine Augen. »Keine Sorge, du bist jetzt nicht unbesiegbar … und du wirst später dafür bezahlen müssen.«
»Die Molche …« Sie versuchte, sich aufzusetzen.
Charon deutete mit dem Kinn. »Das sind zähe kleine Mistviecher.«
Die Minisalamander huschten durch die Tunnel und schlemmten an den Fetzen verblassenden Geisterfleisches. Ihr Bernsteinlicht blitzte mal hier, mal dort auf, Lichtpunkte huschten wie Glühwürmchen von einer Ecke zur anderen.
Sie tastete an ihrem Nacken nach dem Molch, der unter ihre Rüstung gekrochen war. Sein Körper fühlte sich kalt und steif an. Mit einem Kloß in der Kehle legte sie ihn auf den Boden. Sparky schnüffelte an ihm und winselte, als der Kleine allmählich verblasste.
»Wie viele haben überlebt?«, fragte Anya und löste verlegen ihre Finger aus Charons Mantel.
»Mehr als die Hälfte«, sagte Charon. »Sogar in der physischen Welt ist das eine hervorragende Überlebensrate für frei lebende Salamander.«
Ihr Blickfeld verschwamm, und sie wischte sich die Nase ab. »Wahrscheinlich.«
Charon stellte sie auf die Beine, so mühelos, als wäre sie eine Puppe. »Komm, lass uns Hope in den Hintern treten.«
Anya nickte. Die Arme um den Leib des Fährmanns geschlungen, folgte sie ihm mit Sparky auf den Fersen in den dunklen Tunnel.
Die Molche hatten barbarisch unter den Geistern gewütet. Schillernde, glühende Flecken überall. Anya konnte Handabdrücke erkennen und Spritzer von etwas, das in der physischen Welt Blut hätte sein müssen, die an den Wänden prangten wie nachtleuchtende Farben. Die Flecken leuchteten unheimlich in der Finsternis. In einer Ecke stritten sich drei Molche um die Überreste von Marie-Antoinettes Kopf. Die Locken ihrer Perücke lagen wie Tang auf dem Boden verstreut.
Der Tunnel beschrieb einen Zickzackkurs, ehe er schließlich in eine große, hallende Kammer mündete. Die Kammer erinnerte Anya daran, wie sie als Kind die Shenandoah-Höhlen besucht hatte: eine Felsenkammer mit einer gewölbten Decke, übersät von Stalaktiten und Stalagmiten. In tiefen Felsspalten sah sie Wasser und Quarz glitzern. Irgendwo in der Ferne tropfte Wasser.
»Hope«, rief Charon. »Es ist vorbei.«
Etwas regte sich in der Schwärze. »Ihr könnt mich nicht aufhalten.«
Sparkys Bernsteinlicht erzeugte wandernde Schatten, ehe es schließlich auf eine Gestalt fiel, die auf einem über einen Meter großen Gefäß thronte. Die Büchse der Pandora sah genauso aus wie in der physischen Welt, abgesehen davon, dass hier ihre Farbe nicht so ausgebleicht war. Um die Büchse herum lagen Bernies Artefakte auf dem Boden. Anya erkannte einige der Flaschen und Juwelen, die im Lichtschein glitzerten.
Aber Hope war nicht dieselbe auf dieser Ebene. Die Kreatur, die oben auf der Büchse hockte, erinnerte Anya an die Gargoyles, die man an der Fassade gotischer Kirchen vorfand: verzerrter Kopf, ledrige Schwingen und zu Klauen verkrümmte Hände. Aber dieses Ding war Hope, die Hope dieser Welt. Und Anya fand dieses chimärenhafte Bild von ihr weitaus realistischer.
»Ah. Tod und Laterne sind gekommen, um meine Schätze zu rauben«, zischte die Kreatur mit Hopes Stimme. Ihr Mund war voller nadelspitzer Zähne; Anya nahm an, diesen Beißerchen war mit Zahnseide nur höllisch schwer beizukommen.
