KAPITEL ACHTZEHN
»Ich gehe nirgends mit dir hin.« Anya verschränkte die Arme vor der Brust. Es fiel ihr schwer, eine ernsthafte Abwehrhaltung einzunehmen, solange Dutzende von vollgefressenen Salamandern über ihren Körper kletterten, aber sie versuchte es dennoch. Einen, der auf ihrer Schulter stand und an ihrer Wange leckte, pflückte sie herunter und setzte ihn auf den Boden, auf dass sich Sparky um ihn kümmern sollte.
Charon legte die Stirn in Falten. »Muss ich dich wirklich daran erinnern, was auf dem Spiel steht? Jetzt, da Hope die Büchse der Pandora hat, hat sie genug Speicherkapazität, um die Hälfte der Geister im amerikanischen Mittelwesten einzufangen.«
»Darum geht’s nicht. Woher soll ich wissen, dass du mich auch an den Ort bringst, von dem du behauptest, du würdest mich hinbringen.« Anya konnte sich keine schlimmere Hölle vorstellen als das Feuer, das das Zuhause ihrer Kindheit verzehrt hatte, wusste aber nicht, ob sich das nicht noch steigern ließ. Und sie hatte nicht die Absicht, es herauszufinden.
»Ich hab keine Kontrolle darüber, wohin uns der Geisterzug bringt. Du musstest hierherkommen, um deine … Angelegenheiten zu regeln.« Charon verdrehte die Augen. »Ich hab keine Lust, noch mehr Zeit mit dir zu vergeuden.«
»Scheint so, als würdest du’s wirklich genießen, ein Psychopomp zu sein.«
»Wie du meinst.« Charon kehrte ihr den Rücken zu. »Ich gehe zurück zum Zug und schaue, ob er mich jetzt zu Hope bringt. Du kannst mitkommen oder es sein lassen.« Er trat die Zigarette mit dem Absatz aus und stolzierte die Straße hinunter.
Anya sah sich zu dem Haus um. Bis auf einen Haufen geschwärzter Balken, stinkende PVC-Klumpen und glitzernde Glassplitter hatte das Feuer alles verzehrt. Ihr war wenig daran gelegen, hier herumzusitzen und darauf zu warten, dass nur noch Asche übrig war. Und sie verspürte nicht den Wunsch, in den Trümmern nach den Überresten ihrer Mutter zu suchen … oder nachzusehen, ob die Feuerkreatur in Gestalt eines Mannes noch immer hier herumlungerte. Seufzend lief sie hinter Charon her. Sparky trottete neben ihr, und die kleinen Salamander kamen hinterher und knabberten an ihren Fersen. Anya hoffte, sie waren nicht mehr hungrig, aber vielleicht konnte sie sie gegebenenfalls überzeugen, ein bisschen an Charon zu nagen.
Die Straße vor ihr dehnte sich wie ein schwarz-weiß gestreiftes Band. Schneeflocken leuchteten in der Dunkelheit auf. Anya fühlte, wie die Kälte allmählich durch die Ritzen ihrer Rüstung kroch, als die Hitze des Feuers nachließ. Dort, wo die Minisalamander sie als Reitgelegenheit nutzten, drang jedoch eine sengende Hitze durch den Panzer, als hätten sie sich etwas von dem Feuer bewahrt, in dem sie zum Schlüpfen herangereift waren. Sparky tapste gemächlich neben ihr; sein Schwanz peitschte über die dünne Schneedecke und verwischte Charons Fußabdrücke. Kalte Luft verfing sich im Halsbereich von Anyas Rüstung, ein Geräusch, als würde ein Kind auf einer leeren Flasche blasen.
Charon blieb am Bahnübergang stehen und drehte sich auf den Gleisen nach Westen um.
»Dort entlang ist der Weg kürzer«, war alles, was er sagte. Dann ging er auf der Schiene weiter. Trittsicher fanden seine Stiefel den Weg.
