KAPITEL NEUN

Als Anyas Telefon klingelte, dachte sie zuerst, das Thermometer in der Badewanne würde Alarm schlagen. Panisch schoss sie hoch und kämpfte fluchend mit der Decke, die sich um ihre Ellbogen gewickelt hatte.

Sie beugte sich über die Wanne, und die fröhliche Ente verkündete, dass die Temperatur im Nest knapp über dreißig Grad lag. Sparky hob den Kopf und blinzelte ihr verärgert entgegen.

Das Telefon klingelte immer noch. Anya befreite sich aus dem Griff der Decke und stolperte über den Korridor in die Küche.

»Kalinczyk«, murmelte sie, als sie das Gespräch annahm.

»Raus aus den Federn!«, forderte eine donnernde Stimme. Es war Marsh. Himmel! Sie warf einen Blick auf die Küchenuhr. Bis zum Arbeitsbeginn blieben noch drei Stunden Zeit.

»Mit allem gebotenen Respekt, Captain … was zum Teufel soll das? Es ist vier Uhr morgens.«

»Hieven Sie Ihr jämmerliches Hinterteil aus dem Bett und kommen Sie ins Detroit Institute of Arts. Ich warte dort auf Sie.«

Damit legte er auf.

»Scheiße«, grollte Anya.

Sie hatte sich noch keine Gedanken über die logistischen Probleme bei der morgendlichen Körperreinigung unter Verzicht auf die Vorzüge einer Dusche gemacht. Nach einigen Fehlversuchen schaffte sie es schließlich, ihr Haar mit Hilfe der Spülbrause im Küchenbecken zu waschen. Anschließend unterzog sie sich mit den neuen Waschlappen aus dem Mega-Baby-Supermarkt einer Art Schwammwäsche. Sie musste zugeben, dass die Biobaumwollplüschwaschlappen nett waren. Wirklich nett.

Zitternd gelang es ihr schließlich, in ihre Arbeitskleidung zu schlüpfen, ohne sich dabei die Zähne aus dem Kopf zu klappern: schwarze Hose, kohlschwarze Bluse, schwarze Jacke. Sie legte etwas Lippenstift auf und beschloss, ihr Haar bei offenen Fenstern auf der Fahrt lufttrocknen zu lassen.

Als sie sich im Badezimmer am Waschbecken die Zähne putzte, sah sie, dass Sparky den Kopf auf den Rand der Badewanne gelegt hatte und sie beobachtete.

Entschlossen nahm Anya den Salamanderreif ab und legte ihn auf den Tisch. Kalte Wassertropfen rannten an ihrem Hals herab. Sie zog einen abwischbaren Marker aus der Tasche und ging neben der Wanne in die Knie.

»Das«, sagte sie, »ist nur zu deinem Besten.«

Sie zeichnete einen holprigen Kreis auf die Fliesen, einmal ganz um die Wanne herum. Sparky beobachtete sie dabei, und seine Kiemenwedel richteten sich sorgenvoll auf. Wenn ein magischer Kreis einen Salamander aus ihrem Bett zu verbannen mochte, dann konnte er bestimmt auch einen Salamander in der Badewanne festhalten. Selbst dann, wenn dieser Kreis schief war und teilweise über die Wand führte. Anya ließ eine kleine Lücke, um hineinzugreifen und Sparky zu umarmen.

»Du bleibst heute daheim.«

Der Salamander befreite sich aus ihrem Griff und trottete über den Badezimmerboden.

»Sparky!« Sie wusste nicht, wie sie ihn einfangen und zurückbringen sollte. Der Plan, den sie in ihrem benebelten Kopf geschmiedet hatte, hatte dergleichen nicht vorgesehen.

Sparky kletterte auf den Tisch, packte den Salamanderreif mit den Zähnen und watschelte zurück zur Badewanne. Dort drehte er sich dreimal im Kreis und knetete den Schlafsack mit den Pfoten, ehe er den Reif über dem Wasserhahn losließ.

»Okay«, sagte sie verständnislos. Aber wenn Sparky sich ihr näher fühlte, solange der Reif innerhalb des Kreises war, sollte es ihr auch recht sein.

Sie schloss den Kreis mit einem letzten Markerstrich, und Sparky kuschelte sich in sein Nest.

»Ich bin heute Abend zurück«, murmelte sie.

Als sie die Haustür hinter sich verriegelte, kratzte sich Anya geistesabwesend am Hals. Ohne den Reif fühlte sie sich nackt. Ungeschützt. In der Dunkelheit bildete sie sich ein, die Schatten um sie herum würden sich bewegen und näher rücken. Ohne ihre Alarmanlage in Form eines Salamanders fiel es ihr schwer, ihre Fantasie im Zaum zu halten.