»Ihre Armee wurde in Stücke gerissen, Hope.« Anya kniff die Augen zusammen. »Geben Sie uns die Büchse.«
Hope glitt von dem Gefäß. »Seid meine Gäste. Auf ewig.«
Sie kippte das Gefäß um, und die Öffnung der Büchse rollte herum, bis sie auf Anya, Sparky und Charon zeigte. Das Innere des Gefäßes schimmerte in einem kristallinen, blauen Licht, eine Glut, die die Luft verzerrte und verdrehte. Von dem Gefäß ging ein Sog aus, und Anya stemmte die gepanzerten Fersen in den Schmutz. Aber der Strudel am Rand der Büchse weitete sich aus. Charon verlor den Halt. Sparky wickelte den Schwanz um einen Stalagmiten, und seine Klauen strampelten in der Luft auf der Suche nach Anya. Ein Heulen erfüllte die Höhle, als Anya fühlte, dass sie auf den Hals des Gefäßes zuglitt. Ihr Arm wurde aus dem Gelenk gezerrt, und sie sah, wie sich ihre Finger verdrehten und ausdehnten wie Licht vor einem Schwarzen Loch.
So muss es sich für die Geister anfühlen, wenn ich sie verschlinge, dachte sie. Das Haar peitschte ihr ins Gesicht und wurde ob der schrecklichen Anziehungskraft der Büchse der Pandora über ihre Hüften hinaus in die Länge gezogen.
»Dem kann nichts entkommen«, ertönte Hopes Gegacker aus dem Schatten hinter dem Gefäß. »Nichts. Kein Elementargeist. Keine Laterne. Nicht einmal der Tod selbst.«
»Du solltest es besser wissen«, grollte Charon.
»Die Unterwelt wird mein sein. Wenn du nicht mehr bist, um sie zu beschützen, werde ich meine Geistersammlung neu beginnen.«
Der brüchige Sandsteinstalagmit, an den Sparky sich klammerte, splitterte. Sparky schlug die Klauen in den Boden, sein Schwanz dehnte sich zu einer endlosen Spirale, angezogen von der Büchse der Pandora. Kieselsteine rasselten an ihm vorbei und wurden in die klaffende Öffnung gesogen.
Anya knurrte. Auf keinen Fall würde sie zulassen, dass diese Schlampe Sparky bekam. Sie widmete ihre ganze Aufmerksamkeit dem Schatten hinter dem Gefäß und gab ihren Widerstand auf.
Sie glitt an Charon und Sparky vorbei, wirbelte in den luftleeren Strudel aus Schmutz und Licht. Sie ließ sich in den Hals ziehen und hielt sich mit aller Kraft ihrer verdrehten Finger am Rand fest, lugte über den Rand, sah Hopes dunkle Gestalt und ihre glühenden Augen …
… und atmete ein.
Hope kreischte. Anya kostete den metallischen Geschmack von Hope auf ihrer Zunge, als sie wie Rauch in ihre Lunge drang. Falls sie den Rest der Ewigkeit zusammen mit Charon und Sparky in dieser Büchse verbringen musste, dann würde sie Hope verdammt noch mal mitnehmen.
Charons Kette schoss an ihr vorbei und krachte an den Rand des Gefäßes. Die Büchse brach und jagte Anya Quarzsplitter ins Gesicht.
Der Strudel legte sich, brach in sich zusammen wie eine Windhose. Anya blieb mit zwei Füßen in dem geborstenen Gefäß und einer Kette am Handgelenk zurück. Hope war nirgends zu sehen, aber Anya nahm den widerwärtigen Geschmack eines kostspieligen Parfüms in ihrem Rachen wahr.
»Bah!«, schimpfte sie und spuckte Sand aus.
Sparky hoppelte herbei und leckte ihr das Gesicht ab, nur um gleich darauf die Nase krauszuziehen. Offenbar konnte er es auch riechen.
Charon reichte Anya die Hand, um ihr aufzuhelfen, und stützte sich dabei mit dem Fuß an dem Rand des Gefäßes ab. Der Riss reichte vom Hals bis halb durch das Bild auf der Seite. Pandoras Peplos war sauber in zwei Hälften zerlegt worden. Charon richtete die Büchse der Pandora auf und betastete den Riss.
