KAPITEL ZWEI

»Es sah aus wie ein Barsch an der Angel … er hat gekämpft, wurde aber trotzdem einfach aus dem Wasser gezogen. Wohin weiß ich nicht.«

Anya starrte ihren Drink an. Auch in den milchigen Tiefen des White Russian sah sie immer noch die Bilder, wie Bernie in den Äther gerissen wurde.

Ihre Stimme hallte durch den Raum. Um diese Zeit war die Bar mit dem Namen Devil’s Bathtub fast leer. Die Bar, die in der Zeit der Prohibition eine illegale Kneipe gewesen war, verströmte mit ihrem polierten Tresen, auf dessen Außenseite ein Handlauf angebracht war, dem Originalgebälk und der klauenfüßigen Badewanne voller Wunschmünzen, die in der Mitte des Raums auf dem verschrammten Holzboden ruhte, noch viel von ihrem Zwanzigerjahre-Charme. Die Badewanne selbst war allerdings kein Original; das war vor einigen Monaten im Zuge eines vermurksten Exorzismus zerstört worden, als Anya unter einem schlimmen Fall dämonischer Besessenheit gelitten hatte.

Das Devil’s Bathtub barg auch heute noch gewisse Geheimnisse. Zwar gab es keine Schwarzbrenner mehr, die die Badewanne zur Herstellung von Gin missbrauchten, doch war das Lokal nun das Hauptquartier der »Detroit Area Ghost Researchers«, einer Gruppe paranormaler Ermittler, denen auch Anya angehörte, wenngleich nur widerwillig.

Sie waren an diesem Abend die einzigen Gäste. Jules, der derzeit hinter der Theke stand, führte die Gruppe mit gestrenger Autorität. Er trug noch immer die Uniform eines Zählerablesers aus seinem Brotjob. Auf seinem Kopf saß eine Baseballkappe der Detroit Tigers. Unter seinem Ärmel lugte ein tätowiertes Kreuz hervor. Seine ebenholzschwarzen Brauen zogen sich zusammen, als er Max, einen jungen Latino mit einer sackartigen Hose, beaufsichtigte, während dieser kleine Ballons mit Weihwasser aus einer Zwei-Liter-Flasche in Form einer Marienfigur befüllte.

»Lass die Finger von den heiligen Madonnenbrüsten.«

Max verdrehte die Augen und ließ die Finger auf den Brüsten. »Willst du, dass ich sie fallen lasse?«

»Erweise der heiligen Mutter Gottes ein wenig Respekt, ja?«

Max streckte die Zunge heraus und leckte an der Flasche. Jules versetzte ihm einen Schlag an den Hinterkopf, und der Junge jaulte auf.

»Entschuldige dich auf der Stelle bei der Madonna.«

»Tut mir wirklich leid, Madonna, dass ich deine heiligen Titten abgeleckt …«

Katie, die es sich an einem Tisch bequem gemacht hatte, schlug die Hand vor den Mund, um ein Kichern zu verbergen. Ihr Hexenbuch der Schatten, vollgekritzelt mit Bannzaubern und den Rezepten magischer Trünke, lag aufgeschlagen vor ihr. Als moderne Hexe benutzte sie winzige, farbige Klebezettel, um bestimmte Seiten zu markieren. Einer davon hatte sich erfolgreich in den langen Vorhang blonden Haares über ihrer Schulter geschlichen.

»Das ist nicht hilfreich, Katie«, grollte Jules.

»Hey«, gab die Hexe zurück, »sie ist nicht meine Göttin. Meine hat Sinn für Humor.«

»Siehst du?« Max wich einem weiteren Klaps von Jules aus. »Hekate mag es, wenn man ihre Brüste leckt. Isis auch. Oder wen auch immer Katie diese Woche anbetet … Hoffentlich ist es Isis. Hekate ist eine richtige Schreckschraube.«

Jules schnaubte verächtlich. Er war kein großer Freund von Hexerei, aber er tolerierte Katie als Mitglied des Teams, weil sie erfolgreich war … in jüngster Zeit sogar erfolgreicher als er mit seinen eigenen Methoden.

Katie warf einen Bierdeckel nach Max und erwischte ihn am Rücken.

»Au!«

»Hör auf, göttliche Damen zu beleidigen, die deinen dürren Arsch vor dem Bösen beschützen, oder ich verhexe dich. Dann sorge ich dafür, dass du bis zum Rentenalter für Frauen unattraktiv wirst«, beschied ihm Katie. Eine Hexe, mit der man sich nicht anlegen sollte.

»Die Hexe ist nicht so nachsichtig wie die Mutter Gottes.« Jules zog Max am Ohr und führte ihn zum Gläserspülen hinter den Tresen.

Die Weihwasserballons lagen am Ende der Theke wie verirrte Brustimplantate auf der Suche nach einem Heim. »Bereitet ihr euch auf einen Einsatz vor?«, fragte Anya.

»Ja.« Brian, Cheftechniker der DAGR, blickte von seiner Tastatur auf. In seiner Nische, umgeben von Kabeln und in das grüne Licht des Monitors getaucht, das sich in seinen Brillengläsern spiegelte, sah er eher wie eine Maschine aus als wie ein Mensch.

Aber Anya wusste es besser. Sie bewunderte seine Brustmuskeln, die in Bewegung gerieten, als er sich streckte. Sie und Brian waren die Sache langsam angegangen, doch manchmal reichte eine ganz absichtslose Geste wie diese, und ihr Herz tat einen Sprung.

Er sah, wie sie ihn musterte, und seine Lippen verzogen sich zu einem Grinsen.