Sie glitt hinter das Steuer des Darts und nahm das iPhone aus der Tasche.

»Sparky anrufen«, sagte sie.

Auf dem Display erschien das beruhigende, rot-orangefarbene Bild von dem Salamander in seinem Nest. Über die Audioübertragung glaubte sie, ein Schnarchen zu hören.

Anya atmete tief durch und drehte den Schlüssel im Zündschloss.

Er kommt schon klar, sagte sie sich immer wieder. Er kommt schon klar.

Allein, ihr fehlte der Glaube daran.

In den frühen Morgenstunden vor Anbruch der Dämmerung schlief noch die halbe Stadt. Die Straßenbeleuchtung summte leise, und die ersten Wagen krochen auf die Parkplätze der Vierundzwanzig-Stunden-Coffeeshops. Die Schnellstraßen waren nahezu verlassen, und die ersten Lichter in Schlafzimmern und Küchen der Reihenhäuser, die sich durch Maschendrahtzäune von der Straße abgrenzten, wurden gerade erst eingeschaltet. Die Stadt wirkte ruhig, friedlich. Aber Anya wusste, das war nur eine Illusion: Sie wusste, die Kinder träumten von Eltern, die um ihr finanzielles Überleben kämpften, Mütter und Väter unterhielten sich über verlorene Arbeitsstellen und den Umzug an einen anderen Ort. Schon jetzt bildete sich die übliche Schlange vor dem Arbeitsamt, und mehr als eine Person starrte gerade in ihr Müsli und überlegte, wie lange es wohl noch dauerte, bis die nächste Autofabrik schließen würde.

Sie bog auf die Woodward Avenue ein und brauste die Straße hinunter zum DIA, dem Detroit Institute of Arts. Das Gebäude selbst erweckte den Eindruck einer machtvollen Illusion. Licht fiel kunstvoll auf die Stufen und den ausgedehnten Vorplatz, der sich bis zur Straße erstreckte. Eine Kopie von Rodins Denker stand vor der Eingangstür, aber sein Gesicht lag im Schatten und verriet derzeit nicht, ob er seinen Betrachtungen nachhing oder einfach nur schlief.

Anya hätte gewettet, dass er wach war. Eine Hand voll Polizeifahrzeuge, ein Feuerwehrwagen und einige Sanitäter belagerten den Bordstein. Irgendwo in der Ferne konnte sie das Heulen einer Alarmanlage hören, die noch nicht ausgeschaltet worden war. Die Tasche mit ihrer Ausrüstung lag schwer auf ihrer Schulter und brachte ihre Waden zum Brennen, als sie sich an den scheinbar endlosen Aufstieg machte.

Sie konnte Marsh an der Glastür ausmachen, wo er im Licht der rot-blauen Signalleuchten mit Sanitätern sprach.

»Captain«, sagte sie. Marsh war stets der Erste an einem Einsatzort. Das war eines der unveränderlichen Gesetze des Universums. »Was gibt’s?«

Marsh deutete mit dem Daumen über seine Schulter zur Eingangshalle. »Der Feueralarm wurde ausgelöst, und zwei Wachleute werden vermisst. Wir nehmen an, die hocken Däumchen drehend hinter der Absperrung der Sonderausstellung.«

Anyas Blick fiel auf das Wasser, das die Stufen hinabrann. »Der Schadenssachbearbeiter wird die Burschen lieben.«

»Ja, aber im Gegensatz zum Kriminallabor hat das Museum Maßnahmen ergriffen, um die Kunstgegenstände zu schützen. Stahltüren und dergleichen. Anscheinend weiß niemand so ganz genau, was sie hier alles haben, weil sich das bei Museen ständig ändert und sie sich nicht an der Brandschutzverordnung orientieren müssen.«

»Irgendwie muss man das doch herausfinden können. Sind diese Informationen nicht irgendwo aktenkundig?«

»Ich hab ein paar Angestellte aus dem Bett geholt, damit sie im Archiv nach den Unterlagen suchen. Ein verdammtes Verwaltungschaos haben die da.«

Anya verzog das Gesicht. Marsh fluchte selten, aber wenn er es tat, dann war das ein sicheres Zeichen dafür, dass man ihnen noch den Kopf irgendeines Tölpels auf einem Silbertablett servieren würde. »Sind die Wachleute in Ordnung?«

»Das wissen wir nicht genau.«

Anya legte die Stirn in Falten. »Sie wissen es nicht?«

»Erinnern Sie sich noch an die Stahltüren? Eine davon ist runtergeknallt, und wir konnten sie bisher nicht öffnen. Das DPD bemüht sich um Kreativität.« Marsh verdrehte die Augen.