»Die Magie hat das Gefäß verlassen«, sagte er. »Jeder Geist, der hineingesteckt wird, würde gleich wieder heraussickern.«
Anya seufzte. »Charon?«
»Ja?«
»Auch auf die Gefahr hin, mich wie eine zickige Dorothy anzuhören, aber … ich will nach Hause.«
Er lächelte, und dieses Mal war es, als würde Licht seine Augen berühren. »Ich bringe dich zu deinem Zug.«
Sonnenlicht drang durch die hohen Fenster des Bahnhofs herein und flutete die Menge der herumschlendernden Geister. Charon und Anya bahnten sich langsam einen Weg durch das Gedränge, gefolgt von Sparky und den Molchen. Die Minisalamander schossen um ihre Füße, kletterten auf Aktentaschen und drangsalierten die Geister am Kartenschalter.
»Was mache ich jetzt mit ihnen?«, fragte Anya. Sie hatte zweiunddreißig überlebende Molche gezählt, und sie war erleichtert, dass sie es geschafft hatten, fürchtete aber auch das Chaos, das sie in ihr Alltagsleben tragen würden.
Charon zuckte mit den Schultern, die Hände in den Taschen vergraben. »Sie sind groß und stark genug, ihren eigenen Weg zu finden.«
»Charon, sie sind Babys …«
»Schau.« Sacht drehte er sie herum und zeigte in eine bestimmte Richtung. Die Molche hüpften mitten durch die Menge davon und auf den Bahnsteig zu. Einer nach dem anderen sprang von dannen, mitgerissen von dem Geisterzug.
Tränen traten ihr in die Augen. Ihr war, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube kassiert. »Wo gehen sie hin?«
»In ein neues Heim. Ich nehme an, viele von ihnen werden sich an Artefakte binden, wie die, die Bernie gesammelt hat. Wahrscheinlich gibt es auch noch ein paar verblödete Hexen da draußen, die versuchen, Salamander zu rufen. Ein paar werden vermutlich vor Eisenhütten und Feuerwachen herumlungern – das ist eben das, was sie üblicherweise tun.«
Anya rieb sich die Augen. »Macht’s gut, Jungs.«
Der letzte Molch hielt auf dem Bahnsteig inne, drehte sich zu Anya um und tschirpte kurz, ehe auch er sich in die Dunkelheit stürzte.
Charon tätschelte ihr unbeholfen die Schulter. »Ich werde dann und wann nach ihnen sehen. Ich schwöre es.«
Anya nickte, brachte aber keinen Ton heraus. Dann wandte sie sich ab und stierte in die Geistermenge.
Etwas erregte ihr Aufmerksamkeit. Die meisten Geister konzentrierten sich ausschließlich auf ihr jeweiliges Ziel und achteten gar nicht auf ihre Umgebung, doch einer beobachtete sie. Er stand in einer geschlossenen Telefonzelle neben dem Kartenschalter, die Hände über seinem Hut gefaltet.
Sie erkannte ihn wieder. Sie hatte sein Foto in der Gerichtsmedizin gesehen.
Es war Calvin Dresser, der Computerspezialist, der als Modell für Brians neuronales Netzwerk ALANN gedient hatte.
Forschen Schritts marschierte Anya zu der Telefonzelle und griff nach der Tür, aber sie war verschlossen. Calvin, gefangen im Inneren, sah sie traurig an.
»Er ist im Limbus«, erklärte Charon. »So etwas wie das habe ich noch nie gesehen. Er kann nicht vor und nicht zurück, obwohl er voll bei Bewusstsein ist. Ein wirklich merkwürdiger Fall.«
»Wie kriege ich ihn da raus?« Anyas Atem schlug sich auf dem Glas nieder.