Anyas gepanzerte Füße hingegen eigneten sich nicht dazu, pfeilgeschwind über das Gleis zu laufen. Bedächtig hob sie einen Fuß nach dem anderen und trat von Schwelle zu Schwelle. Sparky hüpfte neben ihr, während die kleinen Salamander wie Grashüpfer hinter ihnen durch den Kies und den grün schimmernden Schotter sprangen.
Stunden schienen vergangen zu sein, als ein inzwischen vertrautes Grollen in der Ferne erklang. Anya machte, dass sie von den Gleisen kam, und rief nach Sparky und den Minisalamandern. Sie konnte das Vibrieren der Schienen spüren.
Charon blieb auf den Schienen stehen. »Wir können den Zug von hier aus erwischen.«
Anya blinzelte verdattert. »Von den Schienen aus?« Schon sah sie die Lichter des Zuges in der Ferne aufflammen. »Er wird uns überfahren.«
Charon schüttelte den Kopf. »Es wird genauso ablaufen wie im Bahnhof. Unangenehm, aber es wird dich nicht umbringen.« Er streckte eine Hand aus.
Zähneknirschend ergriff Anya sie und kletterte auf die zweite, schlüpfrige Schiene. Sparky schmiegte sich an ihr Bein, und sie hörte ein metallisches Klimpern überall dort auf ihrer Rüstung, wo sich die Minisalamander festklammerten.
Alles in ihr forderte sie auf, davonzulaufen, als der Zug auf Sichtweite herandonnerte, ein dunkles Gebilde hinter einem gelben Lichtkegel. Wenn sie auch wusste, dass er nicht real war, so klang das Horn doch überaus real, ebenso real, wie sich das Rumpeln in den Schienen anfühlte, und ihr Herz hämmerte so sehr, dass sie fürchtete, es würde ihr aus der Brust springen.
Sie warf einen schnellen Blick auf Charon, der neben ihr auf der anderen Schiene balancierte. Seine Miene wirkte kühl und gleichmütig, und seine Hand lag kalt in der ihren.
Das Licht wusch über sie hinweg. Anya schnappte nach Luft und bereitete sich auf den schrecklichen Aufprall vor, der sie wie eine Coladose plätten und die Salamander eine Meile weit über die Gleise verstreuen würde …
… aber der Zug fuhr einfach durch sie hindurch und zerrte sie in einem Sog aus Dunkelheit und Schneeflocken mit sich. Anya empfand erneut Schwerelosigkeit, als sie durch die Schwärze wirbelte und den kalten Schnee auf ihren Lippen kostete. Als das Donnern verhallte, erinnerte sie sich, dass sie ihre Beine bewegen sollte, um im Laufen auf dem Boden aufzukommen, wie Charon es ihr gesagt hatte …
… da trafen ihre kupferbewehrten Füße schon auf einen Untergrund aus geborstenem Beton. Benommen stürzte sie voran. Ihr Magen hüpfte ihr bis in die Kehle, und ihre Füße ratterten über den Boden wie ein halb abgerissener und mitgeschleifter Auspufftopf. Irgendwie schaffte sie es, nicht zu stürzen, obwohl Sparky, der sich an einem Bein festklammerte, sie mit seinem Gewicht aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte. Schlitternd kam sie schließlich zum Stehen.
Es regnete Salamander, ausgespien von der Dunkelheit, die sie umfing. Sie überschlugen sich, krochen und krabbelten über den Asphalt, gekränkte Opfer des wenig zimperlichen Geisterzug-Personals, davon abgesehen aber unversehrt. Anya zählte fünfzig. Hatte sie einen verloren?
Panisch sah sie sich um, zählte noch einmal und suchte nach dem fehlenden Salamander. Der Geisterzug verschwand donnernd am Horizont, und Anya wünschte beinahe, sie könnte wieder einsteigen …
»Suchst du den hier?« Charon zog einen Salamander am Schwanz aus seiner Tasche. Anya bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick, entriss ihm die zappelnde Kreatur und barg sie an ihrer Brust.
»Armes Baby«, gurrte sie.
»Er hat meine Zigaretten angeknabbert«, knurrte Charon.