Ein lautes Krachen hallte durch das Museum.

»Wunderbar«, ächzte Anya. »Können die sich nicht einfach die Codes von dem zuständigen Sicherheitsunternehmen holen? Oder von irgendeinem Museumsmitarbeiter?«

»Die zuständige Mitarbeiterin des DIA ist, wie es scheint, außer Landes, neue Kunst auf den Fidschis sammeln, und ihre Assistentin geht nicht ans Telefon. Das Sicherheitsunternehmen zeigt sich nicht übermäßig kooperativ, da anscheinend niemand in der Lage ist, diese Leute davon zu überzeugen, dass wir nicht gerade versuchen, einen Kunstraub durchzuziehen. Vermutlich werden sie jemanden herschicken.«

Ein weiteres Krachen erschütterte das Glas in den Türen.

»Aber so macht es mehr Spaß«, kommentierte Anya.

»Genau«, stimmte Marsh zu. »So macht es viel mehr Spaß.«

Anya ließ ihre Tasche neben ihren Füßen zu Boden sinken und stellte ihren Kaffee daneben ab. »Kann ich zusehen?«

»Tun Sie sich keinen Zwang an, Kindchen. Aber machen Sie Notizen – ich bin überzeugt, die Versicherung wird einen vollständigen Bericht darüber haben wollen, wie das Sicherheitssystem beschädigt wurde.«

Anya kauerte sich neben ihre Tasche und suchte ihren Overall. Wozu den Brandort noch weiter beeinträchtigen, als er es ohnehin schon war? Sie schloss den Reißverschluss bis zum Hals, zog ihre Nomex-Handschuhe an – nur für den Fall, dass es doch noch irgendwo brannte – und klemmte sich den Helm unter den rechten und die Tasche unter den linken Arm, ehe sie durch die Glastür in die Eingangshalle des Museums ging.

Wie so viele der architektonischen Wahrzeichen Detroits war auch das Detroit Institute of Arts in den 1930ern erbaut worden. Bogenfenster zogen sich bis zu der Gewölbedecke der Großen Halle empor. Rüstungen in Vitrinen wachten über den Mosaikboden und schienen Anya zu beobachten, als sie durch den Saal schritt. Ein rot leuchtendes Stroboskop warf einen höllischen Lichtschein auf das Glas, der den Eindruck vermittelte, ein Feuer rase durch die Dunkelheit.

Anya folgte dem Lärm der Sirenen. Ihre Intuition meldete sich bohrend zu Wort. Normalerweise hätte das Alarmsystem die Sprinkleranlage aktivieren müssen, sodass man überall stehendes Wasser und Pfützen vorfand. Aber da war nichts. Vielleicht hatte das Feuerunterdrückungssystem versagt, und das wäre kein gutes Zeichen.

Sie ging durch die Große Halle und dann nach rechts auf die Promenade. Vor einer Tür zu einem Ausstellungsraum, auf der ALTE GRIECHISCHE UND RÖMISCHE KUNST zu lesen war, hielt sie inne. Ein halbes Dutzend Polizisten in SWAT-Ausrüstung wimmelte herum wie in einem Wespennest. Zwei Hünen verbeulten die Tür mit einem Gerät, das aussah wie eine Ramme. Ein Mann spielte mit einer Art Knetmasse herum. Gleich darauf winkte er die beiden Männer mit der Ramme beiseite und brachte den Sprengstoff mit einem blinkenden Zünder an der Tür an.

Toll. Das war der Raum, in dem das wirklich kostbare Zeug gelagert war, und diese Jungs waren gerade dabei, das alles in die Luft zu jagen!

»In Deckung!«, brüllte der Knetgummimann.

Anya rammte sich den Helm auf den Kopf und rannte zurück über die Promenade. Sie hatte kaum mehr als ein halbes Dutzend Schritte geschafft, da erschütterte eine Explosion das Glas über ihr. Sie sprang zurück und schirmte das Gesicht mit den Händen ab, als direkt vor ihr eine Scheibe aus einem Oberlicht herunterkam und auf dem Boden in einen glitzernden Hagelsturm zersprang. Splitter schossen über ihren Schutzanzug, und einer erwischte ihre Haut.

»Arschlöcher«, fluchte sie. Sie tat einen Schritt rückwärts und rieb sich das Knie. Das tat weh.