Charon, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, legte den Kopf schief. »Du könntest die Zelle aufbrechen.«
Anya presste ihre gepanzerten Hände zusammen und durchbrach das Glas nahe dem Türgriff. Das Glas splitterte, sprang in Stücke und rieselte aus dem Türrahmen. Der Mann im Inneren zuckte nicht einmal. Zögerlich verließ er sein gläsernes Gefängnis.
»Hallo, Anya«, sagte er.
»Hallo, Calvin.«
Er tippte sich an den Hut. »Danke, dass Sie mich befreit haben. Ich wusste, Sie würden es irgendwie schaffen.«
Calvin lächelte und ging pfeifend durch die Menge zum Bahnsteig. Anyas Herz hüpfte vor Freude, ihn frei und auf dem Weg zu seiner Bestimmung zu sehen.
»Du hast dich gut geschlagen.« Charon sah Calvin nach. »Eines Tages könntest du meinen Job übernehmen.«
Anya bekam eine Gänsehaut. »Hope hat dich ›Tod‹ genannt.« Sie konnte sich nicht von dem Gefühl lösen, dass Charon ihr nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte … über ihn oder über den Styx.
Charon wedelte herablassend mit der Hand. »Hope hatte nur Scheiße im Kopf. Die kann Hades nicht von Hestia unterscheiden.«
»Mmmm …« Anya hatte ihre Zweifel. »Ich habe noch Fragen.«
»Spar sie dir für später auf. Überschlaf sie.« Seine blauen Augen verfinsterten sich. »Stell keine Fragen, auf die du im Grunde gar keine Antwort haben willst.«
»Wirst du wieder in die Gerichtsmedizin kommen?«, fragte sie.
»Ich bin immer in der Gegend. Du kannst die Münze benutzen, die ich dir gegeben habe, um zurückzukommen.« Er beugte sich vor und küsste sie auf die Wange. Seine Lippen waren kalt, und er roch nach Schießpulver und Winter.
Anya lächelte ihm zu. Sie würde Fragen zu stellen haben. Doch nun rief sie mit einem Schnalzen Sparky zu sich und ging zum Rand des Bahnsteigs. Geister standen um sie herum. Als der donnernde Wind aufbrandete, hüpften sie mitten hinein, ganz so, als würde sich ein Grashüpfer auf einen Rasenmäher stürzen.
Anya stählte sich innerlich für die Reise und nahm Sparky auf die Arme. Sie wartete, bis sie an der Reihe war, und bereitete sich auf den Absprung vor …
… als sie wenige Meter entfernt ein vertrautes Gesicht erblickte und ihr Herzschlag stockte.
Ciro.
Er saß nicht in seinem Rollstuhl, und sie hätte ihn beinahe übersehen. Stattdessen spazierte er umher, gewandet in einen perfekt gebügelten Anzug mit einem gestärkten Hemd und einer roten Fliege. Eine wunderschöne junge Frau, gekleidet wie in den Zwanzigern, hing an seinem Arm: Renee. Renee stellte sich auf die Zehenspitzen, um Ciro zu küssen, und ihr Gesicht leuchtete wie der Mond.
Gemeinsam ließen Renee und Ciro den Bahnsteig hinter sich. Der Geisterzug erfasste das Paar nur einen Augenblick, bevor er auch Anya mitnahm.
Anya erwachte, aber nicht in der brausenden Schwärze des Zuges, sondern in blendend hellem, weißem Licht.
»Au«, murmelte sie und versuchte, sich umzudrehen, doch ein stechendes Gefühl in ihrem Arm behinderte sie. Ihre Finger schlossen sich um einen Infusionsschlauch aus Plastik, und als sie wieder etwas sehen konnte, fand sie sich im kalten Licht einer Neonlampe wieder. Sie roch Desinfektionsmittel und hörte das Piepen medizinischer Geräte.
Eine Hand lag schwer auf ihrer Stirn. Blinzelnd blickte sie auf und sah Brian, der sich über sie beugte.
»Hey, du«, sagte er.