Der Salamander rülpste, und das Bäuerchen roch nach Weihrauch.
Anya machte auf dem Absatz kehrt und musterte das leere Grundstück, auf dem sie standen. Das rote Licht einer Ampel über einer nahen Straßenkreuzung fiel auf geborstenen Asphalt. Unkraut wucherte in den Rissen. Auf der anderen Seite erkannte sie hinter einem verbeulten Müllcontainer einen kaputten Maschendrahtzaun. Die Gegend kam ihr vertraut vor, aber sie konnte sie nicht einordnen. »Wo sind wir jetzt?«
»Auf Hopes Türschwelle«, entgegnete Charon missvergnügt.
Anya runzelte die Stirn. Ja … dies war der Ort, an dem in der physischen Welt Hopes Hauptniederlassung stehen musste, aber hier gab es kein Gebäude. Hier gab es nichts außer Müll, den der Wind über das leere Grundstück trieb.
Charon überquerte den zerklüfteten Asphalt und ging zu dem Müllcontainer. Er stemmte sich mit der Schulter dagegen und schob ihn zur Seite. Ratten huschten unter dem Container hervor, und er gab ein eingerostetes Ächzen von sich, als er über den Boden rutschte. Anya blinzelte verblüfft. Dieser Abfallcontainer musste mindestens eine Tonne wiegen. Entweder galten hier andere physikalische Gesetze, oder Charon war erheblich weniger menschlich, als sie angenommen hatte. Vielleicht war das der Grund, warum die Salamander offenbar kein Interesse verspürten, an ihm zu knabbern.
Charon hielt inne und zupfte sich das gelbe Einwickelpapier eines Cheeseburgers aus dem Haar, das sich dort verfangen hatte. »Hier.«
Anya starrte hinab in das Loch, das bis eben von dem Müllcontainer verdeckt gewesen war. Es erinnerte an die Sturmkeller alter Häuser: ein gemauerter Rahmen mit Stufen, die hinab in die Finsternis führten. Ihr fiel auf, dass sich das Loch genau an der Stelle befand, die der Keller im Originalgebäude einnahm. Aber irgendwie bezweifelte sie, dass sie hier ein Lager mit Büromaterial und Regalen voller staubiger Flaschen vorfinden würde. Auf dieser astralen Ebene war nichts so, wie es schien, und sie ging davon aus, dass dieser Keller keine Ausnahme bildete.
»Wie konnte das versteckt gehalten werden?« Anya überlegte, ob es einen Müllwagen gab, der jede Woche vorbeikam, um den astralen Container zu leeren.
»Das ist eine Illusion. Eine kleine Tarnung, die Hope benutzt, um ihre Spuren auf dieser Ebene zu verwischen.«
Charon ging die ausgetretenen Stufen hinunter, und Anya folgte ihm. Sparky lief neben ihr her, während die kleinen Salamander die Stufen hinabhüpften wie Slinky-Spiralen. An diesem Ort schien es kein Licht zu geben, aber Sparky und die Molche verbreiteten einen unsteten Bernsteinschimmer, der gerade ausreichte, um etwas zu erkennen und sich windende Schatten an die irdene Decke warf. Wurzeln von Bäumen und kleineren Pflanzen wuchsen von oben in den Schacht hinein. Sie stiegen weiter die schadhafte Wendeltreppe hinunter. Es roch nach Winter, nach kalter Erde. Nach Tod.
Sie hörte Wasser rauschen und zog die Nase kraus. »Was ist das? Die Kanalisation?«
Vor ihr schüttelte Charon den Kopf. Er schien das Licht der Salamander nicht zu brauchen, um etwas zu sehen; er nahm die schiefen Stufen nach unten, als wäre er derjenige gewesen, der sie abgenutzt hatte. »Nein, das ist der Styx.«
Anya stockte der Atem. Die Treppe endete vor einem schlammigen Damm, der zu den brüchigen Rändern eines Kanals führte, welcher in den Stein gehauen worden war. Der Kanal war künstlich angelegt worden. Seine Biegungen zogen sich dahin, so weit das Licht über das seichte schwarze Wasser reichte.