Dann drehte sie sich wieder zu dem Saal mit den antiken Kunstwerken zu und hoffte, dass noch etwas davon übrig war. Staub und Rauch füllten die Halle, und Anya wühlte in ihrer Tasche nach der Atemschutzmaske. Der Plastiksprengstoff hatte ein hübsches Loch in die Stahltür gesprengt, groß genug, dass das SWAT-Team hineingelangen und sich gegenseitig Befehle zubrüllen konnte. Irgendjemand schaffte es sogar, den akustischen Alarm abzuschalten, doch der hinterließ nach seinem Verstummen ein schrilles Kreischen in ihren Ohren.

Aber irgendetwas stimmte nicht. Die Polizisten zogen sich aus dem Ausstellungsraum zurück, hustend und würgend, und Anya nahm durch die Atemschutzmaske einen ekelhaften, süßlichen Geruch war.

Scheiße.

Es gab einen Grund, warum das Museum hier auf eine Sprinkleranlage verzichtet hatte. Sie benutzten Halon zur Brandunterdrückung. Die Stahltür war eingebaut worden, um den Raum luftdicht zu versiegeln, während das Gas die Flammen erstickte … und vermutlich auch die Wachleute im Saal.

Anya atmete tief durch. Ihre Atemschutzmaske war keine große Hilfe, wenn es darum ging, inertes Halon auszufiltern. Sie kletterte durch das Loch in der Tür und suchte sich über das verbogene Metall und die geborstenen Fliesen einen Weg ins Herz des Ausstellungsraums. Sofort erkannte sie, dass der Schadenssachbearbeiter der Versicherung gar nicht erfreut sein würde. Vitrinen aus Stahl und Plexiglas waren über vielen der Exponate zusammengebrochen, aber es sah ganz danach aus, als wäre die Büste eines Wagenlenkers umgekippt und von einem herabfallenden eisernen Schutzvorhang zerschmettert worden. Anya erkannte eine marmorne Schulter in dem Schutt.

Was sie aber wie erstarrt innehalten ließ war der unverkennbare Geruch jenseits der künstlichen Süße des Halons.

Magie.

Sie drehte sich zu einem der schweren, lederbezogenen Polstersofas in einer Ecke des Chaos um. Füße lugten unter ihm hervor.

»Hier drüben!«, brüllte sie den Jungs vom SWAT-Team zu, aber niemand kam. Anya rollte das Sofa von den Leibern.

Ein junger Mann in der Uniform eines Wachmanns umklammerte einen Feuerlöscher wie ein Kind einen Teddybären. Neben ihm lag, alle viere von sich gestreckt, ein weiterer Wachmann bäuchlings am Boden. Anya packte den Mann mit dem Feuerlöscher unter den Armen und zerrte ihn durch das Loch in der Tür hinaus aus dem Saal. Allmählich drang frische Luft in den Raum, aber nicht schnell genug.

Das SWAT-Team brüllte nach den Sanitätern. Anya schnappte einige Male nach Luft, ehe sie in den Saal zurückstürzte und die Fußgelenke des bäuchlings dort liegenden Wachmanns packte. Die Vorderseite seiner Uniform war komplett schwarz und mit ätzendem Löschschaum überzogen, und seine Arme pressten sich auf seinen Bauch. Sie zerrte ihn hinaus auf den Gang, gerade als weitere Feuerwehrleute mit Atemschutzmasken herannahten. Die beiden Wachleute wurden eilends fortgebracht, raus an die frische Luft und zu den Sanitätern, die am Bordstein warteten. Anya folgte ihnen stampfenden Schritts.

Marsh ergriff ihren Arm, als sie sich die Maske vom Gesicht riss und die frische Luft tief in ihre Lunge sog. Sie hustete sich die Süße des Halons und die Bitterkeit der Magie aus ihren Atemwegen. In einer sauerstofffreien Umgebung war eine Atemschutzmaske nicht sonderlich nützlich. So kurz sie dem Gas auch ausgesetzt war, sie fühlte sich schwindelig und elend – wie mochte es da wohl den Wachleuten gehen, die das Zeug wer weiß wie lange eingeatmet hatten.

»Was zum Teufel ist da drin passiert?«, verlangte Marsh zu erfahren.

Anya schüttelte den Kopf und krächzte: »Das ist ein beschissenes Desaster. Sie hatten Halon in dem Saal. Wie lange ist es her, seit Alarm ausgelöst wurde?« Sie musterte das Gedränge auf den Stufen. Die Sanitäter machten nicht den Eindruck, als hätten sie es sonderlich eilig, und Anya wurde das Herz schwer.

