KAPITEL VIER
»Ich kann noch nicht einmal mit Sicherheit sagen, dass er tot ist.«
Gina starrte Anya durch ihre Bifokalgläser an und stach mit dem Finger nach Bernies Überresten. Die Pantoffeln waren von Bernies Füßen entfernt worden, und die zierliche Rechtsmedizinerin fummelte mit einer Pinzette an ihnen herum. Asche wallte in winzigen Wogen um die Füße auf dem Edelstahluntersuchungstisch. Anya war nicht sicher, wie viel davon von Bernie stammte und wie viel von der Zigarette in den latexbedeckten Fingern der Achtzigjährigen.
Anya musste wohl eine Grimasse gezogen haben, denn nun brachte Gina ihr runzliges Antlitz ganz dicht an ihres heran. Gina hatte ein Gesicht wie ein Karamellbonbon, das an einem heißen Tag zwischen die Sitze eines Autos gerutscht war. »Den Toten ist es scheißegal, wenn ich rauche. Daran sollten Sie sich ein Beispiel nehmen.« Die Gerichtsmedizinerin schlurfte zu ihrem Schreibtisch, auf dem Anyas Fotos ausgebreitet waren. Gina war so klein, dass sie die Ärmel ihres Laborkittels hochkrempeln musste, und der Saum strich ihr über die Fußgelenke. Das, zusammen mit dem wuscheligen grauen Haar, machte sie zu Frankensteins Braut im Altersheim.
»Hören Sie, ich bin hundertprozentig sicher, dass der Mann tot ist«, sagte Anya. Allerdings hatte sie nicht vor, Gina zu erzählen, dass sie seinem Geist begegnet war. »Niemand hat ihn mehr gesehen, und der Mann wird wohl kaum ohne Füße durch die Gegend spazieren.«
Gina schaute durch den unteren Teil ihrer Bifokalgläser, um die Fotos zu studieren. »Wirklich interessant.« Gina hatte Anya nur einbestellt, um sich die Fotos anzusehen. Die alte Dame war ein dreister Ghul, und dieser Fall beflügelte ihre Vorstellungsgabe.
»Sie stellen mir keinen Totenschein aus?« So etwas war bisher noch nie vorgekommen.
Gina verdrehte die Augen. »Es finden sich keine Werkzeugspuren, die darauf hindeuten würden, dass die Füße abgesägt wurden, also hab ich mich bei einigen meiner Leichenhausfreunde umgehört. Die meinen, es gäbe möglicherweise genug Asche, um anzunehmen, dass der Bursche verbrannt ist, aber …«
»… dergleichen kann außerhalb eines Krematoriums gar nicht passieren. Ja, ich weiß.«
»Krematorien müssen eine Leiche über Nacht bei ungefähr neunhundert Grad rösten und danach die Knochen maschinell pulverisieren, damit nur noch Asche zurückbleibt. Das ist, als würde man eine Leiche zusammen mit ein paar Bowlingkugeln für einige Stunden in einen riesigen Wäschetrockner stecken.«
»Die von uns ermittelte Zeitschiene gibt nicht mal einen Tag für den Prozess her«, sagte Anya. »Das Opfer hat seine Post geholt und ins Haus gebracht, irgendwann nach der Zustellung, die gegen 16:00 Uhr erfolgte. Die Telefondaten beweisen, dass er um 19.23 bei der örtlichen Apotheke angerufen und sich nach der Bestellung seiner Schlaftabletten erkundigt hat … die Leiche wurde in diesem Zustand gegen 6:00 Uhr am folgenden Morgen gefunden.«
Gina blätterte in ihren Papieren. »Es war nicht genug von ihm übrig, um eine toxikologische Untersuchung vorzunehmen, aber die Schlaftabletten, die Sie in seinem Badezimmer gefunden haben, könnten signifikant sein. Statistisch gesehen stehen die meisten Opfer einer sogenannten spontanen menschlichen Selbstentzündung unter dem Einfluss von Alkohol. Die Theorie besagt, dass das Opfer sich bewusstlos trinkt oder ein paar Pillen einwirft, vor einem prasselnden Feuer einschläft und nicht wach wird, wenn ein Funke seinen sexy entflammbaren Pyjama in Brand steckt.«
Anya schloss die Augen und bemühte sich krampfhaft, das Bild dessen, was Gina möglicherweise als »sexy« ansehen mochte, aus ihrem Kopf zu vertreiben. »Aber wir haben bereits nachgewiesen, dass ein Funke aus dem Kamin nicht heiß genug gewesen wäre, ihn so vollständig zu Asche zu verbrennen. Ich hab das Labor gebeten, nach Brandbeschleunigern zu suchen, die bei extremen Temperaturen verbrennen.« Anya rief sich den Inhalt von Bernies Kühlschrank ins Gedächtnis. »Er hatte allerdings einen hübschen Weinvorrat.«
»Irgendwelche Hinweise, dass der Brand durch ein Elektrogerät ausgelöst wurde?«
»Bisher gibt’s keine Hinweise auf schadhafte elektrische Geräte oder Leitungen im Haus. Nichts im Sicherungskasten, keine Überspannung.«
»Was ist mit einem Blitzschlag? Es passiert zwar nicht oft, aber gelegentlich werden auch Leute innerhalb von Gebäuden vom Blitz getroffen. Meist über die Telefonleitung oder den Kontakt zu Stromkabeln.«
Anya schüttelte den Kopf. »Ich hatte gehofft, auf so eine Erklärung zu stoßen. Ich hab mich beim Wetteramt erkundigt. In dieser Nacht hat es kein Gewitter gegeben und keine gemeldeten Blitze in einem Umkreis von hundertdreißig Kilometern. Seine Fenster waren geschlossen, als die Polizei ihn fand, daher sind alle noch so merkwürdigen atmosphärischen Phänomene wie beispielsweise ein Kugelblitz, der durch ein offenes Fenster eingedrungen ist, ausgeschlossen.«