»Hey«, flüsterte Anya. Ihre Kehle war trocken und so rau, als hätte sie Bleichmittel getrunken. Sie fragte sich, ob das an den Geistern lag, die sie verschlungen hatte, nahm aber an, dass es ebenso gut durch einen Atemschlauch ausgelöst worden sein könnte. Sie sah sich mit den Augen um und erkannte, dass Sparky zwischen Bettgitter und ihrem Bein neben ihr in dem Krankenhausbett lag. Den Kopf zwischen den Vorderpfoten sah er sie an, und sein Schwanz zuckte sacht hin und her. Sie kraulte seine Kiemenwedel, und seine Zunge schlängelte sich aus seinem Maul.
»Was ist passiert?«, fragte sie.
»Renee hat uns gesagt, dass du auf die astrale Ebene gereist bist, also haben wir gewartet, stundenlang. Und dann … dann hast du aufgehört zu atmen. Wir haben dich zurückgeholt, aber du warst ganze fünf Minuten weg.«
Anya strich mit der Hand über den Krankenhauskittel. Ihre Brust schmerzte, und sie nahm das kratzige Gefühl der Verbände wahr, die auf ihrer Haut klebten. »Was ist das alles?«
Brian runzelte die Stirn, und ihr fielen die dunklen Ringe unter seinen Augen auf. »Als du … fort warst, haben wir Brandgeruch bemerkt. Max hat die Bar durchsucht, aber dann haben wir festgestellt … dass er von dir kam. Deine Haut hatte Blasen geworfen. Sie hat gebrannt.« Er nahm die Brille ab und rieb sich müde die Nasenwurzel. »Wir haben dich mit Wasser übergossen. Jules hat es mit dem Feuerlöscher versucht, aber du hast weiter … geglüht. Und dann … dann hast du aufgehört zu atmen.« Seine Stimme klang heiser.
Anya griff nach seiner Hand. »Es ist alles in Ordnung. Ich bin ja wieder da.«
Er klappte den Mund auf, um noch etwas zu sagen, als der Pastellvorhang um Anyas Bett herum zurückgezogen wurde. Marsh, angetan mit einem leicht verknitterten Hemd und einer gelockerten Krawatte, nickte ihr zu. Anya fragte sich, wie lange er schon gewartet hatte. Für seine Verhältnisse war dieses Auftreten bemerkenswert unordentlich.
»Kalinczyk. Die diensthabende Schwester sagte mir, Sie seien wach.« Seine Stimme klang so nüchtern und sachlich wie immer.
»Danke für Ihren Besuch, Captain«, krächzte sie.
»Ich dachte, Sie wären an Neuigkeiten interessiert. Wir haben Hope gefunden.«
Anyas Finger umklammerten die Gitterstäbe des Betts. »Wo?«
»Wir haben den Laster vor ihrer Hauptniederlassung entdeckt und sie im Keller gefunden. Sie hat tot in der Büchse der Pandora gesteckt.« Marsh verzog das Gesicht. »Wir haben keine Ahnung, wie sie da hingekommen ist. Oder wie die Büchse der Pandora da hingekommen ist.«
Anya schluckte. Dieser Pithos war ein Bestattungsgefäß. Die Ironie, dass Hope ausgerechnet in ihm gefunden worden war, entging Anya nicht. »Wie ist sie gestorben?«
»Die Gerichtsmedizinerin, Gina, meint, sie hätte einen Schlaganfall gehabt. Aber wir wissen nicht, wie sie in das Ding gekommen ist.«
Anyas Fingernägel gruben sich in ihre Handflächen. »Ist die Büchse wieder im DIA?«
»Ja, aber die sind nicht sehr glücklich damit. Sie wurde beschädigt – hat einen Riss wie die Liberty Bell. Ich schätze, sie werden Wunder für die Massen verklagen, um sich von denen die Restaurierungskosten zurückzuholen.« Marsh beugte sich vor und tätschelte unbeholfen ihre Schulter. »Ruhen Sie sich etwas aus. Ich bringe Ihnen die Berichte vorbei, wenn Sie wieder auf den Beinen sind.«
Dann duckte er sich unter dem Vorhang hindurch und verschwand.