»Über eine Stunde«, sagte Marsh. »Wir versuchen seit mehr als einer Stunde, in diesen verdammten Saal reinzukommen.« Er fuhr sich mit der Hand über die Augen. »Wir haben damit gerechnet, zwei durchnässte Wachleute in einem Raum mit Sprinkleranlage vorzufinden, nicht zwei Tote.«

Als er weitersprach, tat er es mit unterdrücktem Zorn. »Niemand sollte so etwas in einem Gebäude einsetzen, in dem sich Menschen aufhalten. Eigentlich sollte es ein Alarmsystem geben, das die Leute warnt, damit sie das Gebiet räumen können, ehe der Raum versiegelt wird.«

Anya runzelte die Stirn und dachte an die kaputten Artefakte und den eisernen Vorhang. Sie lief zurück zu ihrem Dart, um ihre Ausrüstung zu ergänzen, und Marsh folgte ihr. Anya zog ein Atemschutzgerät mit einer Druckluftflasche aus dem Kofferraum und schlang sich die Gurte über die Schultern. Die Atemschutzmaske war nicht gerade ideal für den Aufenthalt in erstickenden Gasen, aber sie wollte auch keine unnötigen Risiken eingehen. Diese Flasche würde sie ungefähr fünfundvierzig Minuten mit frischer Atemluft versorgen.

»Wo wollen Sie hin?«

»Wieder rein und mich umsehen, solange der Brandort noch frisch ist«, sagte sie über ihre Schulter hinweg. Allerdings bezweifelte sie, dass sie noch viele Beweise finden würde. Nach dem Schaden, den das SWAT-Team angerichtet hatte, und ihrer eigenen Trampelei bei dem Bemühen, die Wachmänner herauszuholen, musste sie davon ausgehen, dass alle Beweise, die sie finden würde, bereits beeinträchtigt worden waren. Aber vielleicht stieß sie trotzdem auf etwas, das sich als nützlich erweisen mochte.

Ein vom grellen Schein der Notbeleuchtung erhellter Nebel aus weißem Gas hing noch immer in der Luft, wenn er auch nicht mehr so dicht war wie vorher. Anya schnappte sich ihre Kamera und begann, mit eingeschaltetem Blitzlicht Fotos zu schießen. Die Versicherungsgesellschaft würde dem DFD so oder so vorwerfen, seine Ermittler seien unfähig und den Fall selbst übernehmen, aber sie wollte sich zumindest absichern. Und selbst wenn es nicht mehr genug Beweise gab, um einwandfrei zu rekonstruieren, was hier vorgefallen war, wollte sie es doch wenigstens versuchen.

Sie schoss ein Bild von der Bank, die umgekippt vor der Wand lag. Die V-förmige Brandspur dort reichte hoch genug, um den Sensor des Brandschutzsystems des Museums zu aktivieren. Das ließ darauf schließen, dass das Feuer hier angefangen hatte. Sie untersuchte die Umgebung mit ihrer Taschenlampe, suchte nach Zigarettenkippen oder Feuerzeugen. Nichts.

Ihr Blick huschte über die Artefakte. Diese Dinge waren viel, viel wertvoller als alles, was Bernies Sammlung zu bieten hatte: Da gab es marmorne Edelfrauen- und Göttinnenköpfe, funkelnde römische Glasobjekte, Bronzemünzen und Freskenfragmente. Es ließ sich nicht mehr feststellen, welcher Gegenstand welche anderen beschädigt hatte und was, falls überhaupt, fehlte. Sie nahm an, dass das Antidiebstahlsystem irgendwie ausgelöst und der Raum etwa zur gleichen Zeit abgeriegelt worden war, als das Feuerunterdrückungssystem aktiv wurde, womit die beiden Männer in der Falle gesessen hatten. Eine dumme Computerpanne, ausgelöst durch mieses Timing? Aber das war nur eine Vermutung – sie würde sich die Logs des Sicherheitsunternehmens ansehen müssen, um Genaueres in Erfahrung zu bringen.