»Nun ja, da wir uns hier gerade an der Wissenschaft aufgeilen … da gibt’s noch die Theorie des Dochteffekts. Ich hab im Fernsehen mal gesehen, wie so ein Kerl das an einem Schweinekadaver demonstriert hat. War ziemlich beeindruckend.«
»Ja, ich weiß. Die Idee dahinter besagt, dass das Fett im menschlichen Körper stundenlang brennen kann. Wie Kerzenwachs. Auf den Oberflächen in dem Raum, in dem er gestorben ist, gab es viele fettige Rückstände. Sogar noch in den angrenzenden Räumen.«
Gina deutete auf die Füße. »Die Fußgelenke von dem Burschen sind kaum als solche erkennbar. Ich wette, er war übergewichtig.«
»Ja. Jede Menge Brennstoff für die Flammen?«
»So ist es. Und dann gibt’s da noch die Möglichkeit eines Phosphinfurzes.«
Anya blinzelte. »Eines was?«
»Das ist ’ne andere Theorie … sie besagt, dass abnormale Verdauungsprozesse zur Bildung von Phosphin führen können, das, unter bestimmten Umständen, spontan in Flammen aufgehen kann.«
Anya kniff sich in den Nasenrücken und stellte sich vor, wie Flammen aus dem Arsch des armen Bernie hervorschossen. Und aus seinem sexy entflammbaren Pyjama. »Also … ich weiß nicht …«
»Hey, ich zeige nur verschiedene Möglichkeiten auf.«
»Sie sind wirklich ein morbides Wesen.« Anya verschränkte die Arme vor der Brust. »Warum sind Sie so an diesem Fall interessiert?«
»Es ist das, was ich am besten kann.« Gina klopfte ihre Zigarette in dem Aschenbecher auf ihrem Schreibtisch ab. »Offen gesagt, ist das nicht der einzige bizarre Verbrennungstod, den ich in den letzten paar Wochen zu Gesicht bekommen hab. Sehen Sie sich das an.« Die Gerichtsmedizinerin nahm einen Ziehharmonikaordner aus ihrem Schreibtisch. »Ein anonymer Tipp auf Neun-eins-eins hatte die Cops zum alten Bahnhof gelockt.«
Anya wühlte in ihrem Gedächtnis. »Der an der fünfzehnten Straße? Der Bahnhof, der seit den Achtzigern geschlossen ist?«
»Genau der. Die Obdachlosen haben ihn weitgehend übernommen, seit er für den Schienenverkehr geschlossen wurde.«
Anya zog ein Bündel Fotos aus dem Ordner. Das erste Bild, aufgenommen in einem kalten, klaren, fluoreszierenden Licht, zeigte einen grauhaarigen alten Mann in einem schmutzigen Mantel auf einem Untersuchungstisch des rechtsmedizinischen Instituts. Er sah aus wie ein schlafender Penner, nur dass der untere Rand seines grauen Barts und die Vorderseite seines Mantels verkohlt waren. Auf dem nächsten Foto war der Mantel offen, und es war unverkennbar, dass beinahe sein ganzer Torso eingesunken und verbrannt war. Teile der Rippen hakten sich um die Überreste seines Flanellhemds wie knochige Finger mit geschwärzten Spitzen.
»Was zum Teufel …?«, murmelte Anya und ging die übrigen Bilder durch, die einen gewaschenen Leichnam zeigten – mit einem klaffenden Loch an der Stelle, an der das Abdomen hätte sein sollen. Es sah aus, wie sich das Geister verzehrende schwarze Loch in Anyas Brust anfühlte, aber dieses Loch war weit offen und aller Augen zugänglich.
»Der Polizeibericht ist auch in dem Ordner. Streifenpolizisten haben den Burschen zusammengerollt unter dem Schalterfenster gefunden. Niemand hatte etwas gesehen oder gehört. Sie haben ihn rausgeholt und hergeschickt. Er konnte nicht identifiziert werden, aber die anderen Obdachlosen haben ihn George genannt.«
»Wo ist die Leiche?«
»Niemand hat Anspruch auf sie erhoben, also wurde er von Amts wegen kremiert.« Gina zuckte mit den Schultern. »Nicht ohne Ironie, das Ganze, ich weiß. Aber dieser Fall war seltsam genug, um ihn in meine Sammlung bizarrer Fälle aufzunehmen.«
Anya sah sie stirnrunzelnd an. »Sie sammeln so etwas?«
»Teufel, ja.« Gina pflanzte die Fäuste auf die Hüften. »Ich werde ein Buch schreiben, wenn ich in den Ruhestand gehe.«
Anya prustete. Gina, der Ghul, würde niemals in den Ruhestand gehen. »Darf ich mir die Akte ausleihen?«
»Klar. Ginas Sammlung forensischer Mysterien ist eine Leihbücherei.« Gina deutete über ihre Schulter mit dem Daumen auf Bernies Überreste. »Ich gehe davon aus, dass sich das Labor mit den Testergebnissen zu dem Burschen bei Ihnen meldet. Aber wir können nur vermuten, was Sie aus diesem Chaos herauslesen können.«
Anyas Blick huschte zwischen dem Foto des toten Penners und Bernie hin und her. War das nur ein Zufall, oder gab es womöglich einen Zusammenhang zwischen den beiden Fällen? Nachdenklich musterte sie die Ascheklumpen auf dem Tisch.
Beide Fälle waren einfach unmöglich. Wie also sollte es da keinen Zusammenhang geben?