»Bist du sicher, dass das der Styx ist? Es sieht nämlich aus wie ein Abwasserkanal.«
Charon seufzte. »Es ist nicht der Styx. Nur ein kleiner Zubringer. Wenn du dich deiner mythologischen Kenntnisse erinnerst, fällt dir vielleicht ein, dass er neunmal um den Hades fließt.«
»Ich dachte, wir sind hinter Hope her.« Anya ballte die Fäuste und unterdrückte den Drang, dem Psychopomp den Hals umzudrehen.
»Dies ist der Ort, an den sie sich zurückgezogen hat, jedenfalls auf dieser Ebene. Wir werden den Krieg wohl zu ihr tragen müssen.« Charon fing an, am Ufer auf und ab zu gehen und Abfälle durch die Gegend zu treten, modrige Zeitungen, Plastikbecher, Limonadendosen. Die Salamander schienen vor dem Wasser zurückzuschrecken. Vielleicht hatten Feuerelementargeister nicht viel übrig für den Styx. Angesichts seines schlechten Rufs konnte Anya die Zurückhaltung durchaus nachvollziehen.
»Weiß sie, dass wir kommen?« Anya klapperte zum Ufer. In ihrer Rüstung konnte sie den Fluss keinesfalls durchschwimmen. Sie strich mit den Fingern über die Nähte des Panzers. Sie hatte keine Ahnung, ob ihr astrales Ich unter der Rüstung bekleidet war, aber sie nahm an, dass dem Fährmann der Toten nichts fremd war. Sie nahm den Helm ab und legte ihn auf einen sauberen Abschnitt in dem Kies zu ihren Füßen. Dann begann sie, die Handschuhe abzustreifen.
»Wahrscheinlich nicht. Noch nicht.« Charon stapelte leere Milchflaschen und zählte mit einer Hand die Deckel. In der anderen zerrte er ein eingedrücktes grünes Planschbecken in der Form einer Schildkröte mit sich.
Als sie versuchte, ihren Brustharnisch zu öffnen, stierte er sie an. »Was zum Teufel machst du da?«
»Ich bereite mich darauf vor, da rüberzuschwimmen«, sagte sie in sachlichem Ton, auch wenn ihre Wangen glühten.
Charon musterte sie, als wäre sie vollends übergeschnappt. »Menschen können nicht in dieses Wasser steigen. Das ist der Styx.«
»Zunächst mal ist das ein Abwasserkanal, Blödmann. Aber ich bin in Ermangelung von Beweisen bereit anzuerkennen, es könnte, bestenfalls, auch ein Zubringer des Styx sein. Zweitens hat der Styx Achilleus unverwundbar gemacht. Und schließlich scheinst du es ja auch überlebt zu haben. Also leck mich am Arsch.«
Charon fuhr sich mit einem Finger der Hand, die die Plastikdeckel hielt, über die Kehle. Seine Miene war finster. »Du weißt nicht, was dich das kostet. Jede Magie hat ihren Preis, und das ist beim Styx nicht anders. Aber, hey, wenn du unbedingt nackt rumlaufen willst, dann lass dich nicht aufhalten.« Charon wandte sich ab und begann, die Deckel auf Plastikflaschen für Limonade und Milch zu schrauben, aber Anya glaubte einen Funken verschrobenen Amüsements in seinen Zügen zu erkennen. Nur für einen kurzen Moment.
»Schön … und wie zum Teufel komme ich sonst rüber? Gibt es irgendwo eine Brücke?« Anya konzentrierte sich darauf, ihre Finger wieder in die Handschuhe zu schieben.