Vor einer mächtigen Vitrine in der Mitte des Raums hielt sie inne. Amphoren, Krüge und andere irdene Gefäße, dekoriert mit den immer noch dynamisch aussehenden Bildern von Männern, Frauen und Tieren, waren auf Stufen arrangiert worden. Als ihr Blick auf das Ausstellungsstück im Zentrum fiel, stockte ihr der Atem: ein Tongefäß mit zwei Henkeln, ein Pithos, beinahe eins zwanzig hoch. Der Rand war mit einem stilisierten Mäandermuster verziert. Darunter fand sich das verblasste Bild einer Frau. Anya ging um die Vitrine herum und versuchte, sich einen besseren Blick auf den Pithos zu verschaffen. Sie konnte eine Frau erkennen, die neben einem Gefäß stand, hoch aufgerichtet und stolz und wunderschön in ihrem weißen Gewand. In der nächsten Szene lagen ihre Hände auf dem Pithos. In der dritten lag der Pithos auf der Seite, und Furcht erregende schwarze Gestalten entfleuchten dem Krug und stiegen in den Himmel hinauf. Die Frau schien mit vor das Gesicht geschlagenen Hände neben ihm zu kauern.

»Die Büchse der Pandora.«

Anya wirbelte auf dem Absatz herum und erblickte einen Geist, der sie beobachtete. Und nicht nur irgendeinen Geist. Dieser Geist schmückte sich mit den Insignien eines römischen Kriegers: kurze Tunika, bis zu den Knien geschnürte Sandalen, rotes Pallium, Spangenpanzer und ein Helm mit Crista. Seine rechte Hand ruhte auf seinem Schwertgurt. Er war ein Prachtexemplar der Männlichkeit: muskulös, breitschultrig … die Art Mann, die eine Hauptrolle in einem Gladiatorenfilm verdient hätte.

Automatisch rechnete Anya damit, dass Sparky dazwischengehen würde, und ihre Hand schoss an ihre Kehle. »Wer bist du?«

»Gallus, Legionär Roms in der Reiterei der Republik.« Er blies sich auf wie ein Hahn und schenkte ihr ein listiges Lächeln, während er sie von oben bis unten musterte. »Du bist eine Frau. Das konnte ich unter dieser … Plastikrüstung zunächst nicht erkennen.«

»Ich bin Anya.« Sie runzelte die Stirn. Es war nicht außergewöhnlich, dass Geister Museen heimsuchten. Dort gab es viele Dinge, die anziehend auf sie wirkten – Künstler wurden von ihren Skulpturen angelockt, andere Tote von Reliquienbehältern. Sogar eine Münze konnte einem ruhelosen Geist ein Zuhause nach dem Tod bieten. Aber Anya war noch nie einem alten Römer begegnet. »Ich bekämpfe Feuer.«

»Aha. Dafür bist du etwas spät dran, fürchte ich.«

Anya hielt eine Hand hoch. »Einen Moment mal. Woher kannst du Englisch?«

Der Römer zuckte mit den Schultern. »Ich bin schon seit ein paar Tausend Jahren da, und die letzten Jahrhundert habe ich damit zugebracht, Touristen in Museen zu belauschen. Wenn man sich ausreichend langweilt, kann man eine Menge lernen.«

»Klingt logisch.« Ihre Augen wanderten durch den vernebelten Raum. »Würde es dir etwas ausmachen, wenn ich dich frage, was dich hier festhält?«

»Mein verdammter Gaul.« Gallus drehte sich um und zeigte auf eine Vitrine an der Westmauer. Anya sah eine Sammlung bronzenen Zaum- und Sattelzeugs mit einem reliefartigen Blattmuster. Einzelne Fragmente eines Rossharnischs, Geschirrteile und Sattelhörner waren um die auf der Rückwand aufgezeichneten Umrisse eines Pferdes herum arrangiert worden. »Sein Name war, was immerhin recht passend scheint, Pluto.«

»Verstehe ich nicht. Du hängst wegen eines Pferdes hier fest?«

Gallus nahm seinen Helm ab, und Anya erkannte, dass auf der linken Seite ein mächtiges Loch in seinem Kopf klaffte. »Pluto und ich hatten eine äußerst konfliktbehaftete Beziehung.«

Anya nickte. »Oh.«

Aus der Vitrine erhob sich ein Pferdekopf, und Anya wich unwillkürlich einen Schritt zurück. Das Pferd sah sich mit angelegten Ohren in alle Richtungen um. Es sah wahrhaft in jeder Beziehung so aus, wie man sich ein Höllenpferd vorstellen mochte: Es war kohlrabenschwarz und bleckte die Zähne. Nun löste es sich aus der Vitrine und donnerte durch den Saal, sein Sattelzeug klimperte, und der tintenschwarze Schweif war zornig aufgerichtet.

»Dir auch einen guten Morgen, Pluto«, blaffte Gallus hinter ihm her. Das Pferd schnaubte und schlug mit dem Schwanz, ehe es durch eine Wand verschwand.