Brian sah ihm mit angespannter Miene nach. Anya zupfte an seinem Ärmel, wünschte, sie könnte diesen Ausdruck aus seinem Gesicht wischen. »Schon gut, Brian. Alles wird wieder in Ordnung kommen.«
Er schüttelte den Kopf und atmete hörbar aus. »Nein. Nein, wird es nicht.« Fest umfasste er ihre Hand. »Ciro … Ciro hatte einen Herzanfall.«
Anyas Atem stockte, und plötzlich erinnerte sie sich daran, das Gesicht des alten Mannes auf dem Bahnhof gesehen zu haben. »Ist er …?« Sie kannte die Antwort bereits, dennoch konnte sie sich nicht überwinden, die Frage auszusprechen: Ist er tot?
Brian schüttelte den Kopf. »Er hat es nicht geschafft, Anya. Tut mir leid.«
Anya presste den Handrücken an die Lippen. Der Schluchzer, der sich in ihrer Kehle fing, hörte sich für sie so an wie ein verschlungener Geist, der versuchte, ihr zu entkommen.
»Ciro hat gesagt, er würde diesen Ort nie verlassen wollen.«
Jules stand mit gesenktem Kopf vor dem Tresen im Devil’s Bathtub. Der Spiegel hinter der Bar fing sein Bild ein, die Falten auf seiner Stirn, das Sakko, dessen Knöpfe er über dem Bauch nicht mehr schließen konnte, die Bibel in seinen Händen. Der Spiegel reflektierte auch Anya, Brian, Katie und Max. Er reflektierte die blaue Urne, die inmitten der Schnapsflaschen stand, die Urne, die Ciros Asche enthielt.
»Anya … kannst du ihn hier irgendwo spüren?«, fragte Katie. Sie trug ein bodenlanges Kleid, das sie eigens für Ciros Beerdigung in einem Second-Hand-Laden gekauft hatte. In dieser düsteren Kleidung sah sie mehr denn je wie eine Hexe aus.
Anya biss sich auf die Lippe und barg das Gesicht an Brians Schulter. Seine Anzugjacke roch nach Mottenkugeln. Sie wischte sich die Nase am Rücken eines der weißen Handschuhe ab, die zu ihrer Feuerwehr-Ausgehuniform gehörten. Ihre Mütze hatte sie unter den Arm geklemmt. »Nein. Und ich sehe auch Renee nicht mehr.« Ohne die sonst stets vernehmbare Musik wirkte der Ort unheimlich still.
Sparky schmiegte sich an sie und tschirpte leise. Sie wusste, er vermisste Ciro ebenso wie die Molche. Sie war mitten in der Nacht erwacht und hatte gesehen, wie sich seine Pfoten im Traum bewegt und er nach den Molchen gerufen hatte wie eine Katzenmutter, die nicht mehr wusste, wo sie ihre Jungen zurückgelassen hatte.
Jules seufzte erleichtert und schlug die Bibel zu. »Er ist jetzt in einer besseren Welt. Und sie auch.«
Was von den DAGR übrig war, stand unbehaglich schweigend in der Bar. Anya blickte zu Brian auf. Seine linke Hand tauchte in seine Tasche und betastete sein iPhone. Anya wusste, dass er ALANN verloren hatte – er hatte ihr erzählt, dass sich das neuronale Netzwerk, das die Intelligenz hervorgebracht hatte, »spontan aufgelöst« hätte. Anya hatte es nicht über sich gebracht, ihm zu erzählen, was wirklich passiert war … dass sie ihn befreit hatte.
Irgendwie bezweifelte sie, dass sie das je tun würde. Er würde – konnte – das nicht verstehen. Und sie hatte keine Ahnung, wie tief der Abgrund war, den dieser Mangel an Ethik in seinen Charakter getrieben hatte. Sie hoffte, es war nur ein oberflächlicher Riss … aber sie war nicht imstande, ihre Zweifel abzulegen. Noch nicht. Vielleicht nie.
»Was wird jetzt aus dem Devil’s Bathtub?«, fragte Max und zerrte an der Krawatte an seinem Hals. Sie gehörte Jules und war zu lang für ihn.