Kaum jemand kümmerte sich um die Obdachlosen. In Detroit lebten sie größtenteils unter dem Radar der Öffentlichkeit. In den Sommermonaten waren sie etwas häufiger zu sehen, im Winter versteckten sie sich in Schuppen, verlassenen Gebäuden und windgeschützten Gassen vor der Kälte. Fast immer jedoch gehörten sie so sehr zum Stadtbild wie all die anderen Schandflecke auch. Da sich niemand für diese Menschen interessierte, gab sich auch niemand große Mühe, den Tod eines Penners zu untersuchen, der vermutlich ganz einfach mit einer brennenden Zigarette eingeschlafen war. Routinemäßig wurden ein paar Formulare ausgefüllt, abgelegt und umgehend wieder vergessen.
Noch immer ein reizvolles Gerippe der schöne Künste, überragte die Michigan Central Station ein Dutzend verbogener, verdrehter Schienenstränge wie eine zerschlagene Riesenspinne. Der 1913 erbaute Bahnhof mit seinen weiten Mauerbögen und den eleganten Säulen, durch den früher einmal Passagiere zu ihren jeweiligen Zielen geschleust worden waren, schmückte sich mit einem achtzehngeschossigen, turmartigen Aufbau. Der mächtige, alte Bau war nun von einem hohen Zaun mit einer Krone aus Stacheldrahtrollen umgeben. Das Glas der meisten Fenster war längst zerstört, und die Fassade, nachdem sie jahrelang nicht instand gehalten worden war, schwarz verfärbt.
Anya starrte zu dem hoch aufragenden Bahnhofsgebäude empor. Sparky thronte auf ihren Schultern. Der Dart stand hinter ihr auf dem Parkplatz, dessen Asphalt aufgesprungen und mit Gras durchsetzt war. Sie konnte sich gut vorstellen, dass man an diesem Ort leicht verloren gehen, verbrennen und nicht gefunden werden mochte. Das Gebäude war, solange Anya sich erinnern konnte, abwechselnd zur Wiederbelebung und zum Abriss vorgeschlagen worden. Sie wusste nicht mehr, ob sein jüngst propagiertes Schicksal im Umbau zu einem Kasino oder im Abriss zugunsten eines Parkplatzes bestand.
Sie schritt an dem Maschendrahtzaun entlang und suchte nach einem Durchgang. Wenn die Obdachlosen problemlos auf das Gelände gelangten, dann dürfte sie das auch können. Bald entdeckte sie zwei Zaunpfosten, zwischen denen eine Lücke klaffte. Als sie sich durch den Spalt quetschte, kratzte sie sich die Arme an den ungeschützten Enden des Drahtzauns auf. Einmal auf der anderen Seite bahnte sie sich einen Weg durch Unkraut und Müll und kletterte die wenigen Stufen zu dem bogenförmigen Eingang hinauf. Ein Stück Sperrholz lehnte an der gesplitterten Tür. Anya schob es zur Seite und ging hinein.
Es dauerte einen Moment, bis sich ihre Augen an die Dunkelheit im Inneren gewöhnt hatten. Dann stellte sie fest, dass sie sich im Wartesaal des Erdgeschosses befand. Eine hohe, gewölbte Decke strebte gen Himmel, verschwand in über fünfzehn Metern Höhe beinahe in der Schwärze. Flankiert wurde die ausgedehnte Halle von einer Arkade mit dorischen Säulen und schadhaften, marmorverkleideten Wänden. Sonnenlicht strömte durch zerbrochene Fenster herein. Irgendwo weit oben konnte sie Tauben in ihren Nestern gurren hören. Graffiti überzogen die Wände so hoch, wie ein Mensch nach oben greifen konnte und noch etwas darüber hinaus. Bewehrungsstahl ragte aus den Wänden, denen die Verkabelungen und Kupferrohre schon vor langer Zeit entrissen worden waren. Verrostete Fässer verteilten sich über den Boden. Zeitungen und Lumpen bedeckten die Zwischenräume. Umgekippte Einkaufswagen standen über verbrannten Abfällen, wo sie als provisorische Grillroste gedient hatten. Im ganzen Saal stank es überwältigend nach abgestandener Pisse. Dieser Ort war definitiv bewohnt.
Eine Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Als sie sich an die Lichtverhältnisse angepasst hatte, erkannte sie Schatten, die sich im Dunkeln regten, schwarze Silhouetten, die dutzendweise durch den Wartesaal zu der gemauerten Bahnhofshalle strebten.
Sie spürte ein Prickeln am Hals und hörte Sparky knurren. Seine Kiemenwedel zuckten und ruckten nach vorn.
Anya schaltete ihre Taschenlampe ein und richtete den Lichtkegel auf die gärende Finsternis. Die Schatten huschten davon, als wäre der Lichtschein ein bissiges Biest.
»Hallo?«, rief sie, während ihr das Herz in der Brust zu zerspringen drohte.
Die Schatten flitzten von dannen. Anyas Finger an der Taschenlampe waren schlüpfrig vor Schweiß. Vielleicht war es doch keine so gute Idee gewesen, allein herzukommen.
Der Polizeibericht besagte, dass die Leiche des Penners in einem der alten Fahrkartenschalter gefunden worden war. Entschlossen setzte Anya einen Fuß vor den anderen, um in die Überreste des Schalterraums zu schauen. Ihr Licht schweifte über den verbeulten Tresen und die schadhafte Öffnung des Schalterfensters. Glas gab es hier schon seit Jahrzehnten nicht mehr.
Sparky hüpfte durch die Fensteröffnung auf den Tresen. Anya folgte ihm unbeholfen, steckte erst ein Bein durch den Rahmen, dann das andere. Anschließend schob sie sich über den Tresen, bis sie ihre Füße auf den Boden setzen konnte … und in etwas, das nach menschlichen Exkrementen roch.
»Iiih«, ächzte sie und wischte den Schuh an der Wand ab.