Charon schnürte die Plastikflaschen mit einem Stück Elektrokabel zusammen und band sie an dem soliden Rand des Schildkrötenplanschbeckens fest. »Wenn du aufhören würdest zu reden, dich auszuziehen und alle möglichen anderen Dinge zu tun, die nur vom Wesentlichen ablenken, würdest du vielleicht erkennen, dass ich bereits an dem Problem arbeite.«
Anya bedachte ihn mit einem mürrischen Blick. Wenigstens hatte er ihre Nacktheit als Ablenkung bezeichnet. Das war der einzige Funke Menschlichkeit, den sie bisher an ihm hatte entdecken können.
Charon drehte sein Werk um. Das Planschbecken sah aus wie ein von einem durchgeknallten Künstler aus Abfällen hergestellter Entwurf einer Qualle. Luftgefüllte Flaschen hingen fest verzurrt unter dem Rand. Charon warf das Becken ins Wasser, wo es platschend auftraf, was die Salamander veranlasste, fauchend die Flucht zu ergreifen. Das Becken schwamm und zog Tentakel aus Plastik und Draht hinter sich her.
»Da hast du dein Scheißboot.«
Anya starrte das provisorische Wasserfahrzeug an. »Äh, ja, danke.«
Charon zog das Boot nahe ans Ufer, und Anya kletterte auf das seltsame Konstrukt. Der Kunststoff schwankte heftig unter ihrem Gewicht und zerbröselte noch etwas mehr, als Sparky und die anderen Salamander ebenfalls an Bord sprangen. Die Molche tänzelten nervös quiekend am Rand entlang und fürchteten offensichtlich, sie könnten sich ihre zarten Tatzen benetzen.
Anya warf Sparky einen verwunderten Blick zu. »In der physischen Welt hast du kein Problem mit Wasser. Verdammt, du hast sogar deine Eier in der Badewanne gelegt.«
»Der Styx ist anders«, sagte Charon und ließ das Boot los, woraufhin es träge zu kreiseln begann.
Anya klammerte sich am Rand des Beckens unter dem Schildkrötenkinn fest. Für Charon war an Bord des braven Bootes mit Namen Schildkröte kein Platz mehr. »Was ist mit dir?« Für einen Moment fürchtete sie, er würde nicht mitkommen, und der Schrecken ging ihr durch und durch.
Charon schritt in das Wasser. Sein schwarzer Mantel wehte hinter ihm wie die Schwingen eines Raben. Er ergriff das Elektrokabel und zog die Schildkröte in tiefere Gewässer.
»Ich hab bereits ein Bad im Styx genommen. Ein weiteres wird mein Karma auch nicht viel mehr verhunzen.«
Anya schluckte. Trotz seines lässigen Auftretens war sie überzeugt, dass auch Charon dafür einen Preis würde zahlen müssen.
Charon watete in das Wasser, bis es ihm bis zum Kinn reichte. Dann fing er an zu schwimmen. Anya klammerte sich am Rand der Schildkröte fest, während die Salamander sich unter ihr und um sie herum drängelten. Sie fühlte, wie ihre Pfoten an ihrer Rüstung kratzten, um sich daran festzuklammern. Vielleicht taten sie gut daran, das Wasser zu fürchten.
Das Treideln führte allmählich in ein tiefes Dunkel, in dem Wasser in gewundenen Stollen tropfte. Obwohl Anya kaum eine Strömung wahrnehmen konnte, schien es, als müsste Charon bisweilen gegen einen schweren Sog ankämpfen, was dazu führte, dass sich das Elektrokabel ächzend spannte. Mehr als einmal glaubte sie, etwas zu sehen, das sich unter dem Wasser bewegte, und jedes Mal alarmierte sie Charon im Flüsterton. Doch der signalisierte ihr nur grunzend, dass er ihre Warnung vernommen hatte, und zog sie weiter in die Schwärze.
Anya zitterte, und die Molche zerrten an ihr, während sie fortwährend ihre Position veränderten wie Heuschrecken auf einem Baum. Sparky blinzelte sie an, und wieder regte sich Anyas Gewissen. Der Gedanke daran, wie die Molche den unschuldigen Geist des Schutzmanns gefressen hatten, machte ihr zu schaffen. Anya hatte nie grundlos einen Geist verschlungen, aber die Salamander wurden nun mal nicht von irgendwelchen Moralvorstellungen geleitet. Ihr atavistischer Hunger schockierte Anya.