Katie faltete die Hände hinter dem Rücken. »Ciro hat ein Testament hinterlassen. Nach dem, was sein Anwalt gesagt hat, erbt Anya das Devil’s Bathtub.«
Anyas Kopf ruckte hoch. »Was?«
»Er hat gesagt, Anya gehöre zur Familie. Wir alle täten das.«
Anya blinzelte gegen die Tränen an. Dieser verrückte alte Mann war ihr mehr ein Vater gewesen als ihr eigener … was immer der war. Sie hatte versucht, nicht mehr an ihren Erzeuger zu denken, aber ihre Gedanken kehrten immer wieder zu dem flammenden Mann im Schlafzimmer ihrer Mutter zurück … und zu der Frage, was das für sie bedeutete.
Jules legte seine Pranke auf den Tresen und sah zu, wie sich um sie herum Dunst auf der polierten Oberfläche niederschlug. »Er hätte nicht sterben dürfen«, grollte er.
»Er war ein alter Mann, Jules«, sagte Katie.
»Er hätte nicht sterben dürfen.« Jules musterte Anya mit finsterem Blick. »Er war zu gebrechlich für diesen Mist. Für all diesen Mist. Er hätte oben sitzen und seine alten Platten anhören sollen.«
Brian sprach über Anyas Kopf hinweg: »Der alte Mann hat getan, was er tun wollte, Jules.«
»Dass er tot ist, macht mich traurig.« Anyas Stimme zitterte, und ihre Augen glänzten unter Tränen.
Eine lastende Stille senkte sich über den Raum. Katie trat hinter den Tresen und fing an, Gläser bereitzustellen und Drinks einzuschenken. Anya starrte das Eis an, das in den Drinks knisterte, und wünschte, sie könnte irgendetwas tun, um Ciro zurückzuholen. Aber sie bezweifelte, dass er von dort, wo er hingegangen war, zurückkehren wollte. Sie erinnerte sich an den erhabenen Ausdruck in seinem Gesicht, als er und Renee auf den Zug gewartet hatten. Diese Welt konnte ihm so etwas nicht bieten.
»Und was ist mit uns?«, fragte Jules und kletterte auf einen Barhocker. »Was ist mit den DAGR?«
Anya schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht, Jules. Ich kann nicht in die Zukunft blicken. Für keinen von uns.« Sie blickte zu Brian auf und drückte seine Hand. »Alles, was wir tun können, ist weiterkämpfen.«
Langsam steuerte Anya den Dart zu den Überresten ihres Hauses. Sie parkte am Bordstein und blickte stur geradeaus, weigerte sich, sich zu dem Grundstück, zum Schauplatz des Feuers umzusehen. Brian hatte darauf bestanden, sie zu begleiten, doch sie hatte ihn abgewiesen. Das hier wollte sie allein hinter sich bringen.
Sie atmete dreimal tief durch. Jesus, sie konnte den Brandgeruch selbst hier noch riechen, obwohl die Fenster geschlossen waren. Auf dem Beifahrersitz winselte Sparky. Das DFD ging davon aus, dass das Feuer in ihrem Haus durch einen Schaden in der Elektroinstallation ausgelöst worden war, der wiederum auf einer fehlerhaften Verdrahtung in dem neuen HDTV-Gerät beruhte. Anya wusste es besser und hielt den Mund.
Sie öffnete die Wagentür und klemmte sich eine Packung Müllbeutel unter den Arm. Dann ging sie den Fußweg hinauf und starrte unterwegs unverwandt auf ihre Füße. Das Herz hämmerte in ihrer Brust. Schließlich zwang sie sich, aufzublicken.
Das Haus war eine Ruine. Das Grundstück war mit gelbem Feuerwehrabsperrband und einem mobilen Maschendrahtzaun abgeriegelt worden. Dafür schuldete sie Marsh Dank. Die Ruine dahinter war ein verkohltes, nasses, schwarzes Durcheinander aus geborstenen Ziegelsteinen, verbrannten Balken und krummen Dachschindeln. Pfützen voller Asche und klebrigem Dreck zogen sich bis in den Garten und verschmutzten die weißen Überziehschuhe ihres Tyvek-Schutzanzugs. Junge Fingerhirsehalme bohrten sich durch den Schlamm.