Sie ließ den Lichtstrahl durch das vermüllte Büro gleiten, in dem es stank wie in einer Kloake. Eine Ratte erschreckte sie, als sie über den rissigen Boden in ein Nest aus Zeitungen huschte. Der Lichtkegel fiel auf einen Brandfleck auf dem Boden gleich unter dem Tresen. Anya bückte sich, um ihn genauer in Augenschein zu nehmen.
Dies musste die Stelle sein, an der der Obdachlose gefunden worden war. Zwar waren heute, Wochen später, keine verwertbaren Beweise mehr hier, dennoch hatte Anya sich den Brandort persönlich ansehen wollen. Die Fotos, die die Polizei routinemäßig angefertigt hatte, zeigten im Großen und Ganzen dieselbe Müllhalde, allerdings mit einem Paar Füße, das unter dem Tresen hervorragte. Anyas Lichtkegel offenbarte nicht nur die Brandspur auf dem Boden, sondern auch noch eine weitere auf dem Schmutz unterhalb des Tresens und eine vorbeihuschende Küchenschabe. Sollte der Brand eingesetzt haben, als der Mann am Boden gelegen hatte, hätte der Rauch den ganzen Tresen hinaufziehen müssen … und die enorme Hitze, die für die angerichteten Schäden notwendig gewesen wäre, hätte auch den Müll in der näheren Umgebung in Mitleidenschaft gezogen. Doch genau wie in Bernies Haus gab es auch hier nur einen schwarzen Fleck, eine ausgesprochen unbedeutende Spur, die kaum auf solch ein dramatisches Geschehen schließen ließ.
Anya richtete sich wieder auf und nagte an ihrer Unterlippe. Hier lagen eine Menge Glasflaschen herum, darunter einige Schnapsflaschen. Vielleicht war an der Theorie über eine durch schweren Suff herbeigeführte Benommenheit, durch die das Opfer die Verbrennung mittels einer Zigarette nicht mehr hatte wahrnehmen können, doch etwas dran. Aber das erschien ihr zu weit hergeholt. Hätte der Obdachlose nicht irgendwann erwachen müssen, ganz gleich wie viel billigen Fusel er sich vorher einverleibt hatte?
Anya glitt durch die Fensteröffnung des Schalters wieder hinaus. Schatten jagten einander im grellen Schein der Taschenlampe, während sie noch nach einem sicheren Stand suchte.
Sie blinzelte in das Halbdunkel. Irgendjemand war hier. Und irgendjemand hatte irgendetwas gesehen.
»Hallo?«, rief sie, und ihre Stimme schabte an der Decke des Wartesaals. »Ich suche jemanden, der George gekannt hat. Ich bin kein Bulle. Ich will nur reden.«
Schatten wogten. Dann quiekte eine Stimme hinter einer dorischen Säule: »Kein Bulle? Sind Sie Sozialarbeiterin?«
»Nein. Ich bin von der Feuerwehr.«
Eine Silhouette kam hinter der Säule hervor. Anya richtete den Lichtkegel darauf und riss einen bärtigen Mann in einer olivgrünen Militärjacke und einer Baseballkappe aus dem Dunkel. Er trug einen Rucksack über der rechten Schulter. Seine Linke hielt eine knallbunte Einkaufstüte voller Spenden aus einem örtlichen Supermarkt, der für seine Wohltätigkeit bekannt war. Der Mann musterte sie von oben bis unten, und Anya bekam eine Gänsehaut. Sparky baute sich angriffslustig zwischen ihr und dem Fremden auf.
»Sie sehen nicht aus wie ’n Feuerwehrmann. Sie sehen aus wie ’ne Sozialarbeiterin. Und Sie haben Scheiße an den Schuhen.«
»Ich bin keine Sozialarbeiterin. Und, ja, ich hab Scheiße an den Schuhen. Ich bin aber ziemlich sicher, dass das nicht meine ist.«
Der Mann bedachte sie mit einem zahnlosen Lächeln. »Haben Sie Geld?«
»Ich hab Geld, falls Sie Informationen haben.« Anya trat nicht näher. Sie wollte ihn nicht verschrecken. Und sie wollte nicht näher an diesen Mann heran, der stank, als hätte er seit einem Jahr nicht mehr geduscht. »Kannten Sie George?«
»Ja. Der ist tot.«
»Ich weiß. Hat er immer da hinten geschlafen? In dem Schalter?«
»Ja. War sein Lieblingsschlupfloch.«
»Haben Sie je irgendein Anzeichen für Feuer gesehen?«
»In der Nacht, bevor er verschwunden ist, hätte er beinahe ’nen Brand ausgelöst. Hat sich da drin was gekocht, irgendwas, das gut gerochen hat, und er hat’s nicht mit mir geteilt.« Der obdachlose Mann setzte eine finstere Miene auf und kratzte sich an seinem verschorften Kinn. »Wie sich rausgestellt hat, war George das, was da drin gekocht hat.«
Anyas Magen rebellierte, als sie sich an den Schinkengeruch in Bernies Haus erinnerte. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie es sich anfühlen musste, so hungrig zu sein.
»Hier brennt ständig was«, sagte er.
»Was meinen Sie damit?«
»George war nicht der Erste, der Feuer gefangen hat, seit ich hier bin. ’n anderer Kumpel ist in Flammen aufgegangen, wie er die Schienen langspaziert ist … sein Bündel ist hochgegangen wie ’n Sack voller Feuerwerkskörper. ’n anderes Mal ist so ’n Priester hier aufgetaucht, um uns zu ›retten‹«, fuhr er fort und zeichnete kichernd Anführungszeichen in die Luft. »Der hat Schokoriegel mitgebracht, also haben wir uns seine Predigt angehört. Hatten eh nichts Besseres zu tun. Seine Jacke hat Feuer gefangen, und er ist rausgerannt und hat wie ’n Matrose über das Höllenfeuer und Satan geflucht.«
»Erinnern Sie sich an die Namen der Leute?«
»Bin nicht gut in Namen.«
So viel zur Befragung weiterer Zeugen. »Was glauben Sie, ist da passiert?«, versuchte Anya es auf eine andere Weise.