Und doch … sie führte sie in die Schlacht gegen Hope. Anya nahm an, dass ihre Widersacherin alle Geister, die noch ihrer Kontrolle unterlagen, gegen sie einsetzen würde, darunter auch das Kontingent der ehemaligen Museumsgeister. Viele von ihnen waren einst Krieger gewesen, und die würden kämpfen, ob sie wollten oder nicht. Andererseits waren diese Geister an dem Konflikt vollkommen schuldlos. Konnte sie diese armen Seelen, die nicht minder unschuldig waren als der Schutzmann, einfach so vernichten, um andere vor Hopes Machenschaften zu schützen?
Sie schüttelte den Kopf, woraufhin ein Salamander, der auf ihrem Helm gethront hatte, in ihren Schoß fiel und sogleich mit einem wütenden Schnauben an ihrem Arm heraufkrabbelte. Nie zuvor hatte Anya so sehr an ihrer Rolle der Seelenverschlingerin gezweifelt. War sie nicht anders als die Salamander, die einfach wahllos Geister verschlangen, nur um einen primitiven Hunger zu stillen? Immerhin war sie als Mensch doch imstande, gut und böse zu unterscheiden.
Aber die Offenbarung ihrer Mutter hatte auch in diesem Punkt Zweifel gesät. Ein Teil von ihr weigerte sich, sich mit der Erinnerung an die brennende Gestalt im Schlafzimmer ihrer Mutter zu beschäftigen. Der Gestalt, die ihr Vater war. Anyas Mutter hatte nie zuvor von ihm gesprochen. Anya hatte immer angenommen, dass er ein ganz normaler Mensch war, vielleicht ein Versager mit einem Alkoholproblem, der kein Interesse an seiner Tochter gezeigt hatte. Gegen diese Vorstellungen hatte Anya sich schon vor langer Zeit einen emotionellen Panzer zugelegt, auch wenn ein kleiner wunder Punkt in ihrer Seele sich immer noch fragte, ob er seine Tochter je gewollt hatte, ob er sie je hatte kennenlernen wollen.
Und jetzt … Jetzt wusste sie, dass er sie allerdings wollte. Und dass er ein Monster war.
Was machte das aus ihr?
Ein Molch saß auf ihrem Knie und tschirpte sie voller Verehrung an. Sein Schwanz zuckte hin und her, und er blinzelte und schnurrte leise. Wie konnte sie diesen Kreaturen vorwerfen, dass sie sich verhielten, wie es ihre Natur von ihnen verlangte? Das war, als würde man sich darüber empören, dass Löwen eine Gazelle rissen – da gab es kein Gut oder Böse, da gab es nur Instinkt.
Anya tätschelte den Salamander mit der Fingerspitze und dachte nach. War sie wirklich anders als diese Kreaturen? Konnte sie sich im Ernstfall dazu durchringen, Unschuldige zu töten, um eine schlimmere Katastrophe abzuwenden?
Sie wusste tief im Herzen, dass sie töten würde, um die Molche zu schützen. Vielleicht war das die einzige Antwort, die sie im Augenblick brauchte. Mit Fragen zu den Themen Menschlichkeit und Schuld konnte sie sich später befassen.
Charon hatte das Boot durch einen engen Tunnel gezogen und schleppte es nun Richtung Ufer. Es schien, als lastete das Wasser, das an seinem Mantel herablief, schwer auf ihm. Er zog das Boot an das kiesbedeckte Flussufer und stolperte ins Trockene.
Anya sprang unbeholfen aus dem kleinen Schildkrötenboot, und die Salamander hüpften wie auf Sprungfedern quiekend hinterher.
»Alles in Ordnung?«
Charon saß am Boden, die Arme auf den Knien, den Kopf gesenkt und triefnass. »Ja, lass mir nur eine Minute Zeit zum Ausruhen.« Er hob den Kopf und starrte schwer atmend zur Decke empor.