Anya entriegelte das Vorhängeschloss an der Kette, die um den Zaun gewickelt worden war, und zog eine knarrende Zaunmatte zur Seite. Sparky wackelte vor ihr her, pflanzte sich auf die Stufe vor dem Eingang und winselte.
Anya seufzte. Der kleine Kerl hatte es verdient, sich auch von diesem Ort verabschieden zu dürfen. Sie stieß die verkohlten Überreste der Eingangstür auf. Sparky hüpfte hinein und maunzte jämmerlich, als er die geborstenen Dachbalken sah, die auf den Boden des Wohnzimmers gestürzt waren. Der Kühlschrank stand noch an seinem Platz, wenn auch rußüberzogen, und sie sah Kupferrohre, die eigentlich in den Wänden verborgen sein sollten.
Anya schritt durch Glasscherben zur Küche, öffnete die Kühlschranktür und rümpfte die Nase. Hier gab es nichts, das es wert wäre, geborgen zu werden. Sie tastete sich durch die Schränke, fand ein paar Töpfe, die nach einer gründlichen Reinigung vielleicht noch zu gebrauchen waren. Gusseisen überlebt einfach alles, sagte sie sich, also warf sie sie in einen Müllbeutel.
Sie öffnete den Einbauschrank im Flur, in dem Waschmaschine und Trockner unterbracht waren, und suchte nach Kleidern. Sie rochen samt und sonders nach Rauch, konnten aber vermutlich gereinigt werden. Sie stopfte sie in einen anderen Müllbeutel und ging weiter zum Badezimmer, in dem Sparkys Nest gewesen war.
Die Fliesen waren verrußt. Sparkys Mobile hing verkohlt an seinem Drahtgestell, und der Linoleumboden war versengt. Aber die kristalline Masse in der Badewanne war noch da und abgesehen von dem Rußfilm auf dem Quarz auch weitgehend intakt. Sie ertastete einen Riss in der Druseninnenfläche und riss ein Stück der Kristallschicht heraus. Es war so groß wie ihre Faust und schaffte es tatsächlich, in dem grauen Tageslicht zu glitzern. Sie warf es in einen Beutel. Dabei beschloss sie, einen Bergungsspezialisten zu rufen, um auch den Rest herauszuholen. Sparkys Nest kam ihr nicht wie etwas vor, das einfach im Müll landen sollte.
Ihre Gummientensammlung hockte auf ihrem Regalbrett und beobachtete sie. Die Enten waren von der Hitze verformt und geschwärzt, trotzdem brachte sie es nicht fertig, sie zurückzulassen. Anya stopfte auch sie in einen ihrer Beutel.
Sparky heulte im Schlafzimmer, und Anya rannte zu ihm. Er tapste in der Ecke des Zimmers herum, in der sein Salamanderkörbchen gestanden hatte. Seine Schlafstätte war nur mehr eine nasse Ruine, aber er hörte nicht auf, an ihr herumzukratzen wie ein Hund, der versuchte, ein Loch unter einem Zaun zu graben.
»Sparky …«
Etwas schimmerte in den Überresten seines Bettchens, ein gelbes Licht, das im Takt zu Sparkys Pfotenhieben an- und ausging. Anya riss das Salamanderbett auseinander und legte den Leuchtfreund frei. Er war ein wenig verdreckt, aber intakt. Sein Engelsgesicht leuchtete auf, als sie ihn drückte, und Sparky gluckste vor Freude.
Anya packte ihn vorsichtig in einen sauberen Müllbeutel und lächelte. Dies waren Relikte eines früheren Lebens. Doch wie der Salamanderreif, der das Feuer im Zuhause ihrer Kindheit überlebt hatte, waren sie es wert, für die Zukunft bewahrt zu werden.