Der Mann zuckte mit den Schultern und spuckte widerlichen Schleim auf den Boden. »Ich glaub, hier spukt’s. Schätze, die Geister zünden dann und wann irgendwas an.«
Anya blickte zu der dunklen Decke hinauf. »Ich könnte mir schon vorstellen, dass es hier spukt.«
»Hier gibt’s immer komische Geräusche. Dinge bewegen sich in den Schatten zwischen hier und den Gleisen hin und her. Manchmal kann man bei Nacht Züge hören.« Seine Augen brannten förmlich. »Das ist, als wäre dieser klapprige alte Schuppen noch in Betrieb, verstehen Sie, was ich meine?«
»Ja, ich verstehe.«
»Wenigstens vertreibt die Frau in Rosa ein paar davon.«
»Die Frau in Rosa?«, wiederholte sie.
»Da gibt’s ’ne Frau, die kommt alle paar Wochen mit haufenweise Flaschen und Gläsern her. Die Geister verschwinden einfach in den Flaschen und Gläsern.«
Anyas Herz schlug einen Takt schneller. »Können Sie mir die Frau beschreiben?«
»Sie ist klein und hat Fleisch auf den Knochen. Anfang fünfzig, blondes Haar. Trägt immer ’nen rosa Hosenanzug und stöckelt auf albernen hohen Absätzen umher.« Der Mann warf einen Blick auf Anyas Füße. »Immerhin schafft sie es, damit nicht in die Scheiße zu treten.«
Anya blinzelte verblüfft. Das hörte sich ganz nach Hope Solomon an. »Hat Sie Ihnen je ihren Namen genannt?«
»Die tut immer, als wär sie zu fein, um mit uns zu reden, aber sie redet mit den Geistern. Schmiert ihnen Honig ums Maul, bis sie nahe genug an der Flasche sind. Und dann … wuuusch! Drin sind sie.« Der Obdachlose schürzte die Lippen und streckte eine schmutzige Hand aus. »Okay, hab Ihnen alles erzählt, was ich weiß. Jetzt sind Sie an der Reihe.«
»Danke«, sagte sie unbeholfen, griff in ihre Tasche und fischte eine Zwanzig-Dollar-Note heraus. Das war alles, was sie bei sich hatte, aber es fühlte sich erbärmlich wenig an.
Der Mann riss ihr den Geldschein aus der Hand. Seine Finger schlugen so schnell zu wie eine angreifende Kobra. Kaum hatte er das Geld, verschmolz er wieder mit den Schatten.
Anya seufzte. Vielleicht wäre es das Beste, wenn dieses Gebäude einfach abgerissen würde. Sie machte auf dem Absatz kehrt und sah sich nach weiteren Brandspuren um. Ihre Taschenlampe huschte über Graffiti, manche plump, andere kunstvoll. An etlichen Stellen entdeckte sie bildhafte Darstellungen von Flammen, und da war auch die rudimentäre Skizze eines gehörnten Teufels.
Für Leute wie diesen Obdachlosen mochte dieser Ort hier durchaus die Hölle sein.
Schatten brodelten am Rande ihres Sehfelds. Sie schienen auf außergewöhnliche Art heranzuströmen, beinahe wie Wasser. Sie setzte ihre Laternensinne ein und spürte Form und Regung von etwas Jenseitigem – von Geistern.
»Hallo?«, hauchte sie.
Doch man ignorierte sie. Anya nahm an, dass die Geister Teil eines sehr subtilen Restspuks waren, einer Finsternis, die wieder und wieder durchlaufen wurde wie eine Schallplatte mit einem Sprung. Vielleicht waren die Profile von Passagieren unauslöschbar in die Gebeine dieses mächtigen alten Gemäuers eingeprägt und strebten nun stets dem Ziel zu, das sie im Leben angesteuert hatten.
Sie trat durch eine Pfütze am Boden, in ihm spiegelte sich der kupferne Rahmen eines nicht mehr vorhandenen Oberlichts. Sie folgte dem Strom der Schatten, die durch einen ausgedehnten, gemauerten Tunnel auf den Bahnsteig zuhielten. Ihre Schritte hallten laut von den Mauern wider, und Sparky hastete direkt vor ihr her. Seine bernsteinfarbene Glut verdrängte ein wenig von der umfassenden Dunkelheit.
Der Bahnsteig selbst war verfallen. Trümmer breiteten sich bis auf die Schienen aus. Baustähle ragten wie Zähne ins Freie. Hier, ohne den Vorzug geborstener Fenster, war die Dunkelheit beinahe undurchdringlich. Sie hörte Wasser tropfen und das leise Rauschen von Zugluft, beinahe, als stünde sie auf einem noch in Betrieb befindlichen Bahnsteig in irgendeiner größeren Stadt. Doch anstelle von Menschen regten sich um sie herum die Geister, bewegten sich in Schlangen vor und zurück wie Ameisen. Sie konnte nur Silhouetten erkennen, erhaschte hier und da einen Blick auf Hüte oder Aktentaschen oder Schuhe. Sie erkannte Männer und Frauen in moderner Kleidung, einen Teenager mit einem Mobiltelefon, eine Frau mit einem Tellerrock und Söckchen. Aber die Bilder strömten in einer Kakophonie erhobener Stimmen an ihr vorüber und teilten sich vor ihr, als wäre sie ein Fels in einem Flusslauf.