Gallus zuckte mit den Schultern. »Er donnert nachts durch die Gänge, nur um die anderen zu ärgern. Besonders gefällt es ihm, wenn er dabei unsichtbar ist, weil er sie dann noch besser erschrecken kann.«

Plötzlich vermisste Anya Sparky schmerzlich. Und sie fragte sich, ob das, was sie hier erlebte, auch das war, was sie in den kommenden Jahrhunderten erwartete: in einem Museum herumzuspuken, während Sparky entfesselt umherrannte. »Äh … darf ich fragen … Wie viele andere gibt es hier?«

»Dutzende. Mit den böhmischen Geistern hat man am meisten Spaß. Jedenfalls mit denen, die noch ihre Köpfe haben. Die anderen sind ein bisschen pervers …«

Pervers? Sexuell pervers? Geister? Anya rieb sich die Stirn. Dies war nicht der passende Zeitpunkt, über lüsterne Geister zu sinnieren. Ihr Atmen unter der Maske erschien ihr mit einem Mal extrem laut, und sie war sich des schwindenden Sauerstoffvorrats allzu bewusst. Sie wollte ihre kostbare Luft nicht für einen eitlen alten Römer vergeuden, der mit seinen Eroberungen prahlte. »Ich versuche herauszufinden, was hier in der letzten Nacht passiert ist. Kannst du mir etwas über das Feuer erzählen? Und über die Büchse der Pandora?«

Gallus nickte. »Gary und Paul hatten Nachtwache. Gary schläft immer während der Arbeit.« Er zeigte auf die umgekippte Couch. »Paul ist neu. Er nimmt alles sehr ernst, patrouilliert zu allen Kontrollpunkten, schaltet das Licht ein, was so dazugehört. Die Folge war, dass Pluto sich einen Spaß mit ihm gemacht hat. Wenn Pluto richtig Lärm machen will, dann können ihn sogar gewöhnliche Menschen hören. Paul hat Pluto die Treppe runter in die Cafeteria verfolgt, als das Feuer ausgebrochen ist.«

»Und wo warst du?«

»Ich war gerade hinter dem heißen Feger aus der neuen Asienschau her. Jupiter sei Dank für die wechselnden Ausstellungen.« Gallus’ Mundwinkel wanderten zu einem Ausdruck erhabener Freude nach oben. »Ich kann zwar kein Wort Koreanisch, aber ich bin nicht abgeneigt, ein paar Jahrzehnte mit ihr zu verbringen. Alles lief gut, bis diese koreanischen Kerle mit der Hwacha aufgetaucht sind.« Gallus verdrehte die Augen. »Die sind ihren Frauen gegenüber noch besitzergreifender als die Mongolen.«

»Was war mit dem Feuer, Gallus?«

»Wie auch immer, ich hörte jedenfalls eine Sirene heulen. Das Erste, was ich dachte, war, dass irgendwas Schlimmes mit Plutos Fürbug und dem Rest des Harnischs passiert wäre.« Gallus starrte zu den Artefakten empor. »Ich weiß nicht, was aus mir würde, sollte das Zeug Schaden nehmen. Ich meine, die Sachen haben Brände und Fluten und Stürme überdauert, aber …« Er schüttelte den Kopf. »Ich bin in den Ausstellungsraum zurückgegangen und habe Gary brennend vorgefunden. Aber das war kein normales Feuer. Ich hab schon alle möglichen Feuer gesehen, und ich hab selbst mehr als genug Dörfer niedergebrannt. Gary lag auf dem Sofa, und eine blaue Flamme flackerte über seinem Bauch. So brennt einfach kein Körper.«

Anyas Lippen wurden schmal. Sie wollte gar nicht wissen, aus welchen Gründen Gallus so etwas wusste. »Bist du sicher, dass sie blau war?« Blaue Flammen entstanden bei bestimmten Temperaturen und nur unter gewissen Bedingungen … und Gallus hatte recht, es waren nicht die Bedingungen, die man normalerweise mit einem menschlichen Körper in Verbindung brachte.