Das blonde Haar fiel ihm triefend über die Augen. Ohne die Punkerstacheln war er eigentlich ganz attraktiv. Anya verspürte den Drang, Charon die nassen Strähnen aus dem Gesicht zu streichen.
Nicht berühren, sagten ihre Instinkte. Gift.
Ob ihr Unbewusstes nun das Wasser oder Charon selbst meinte, Anya gehorchte und faltete die Hände hinter dem Rücken. Sie überwachte den Landgang der übrigen Molche und zählte ihre Köpfe, als sie über das Ufer tapsten.
Plötzlich hielten die Molche inne und drehten sich um. Ein Grollen erklang in der Dunkelheit hinter ihnen, leise, aber so tief, dass der Kies am Ufer erbebte. Ehe Anya irgendetwas tun konnte, stürzte Sparky mit gebleckten Zähnen auf den Ursprung des Geräuschs zu.
»Nicht«, keuchte Charon, doch es war zu spät.
Eine gewaltige schwarze Kreatur donnerte in ihr Blickfeld. Drei Köpfe, die aussahen wie Hundeköpfe, knurrten und sabberten unter löwenartigen Mähnen. Der Körper der Kreatur schimmerte wie ein Ölteppich, zäh und glänzend. Sie griff Sparky an und schleppte einen Schwanz hinter sich her, der an den eines Warans erinnerte. Im Gegensatz zu den Geistern sah diese Kreatur verdammt massiv und solide aus.
Anya stürzte voran und glitt auf Händen und Knien vor Sparky in den Kies. Die dreiköpfige Kreatur bäumte sich auf. Anya bedeckte das Gesicht mit den Händen und wartete darauf, dass sich die Zähne des Wesens in ihre Rüstung bohrten.
»Kerberos.« Charons Stimme durchschlug die Luft wie ein Peitschenknall.
Anya lugte mit einem Auge über den Ellbogen hinweg. Die Kreatur saß auf dem Hintern, alle drei Köpfe in die Richtung gedreht, aus der Charons Stimme erklungen war. Anya nutzte die Gelegenheit, um sich auf die Beine zu stemmen.
»Entschuldige. Das ist Kerberos.«
»Das sehe ich selbst.« Blinzelnd musterte Anya die Kreatur, die etwa so groß war wie ein Pony. Mit geschlossenen Mäulern erinnerten die drei Hundeköpfe an Labrador Retriever. Anya fiel auf, dass sie Halsbänder trugen: ein rosarotes, an dem ein Kristallanhänger mit dem Namen Prinzessin baumelte; eines in Tarnfarbe mit der Aufschrift Muffel; ein schwarzes Lederhalsband mit silbernen Jou-Jous, die zusammen das Wort Mäuschen ergaben. Prinzessin legte den Kopf schief und richtete die Hundeohren auf. Mäuschen schnüffelte an Sparky, und Muffel schob seine Nase unter Charons Hand. Charon rubbelte Muffel Ohren und Kinn und redete in einer Art Babysprache mit ihm, die vage, aber doch nicht ganz nach Latein klang. An Muffels Halsband hing eine gut dreieinhalb Meter lange, abgerissene Kette.
Anya zog sich mit Sparky zu den Molchen zurück, die immer noch alarmiert am Ufer entlangwanderten wie Lemminge in der Falle. Sparky schlängelte sich um ihre Knie und reckte den spatenförmigen Schädel vor, um an Mäuschens feuchter Nase zu schnüffeln. Zur Belohnung fuhr dieser ihm mit der Zunge durch das Gesicht.
»Ist er … dein Vertrauter?«, brachte Anya mit schwacher, rauer Stimme zustande.
»Wir sind nicht an der Hüfte zusammengewachsen wie du und Sparky. Kerberos sitzt größtenteils hier fest und bewacht das Tor zur Unterwelt. Und er, Kerberos, das sind eher drei Kreaturen.« Er verstummte und untersuchte das abgerissene Ende der Kette.