Ein dumpfes Grollen erklang in der Ferne und wurde langsam lauter. Der Wind lebte auf und peitschte ihr die Haare ins Gesicht. Sparky bohrte seine Klauen in den Boden. Anya wich zurück, als das Geräusch eines Zuges durch den Tunnel donnerte, begleitet von einem Sog, der an ihr zerrte. Sie riss die Arme hoch, um ihr Gesicht vor herumfliegendem Müll und dem schauerlichen Licht, das den Tunnel badete, zu schützen.
Geräusch und Licht schwanden wieder. Anya ließ die Arme sinken und schlug die Augen auf.
Von ihr und Sparky abgesehen, war der Bahnsteig verlassen. Jeder einzelne Geist war verschwunden, fortgesaugt von dem entsetzlichen Wind.
Hexen waren häufig bereit, Dinge zu tun, vor denen so manch zart besaitetes Gemüt die Flucht ergriffen hätte. Außerdem galten sie als absolut verschwiegen.
Das waren nur zwei der Gründe, warum Anya dann und wann Katie wegen eines magischen Auftrags aufsuchte.
Und dann gab es da noch Katies Backkunst.
Anya saß an Katies Küchentisch und pflückte einen heißen Haferkeks mit Schokostückchen von einem Backblech. Sie jonglierte den Keks, versuchte zu verhindern, dass er ihr die Finger versengte, während sie ihn in den Mund stopfte.
Katie sauste derweil barfuß und in einem langen Faltenrock durch die Küche. Außerdem trug sie eine gepunktete Schürze aus einem Vintage-Shop, die schmerzlich mit ihren karierten Topflappen kontrastierte. Sie sah aus wie Betty Crockers verrückte kleine Schwester. Die Küchenhexe aus Filz, die über dem Fenster hing, klimperte im Luftzug und schien über derlei bizarren Modegeschmack zu lachen.
»Davon könnte ich mich ernähren«, murmelte Anya in einem Anfall schnulzig-klebriger Glückseligkeit.
»Ich teile gern.« Katie beugte sich über die Spüle und leckte Teigreste von ihrem Rührbesen. Hexen hatten keine gesundheitlichen Bedenken wegen roher Eier.
Katies Katzen, Vern und Fay, jagten sich durch die Küche und sausten zwischen den Füßen der Barhocker hindurch. Vern, ein grauer Tigerkater, verhakte sich an einem Bein des Küchentischs und wirbelte auf dem frisch gewachsten Linoleum herum. Er prallte gegen Katies Bein, worauf Teig auf ihre Schürze spritzte. In diesem Moment kam Sparky in die Küche gestürzt, den Schwanz vergnügt aufgestellt. Er verfolgte Vern auf den Flur. Gleich darauf erklang ein leises Kreischen aus dem hinteren Bereich des Hauses.
Katie schüttelte den Kopf und tupfte den Teig von der Brust. »Ich wünschte wirklich, ich könnte Sparky mit den beiden spielen sehen.«
Anya breitete hilflos die Hände aus. Katzen konnten ihn sehen. Ebenso wie Hunde und andere Geister. Und Anya. Die einzige andere Person, von der Anya je erlebt hatte, dass sie Sparky wahrnehmen konnte, war die andere Laterne gewesen, der sie vor einigen Monaten begegnet war. Bei der Erinnerung verdüsterte sich ihre Stimmung: Drake war ihr Feind und ihr Liebhaber gewesen. Vermutlich war er der einzige Mensch gewesen, der sie wirklich hatte verstehen können. Und jetzt war er tot. Bei diesem Gedanken empfand sie nur einen kleinen Anflug von Trauer; es hatte so kommen müssen, dennoch wünschte sie, ihr wäre mehr Zeit mit ihm beschieden gewesen und sie hätte Gelegenheit bekommen, ihn zu fragen, welchem Zweck Leute wie sie auf Erden dienten.
»Du hast mich um einen Gefallen gebeten.« Katie legte die Topfhandschuhe ab. Ihre Finger glitzerten unter all den silbernen Ringen.
»Ich muss mit Bernie sprechen«, sagte Anya ohne Umschweife, stützte das Kinn auf die Hände und starrte Anya über den Tisch hinweg direkt an.
Katie zog die Brauen hoch, und ein neckisches Lächeln umspielte ihren Kussmund. »Du hast nicht Ciro gefragt. Oder Jules.«
»Das geht die DAGR auch nichts an. Und keiner von denen ist mein Vater.« Als sie die Worte aussprach, hörte sie sich bockig an, aber es war die reine Wahrheit. Ciro hatte mehr Fakten über Metaphysik vergessen, als Aleister Crowley je gekannt hatte, war aber höchst sparsam und zurückhaltend in ihrer Anwendung. Er hätte Anya nie verraten, wie sie Kontakt zu Bernie aufnehmen konnte. Und Jules … Anya war überzeugt, der Gedanke, mit Toten zu sprechen, hätte gegen Jules ethische Vorstellungen verstoßen. Wozu also sollte sie ihn provozieren?
Katie zuckte mit den Schultern. »Tja … wir können versuchen, ihn zu rufen.«
»Wie?«
»Wir könnten eine Séance abhalten. Aber dafür brauchen wir wenigstens vier Leute.«
Anya verzog das Gesicht. Brian war vermutlich für so etwas zu gewinnen, aber Max würde Jules gegenüber plaudern.
»Wir könnten auch in den Spielwarenladen gehen und uns ein Ouija-Brett besorgen, aber das würde ich nicht empfehlen.«
»Warum nicht?« Anya war ernsthaft neugierig. Die DAGR hatten schon einige Fälle erlebt, in denen ein Ouija-Brett einem Geist oder Dämon Zutritt zu einem Haus verschafft hatte, aber sie wusste nicht, was diese Methode besser oder schlechter machte als irgendeine andere.