»Ich hab nur einmal eine ähnliche Flamme gesehen, an einem Gasbrenner, damals, als sie draußen die Promenade repariert haben.«

»Was ist dann passiert?«

»Dann wurde es richtig unheimlich.« Der Geist verschränkte die Arme, und Anya war für einen Moment abgelenkt durch die Abschürfungen und die Reste getrockneten Bluts an seinen Armbinden. »Plötzlich sind Geister aufgetaucht.«

»Die böhmischen Geister oder das koreanische Mädchen, hinter dem du her warst?«

»Nein, das waren keine Museumsgeister. Das waren freie Geister, Geister ohne Fixpunkt. Ich hatte sie vorher noch nie gesehen. Da hat sich ein Loch in der Decke aufgetan und ein Dutzend Geister ausgespuckt. Es war wie ein Zyklon.«

Anyas Herz donnerte in ihrer Brust, und sie zwang sich, langsam zu atmen, um keine Luft zu verschwenden. »Kannst du sie beschreiben?«

»Junge Geister, viel jünger als ich. Die meisten waren so gekleidet wie die Leute, die man im Museum zu sehen bekommt. Sie haben versucht, da dranzukommen.« Er zeigte auf die Vitrine mit dem Pithos.

»An die Büchse der Pandora?«

»Ich hab versucht, mit ihnen zu sprechen, aber sie waren vollkommen stumm – es war, als könnten sie mich nicht hören. Ich meine, neue Damen spreche ich natürlich immer an. Insofern war das ein bisschen enttäuschend.« Er zwinkerte Anya zu, und sie verdrehte die Augen.

»Wie dem auch sei, sie haben versucht, an das Gefäß da drüben zu kommen, aber ich schätze, sie haben irgendwie Mist gebaut. Der Alarm ging los, und die eisernen Vorhänge kamen runter. Zu diesem Zeitpunkt war Paul wieder hier und hat Gary mit dem Feuerlöscher abgespritzt.« Gallus schüttelte den Kopf und schlug die Augen nieder. »Sie konnten nicht mehr raus.«

Anya legte die Stirn in Falten. »Was war mit den Geistern?«

»Sie schienen ein wenig zu verblassen, als würde ihre Energie schwinden. Dann hat sich erneut ein Loch in der Decke aufgetan, und sie wurden rausgesogen, wie mit einem dieser Staubsauger, die die Gebäudereiniger benutzen. Sie waren einfach … fort.«

Anya ging zu der Vitrine mit den Amphoren. »Auf dem Schild hier steht, das große Gefäß sei Gerüchten zufolge die Büchse der Pandora, was aber von Seiten der Archäologen bestritten würde. Glaubst du, sie ist es?«

Gallus schnaubte verächtlich. »Na ja, ich hab mich darauf gefreut, Pandora zu begegnen, aber der Pithos ist ohne sie angekommen. Keine Ahnung, ob er echt ist oder nicht, aber er ist allemal alt genug dafür.«

Anya musterte das Gefäß aus zusammengekniffenen Augen. Es war zweifellos groß genug, um eine erwachsene Frau aufzunehmen. »Was genau ist ein Pithos? Ist das eine Art Weinfass?«

»Dafür kann man ihn benutzen. In einem Pithos kann man alles lagern – Getreide, Öl, Wein – oder einen Toten. Man kann einfach die geliebte Großmutter reinstopfen und das Ding in der Erde verbuddeln. Dieser hier ist ein Beerdigungsgefäß.«

Anya trat näher an die Vitrine, um besser sehen zu können. »Aber jetzt ist nichts mehr drin?«

»Nichts, das sich mir gezeigt hätte. Ich hatte gehofft, Pandora wäre vielleicht nur schüchtern, aber …«

Auch wenn sie sich den Hals noch so sehr verdrehte, konnte sie doch kaum in die Öffnung des Pithos hineinsehen. Er besaß keinen Verschluss, und sie sah, dass sich das fluoreszierende Licht sich in seinem Inneren spiegelte.

Und es funkelte. Funkelte wie die Bruchstücke der Flasche, die sie in Bernies Kamin gefunden hatte. Wie die rotbraune Vase auf Hopes Schreibtisch. Und wie das Innere ihrer Badewanne.

»Trotzdem ist dieser Pithos etwas Besonderes«, fuhr Gallus fort. »Er ist ein Reliquienbehälter.«

»Enthält er die Gebeine eines Heiligen?«

»Nein. Das ist ein Gefäß, das Geister beherbergt. Die meisten Reliquienbehälter beherbergen einen oder zwei, und diese Geister sind meist so langweilig, dass man sie ebenso gut für tot halten könnte. Ein Gefäß dieser Größe kann Hunderte, wenn nicht Tausende, von Geistern enthalten. Selbst wenn das nicht die echte Büchse der Pandora ist, ist es nicht weniger gefährlich.«

Sie erinnerte sich an die Worte von Bernies Geist: »Lassen Sie nicht zu, dass sie das Gefäß findet!«

»Scheiße«, murmelte Anya noch, ehe ihr die Luft ausging.