»Deshalb die Halsbänder?«
»Ja. Nach ein paar Tausend Jahren haben sie gewissermaßen ihre eigenen Persönlichkeiten entwickelt.« Der dreiköpfige Hund legte Charon die Pfoten auf die Schultern und fuhr ihm schwanzwedelnd mit gleich drei Zungen durch das Gesicht.
Sparky und die Molche sahen Anya fragend an. Anya fiel nichts Besseres ein, als mit den Schultern zu zucken.
Charon streichelte die Flanken des Höllenhundes, doch als er die Hand zurückzog, waren seine Finger rot vor Blut. Als Anya genauer hinsah, erkannte sie eine lange, klaffende Wunde an den Rippen des Hundes. Vor der glatten, schwarzen Haut war das Blut schwer zu sehen. Anya fiel lediglich auf, dass das Schwarz an einigen Stellen einen stärkeren Glanz hatte.
Charons Augen wurden dunkler, bis sie die Farbe eines Gewittersturms hatten. »Wer hat dir das angetan?«
Kerberos winselte und legte sich auf den Kies. Die Schlappohren flatterten, als er die Köpfe flach über den Boden schob.
Charon machte auf dem Absatz kehrt und marschierte zum Flussufer. Kerberos trottete hinter ihm her. Anya, Sparky und die Molche folgten ihnen zögernd, und Anya fragte sich, ob Charon hier noch andere Haustiere hatte.
Ungefähr hundert Meter weiter blieb der Fährmann vor einem Loch in der irdenen Wand stehen, die den träge dahinströmenden Fluss flankierte. Das Loch war mit einem eisernen Gittertor verschlossen, das mit Rost und abblätternder grüner Farbe überzogen war. Schlicht und schmucklos wie es war, war es genau die Art von Tor, die Anya in einem Abflusskanal erwartete. Die Abstände in dem Gitter waren groß genug, dass Wasser und Ratten es passieren konnten, viel größer aber auch nicht. Verschlossen war es mit einer Kette und einem gewöhnlichen Vorhängeschloss, an dem sich schaumbedeckte Entengrütze verfangen hatte.
Allerdings gab es einen großen Riss bei den Türbändern. Die Metallstrebe auf der linken Seite war so weit aus der Wand gerissen worden, dass ein Loch entstanden war, groß genug, damit eine Person hindurchschlüpfen konnte.
Charon stand vor dem Tor und musterte das Loch mit finsterem Blick. Kerberos kauerte mit eingezogenem Drachenschwanz hinter ihm.
»Es ist nicht deine Schuld«, murmelte er und kraulte das nächste Ohrenpaar. Dann löste er die abgerissene Kette von Muffels Halsband und wickelte sie um seinen Unterarm.
»Was ist passiert?«, fragte Anya.
»Schätze, das ist Hopes Werk. Sie hat Kerberos aufgemischt und das Tor zur Unterwelt aufgebrochen.«
Anya blinzelte verblüfft. »Das ist das Tor zur Unterwelt?« Es wirkte so … gewöhnlich. Sie hatte angenommen, das Höllentor würde aussehen wie eines der mit kunstvollen Mosaiken geschmückten Tore der Ischtar im Museum. Oder wie diese Rodin-Skulptur, die mehr als sechs Meter hoch und von Szenen aus Dantes Inferno inspiriert worden war. Das hier war doch nur … ein jämmerliches kleines Gittertor.
Charon kratzte sich an der Nase. »Es ist eines davon. Es mag nicht sonderlich kunstvoll sein, aber es erfüllt seinen Zweck.« Er trat gegen ein lose herabbaumelndes Stück am Gitter. »Jedenfalls hat es das einmal.«
Der Höllenhund setzte sich vor das Tor.
Charon schaute Anya und die Salamander durch die Gitterstäbe an. Seine Augen brannten in der Dunkelheit in einem machtvollen Blau wie eigenständige, biolumineszente Lebewesen. »Kommst du mit?«
»In die Hölle? Ja, ich denke schon.« Anya schauderte, zog den Kopf ein und passierte das Tor.