Katie nahm sich einen Keks. »Ein Seelenschreiber ist nicht aus sich heraus gut oder schlecht. Er ist nur ein Werkzeug. Aber moderne Seelenschreiber sind inzwischen zu sehr mit der Vorstellung von einem Spiel verknüpft. Niemand nimmt sie ernst, weshalb kaum jemand mehr die notwendigen Vorsichtsmaßnahmen ergreift. Böses kann herbeigerufen werden, und den meisten Leuten mangelt es an der Fähigkeit, die Aufrichtigkeit des Geistes, den sie gerufen haben, auf die Probe zu stellen.«
»Und es gibt keinen Ausschalter?«
»Diese Leute haben nie gelernt, so eine Verbindung wieder zu lösen oder sich zu schützen. Da wird kein magischer Kreis gezogen, und es werden keine elementaren Schutzgeister angerufen. Das ist das metaphysische Gegenstück dazu, einen Anhalter mitzunehmen, um ihn dann am Ende der Fahrt höflich zu bitten, wieder auszusteigen. Das kann gutgehen, aber es muss nicht.«
Anya unterdrückte ein Schaudern. Sie hatte selbst einmal so einen Anhalter mitgenommen, einen Dämon, den sie sich wie eine schlimme Erkältung von einem Teenager eingefangen hatte, der mit einem Ouija-Brett herumgespielt hatte. Sie erinnerte sich gut, wie das war, wie es sich angefühlt hatte, als der Dämon unter ihrer Haut aktiv geworden war, als er ihre Hände und ihre Stimme kontrolliert hatte. Sie würde nicht zulassen, dass so etwas je wieder geschah.
»Also … wo ist Bernie jetzt? Können wir das irgendwie feststellen?«, fragte Anya und wechselte zugleich das Thema. Ihre Neugier war geweckt. War Bernie in das Jenseits gesogen worden? War er an denselben Ort gegangen, an den Charon das kleine Mädchen gebracht hatte?
»Ich weiß nicht, wo er ist.« Katie fegte Krümel von ihrer Schürze. »Ich glaube, niemand kann zuverlässig sagen, was passiert, wenn wir gestorben sind. Aber wir können trotzdem versuchen, ihn zu rufen.«
Sie wühlte in ihren Schränken nach einem gläsernen Wasserkelch, einer Schachtel mit Salz, einem Geschirrtuch und einem Notizblock. Dann gab Katie Zitronenöl auf das Geschirrtuch und polierte den verschrammten Küchentisch, bis er in einem schlüpfrigen Glanz erstrahlte.
»Deine Aura muss ich auch klären«, sagte sie.
Anya nickte. »Was muss ich tun?«
»Stell dich einfach hier rüber neben den Tisch und denke reine Gedanken.«
Anya setzte eine sorgenvolle Miene auf. »Ich hab den halben Tag in der Gerichtsmedizin zugebracht. Während der anderen Hälfte bin ich mit Scheiße beschmiert durch einen Bahnhof gestreift, in dem es spukt. Mir fallen keine reinen Gedanken ein.«
»Dann denke glückliche Gedanken. Denk an Sonnenschein. Hundewelpen. Sex. Nur nicht an alles gleichzeitig, sonst verwirrst du die Göttin.«
Katie entzündete ein Bündel Salbei und wedelte den Rauch vom Kopf bis zu den Füßen über Anyas Körper. Auf der Höhe des Herzens hielt sie inne.
»Interessant«, murmelte sie.
Anyas Nase kribbelte. Von Salbei bekam sie von jeher einen Niesreiz. »Was?«
Katie blinzelte, doch sie blinzelte nicht direkt Anya an, eher schien ihr Blick durch sie hindurchzugehen. »Deine Aura«, sagte sie. »Sie hat die Farbe geändert.«
»Was meinst du damit?«, fragte Anya alarmiert. Katie hatte Anyas Aura schon häufiger gereinigt, dabei aber nie irgendwelche Unregelmäßigkeiten festgestellt, abgesehen von der Zeit, in der sie einen Dämon beherbergt hatte. Womöglich hatte der Dämon etwas zurückgelassen …
Katie schüttelte den Kopf, und einige Strähnen ihres blonden Haars rutschten über ihre Schultern. »Ich glaube nicht, dass das etwas Schlechtes ist. Deine Aura erscheint mir normalerweise bernsteinfarben, beinahe wie Feuer. Jetzt kommt sie mir dunkler vor, schwärzer. Solide. Wie Obsidian.«
»Und warum ist das nicht schlecht?«
»Manchmal ist die Schwärze, wenn sie in eine Aura eindringt, ein Zeichen der Transformation. Das muss nicht zwangsläufig schlecht sein, also versuch einfach, vorerst nicht darüber zu urteilen.«
Anyas Mundwinkel sackten in einem Ausdruck des Zweifels herab.
Katie fächerte sich selbst mit dem reinigenden Kräuterbündel ab, ehe sie es in eine Seifenschale am Rand der Spüle legte. Eine dünne Rauchfahne stieg von ihm auf und zupfte an den Pluderhosen der Küchenhexe.
Angezogen von dem Salbeigeruch trottete Sparky in die Küche und hielt mit zuckenden Kiemenwedeln inne. Fay und Vern hüpften in der Nähe der Spüle auf die Arbeitsplatte und drückten die Pfoten in das Mehl, das vom Teigkneten übrig geblieben war. Sparky zockelte zu Anya und schaute sie schmachtend an.
»Darf Sparky spielen kommen?«, fragte Anya.
»Klar.« Katie schüttete Salz in einem Kreis um den Küchentisch auf den Boden und rief dabei murmelnd die vier Elemente an. Anschließend zündete sie in allen vier Windrichtungen Kerzen an. Eine weitere Kerze für den Geist wurde in der Mitte des Tischs entzündet. »Halte ihn einfach im Kreis oder draußen, mir ist egal, was.«
Anya holte Sparky in den Kreis, den Katie um ihre Füße zog. Katie schloss den Kreis, und Anya zog einen Stuhl vom Tisch. Sparky machte es sich auf ihrem Schoß bequem und musterte seine Reflexion in der polierten Tischplatte.
Katie setzte sich Anya gegenüber und nahm einen Stapel noch unbeschrifteter Karteikarten, auf denen sie sonst Rezepte notierte, zur Hand. Jede beschriftete sie mit einem Textmarker mit einem Buchstaben des Alphabets. Dann legte sie die Karten in einem Halbkreis auf dem Tisch aus und fertigte drei weitere Karten an, die sie mit JA, NEIN und ADIEU beschriftete.
»Das sieht einem Ouija-Brett verdächtig ähnlich.«
»Eine Art Vorgänger. Diese Art der Kontaktaufnahme mit Geistern war in Mode, als Tischerücken und unheimliche Klopfgeräusche und dergleichen zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts für Wohnzimmerspielchen herhalten mussten. Der Unterschied ist, dass diese Hilfsmittel alle geweiht sind und wir uns sicher innerhalb eines magischen Kreises aufhalten. Und da wir keine Korsagen tragen, werden wir wohl auch nicht in Ohnmacht fallen.« Katie stellte den Glaskelch kopfüber in die Mitte des Tisches. »Möge die Göttin dich segnen und über unsere Bemühungen wachen.«
Sie legte ihre Fingerspitzen an den Fuß des Glases und bedeutete Anya, es ihr gleichzutun. Ihre Ringe funkelten im Kerzenschein. Anya griff am Kopf des Salamanders vorbei und folgte Katies Beispiel. »Und jetzt?«
»Jetzt bitten wir den Geist des Jasper Bernard, zu uns zu sprechen.«
»Hört sich nach einer großen zeremonialmagischen Sache an.« Im Grunde war Katie nämlich eine Art Küchenhexe – eine Pragmatikerin, die mit allem improvisierte, was sie in die Finger bekam. Zwar hatte Anya durchaus schon erlebt, dass sie höhere Magie gewirkt hatte, aber im Allgemeinen bevorzugte die Hexe trivialere Methoden.
»Das ist es auch. Es geht etwa so: »Jasper Bernard, sind Sie hier?«
Nichts geschah. Anya und Katie starrten gute fünf Minuten lang den Kelch an. Sparky gähnte und legte den Kopf auf den Tisch.
»Jasper«, sagte Katie in gebieterischerem Tonfall. »Bitte kommen Sie zu uns.«
»Ich glaube, er hört eher auf ›Bernie‹«, flüsterte Anya.
Das Glas ruckelte unter ihren Fingern, beschrieb einen lebhaften Kreis und bewegte sich schneller und schneller. Anya hatte Probleme, mitzuhalten. Auf ihrem Schoß richtete sich Sparky auf und reckte die Kiemenwedel auf den Tisch vor.
»Bernie, sind Sie das?«
Die provisorische Planchette bahnte sich einen Weg zu der Karte mit dem Wort JA. Unter der Karte hielt sie inne und kreiselte herum wie ein Käfer, der in einem Glas gefangen war.
»Frag ihn etwas, um seine Identität zu überprüfen«, flüsterte Katie ihr zu. »Etwas, das irgendein zufällig erschienener Geist nicht wissen kann.«
»Bernie, wir wissen, dass Sie Ciro kennen. Erzählen Sie uns von Ihrer gemeinsamen Zeit.«
Das Glas zögerte. Für einen Moment war Anya überzeugt, sie hätten sich nur irgendeinen voyeuristischen Geist eingefangen, der Spielchen mit ihnen trieb, und ihre Gedanken rasten weiter zu der Frage, wie sie ihn bannen konnten. Aber dann rutschte das Glas zielsicher über das Alphabet aus Karteikarten und schrieb: B-O-W-L-I-N-G.
Katie nickte. »Sehr schön.«
»Wo sind Sie, Bernie?« Anya konnte sich die Frage nicht länger verkneifen. Nachdem sie gesehen hatte, wie der Geist gewaltsam aus dem Haus herausgesogen worden war wie eine Laus in ein Staubsaugerrohr, wollte sie wissen, wo er geblieben war.
Das Glas beschrieb ein Knotenmuster, aus dem das Wort G-E-F-A-E-S-S entstand.
»Was für ein Gefäß? Eine Flasche?«
Der Kelch kreiste um das NEIN, doch die Bewegungen wurden unstet, wirr, und schließlich sauste er über den Tisch und berührte Buchstaben in zufälliger Abfolge.
»Ich glaube, wir verlieren ihn«, murmelte Katie. »Es ist, als würde sich jemand in unser Gespräch einmischen.«
Anya beugte sich vor. Sie war so verspannt, dass die Knöchel der Finger, die am Fuß des Glases lagen, weiß unter der Haut hervortraten. »Bernie, was ist mit Ihnen passiert? Wir müssen das wissen.«
Das Glas wirbelte herum und entzog sich den Fingern von Anya und Katie. Es buchstabierte H-O-P-E, ehe es vom Tisch fiel und auf dem Boden zersprang. Katies Katzen flüchteten als wirres Fellgetümmel aus der Küche. Sparky kletterte von Anyas Schoß und schnüffelte knurrend an den Scherben.
Katie sah Anya über den Tisch hinweg in die Augen. »Hope. Sagt dir das etwas?«
Anya setzte ein grimmiges Lächeln auf. »Es liefert mir jedenfalls einen Hinweis darauf, wo ich zuerst nachsehen sollte.«