Anya errötete und starrte wieder in ihr Glas.

»Ein typischer generischer Spuk, nehmen wir an«, erläuterte Brian. »Aber interessant, weil es sich um die vollständige Erscheinung einer Frau in moderner Kleidung handelt. Wir können keine Aufzeichnungen über irgendwelche verdächtigen Todesfälle in der Gegend finden … furchtbar langweilige Geschichte. Die Erscheinung will nicht reden und verrät den Eigentümern nicht, wer sie ist. Sie schreitet nachts durch die Flure, interagiert aber mit niemandem.«

»Ein Restspuk?«, fragte Anya. Manche Spukerscheinungen waren wie übernatürliche Endlosbänder, die immer und immer wieder die spirituelle Erinnerung eines Gebäudes abspulten, ohne dass sich hinter dem Spuk ein Bewusstsein verbarg.

»Vielleicht. Wir werden es herausfinden, wenn wir hingehen. In ein paar Tagen. Da es kein gewaltsamer Spuk ist, ist der Fall auf der Prioritätenliste weit nach unten gerutscht.«

Anya runzelte die Stirn. Die DAGR hatten in letzter Zeit arg unter Druck gestanden. Jules hatte sogar schon überlegt, weitere Mitglieder anzuwerben. Detroit musste mehr erdulden als nur die weithin bekannte ökonomische Malaise und die gestiegene Verbrechensquote. Etwas Tiefergehendes lastete auf der Stadt und nährte sich von ihrer verzagten Psyche. Die Anzahl der gemeldeten Spukerscheinungen und übernatürlichen Geschehnisse war sprunghaft in die Höhe geschnellt. Die Kneipen waren voller Leute, die einfach nicht wahrhaben wollten, dass es mit der Stadt immer weiter abwärts ging. Die Gefängnisse waren voller Häftlinge, die die Kontrolle verloren und sich dem Bösen ergeben hatten. Die Kirchen waren voller Büßer, die versuchten, sich von der Verzweiflung freizuwaschen. Und die Kartei der DAGR war voller Leute, die überzeugt waren, dass sie jenseits von all dem noch etwas anderes gesehen hatten. Und das, was sie gesehen hatten, versetzte sie in Angst und Schrecken.

Sparky hockte vor der Registrierkasse der Bar und schlug nach den Knöpfen, was die Kasse mit allerlei elektronischem Gepiepse belohnte. Er gluckste und knickte verzückt den Schwanz zur Seite, drückte erneut einige Tasten in zufälliger Reihenfolge, woraufhin die Kasse einen Papierstreifen ausspuckte, der sich über den Rand des Tresens kräuselte. Das Einzige, worauf der Salamander Einfluss nehmen konnte, von Anya selbst abgesehen, waren Energiefelder. Der Salamander liebte es, mit elektronischen Gerätschaften herumzuspielen. Anya hingegen fürchtete die unkalkulierbaren Folgen seiner Eskapaden.

Jules starrte zu ihr herüber. »Ist … ist es auf der Kasse?«

»Ja.« Anya wusste, dass außer ihr niemand ihn sehen konnte. Außer ihr und den Geistern. Und Tieren. Sparky jagte gern Katzen. Jules brachte allen nichtmenschlichen Wesen tiefe Abscheu entgegen. Dennoch bemühte er sich in jüngster Zeit, in Sparkys Gegenwart höflich zu bleiben, was Anya als Fortschritt in der Mensch-Salamander-Beziehung verbuchte.

»Du kannst ihn ruhig berühren, das macht ihm nichts.«

Jules strich vorsichtig mit der Hand über Sparkys Körper. Für die meisten Menschen war Sparkys Anwesenheit nur in Form eines veränderten Luftdrucks oder durch Temperaturschwankungen auszumachen.

Jules schüttelte den Kopf. »Ich spüre ihn nicht.«

»Ich zeig es dir.« Anya führte Jules kräftige Hand über Sparkys Brust. »Spürst du jetzt was?«

Jules runzelte die Stirn. »Nur … nur ein Kribbeln.«

Sparky schnaubte verärgert, da man ihn von dem Klingeln und Pfeifen der Registrierkasse abgelenkt hatte. Sein Schwanz peitschte über die Vorderseite von Jules Hemd.

Plötzlich heulte Jules Mobiltelefon. Er zuckte zurück, riss das Telefon aus der Tasche seiner Uniform und schleuderte es auf den Tresen, als wäre es eine lebendige Schlange. Rauch stieg von dem Gerät auf, ein statisches Rauschen erklang, und das Telefon ging aus. Jules Hände zitterten, ob aus Zorn oder Furcht konnte Anya nicht erkennen.

Gepeinigt verzog sie das Gesicht. »Das tut mir leid. Ich bezahle es.«

Sparky watschelte über den Tresen zu dem Mobiltelefon und leckte daran. Ein elektrischer, blauer Bogen entströmte dem dunklen Display.

»Vergiss es. Die Gemahlin nörgelt ohnehin schon die ganze Zeit, dass ich endlich ein Neues kaufen soll. Eins mit GPS, damit sie mir ständig auf der Spur bleiben kann«, grollte Jules und wischte sich die Hände am Geschirrtuch ab, als hätte er etwas Schmutziges berührt. »Aber halt das Ding vom Fernseher fern, zumindest, solange die Lions spielen.«

Anya schnitt eine Grimasse, nahm Sparky auf den Arm und legte den sich windenden Salamander auf ihrem Schoß ab, wo sie ihm das runde Bäuchlein rieb. Der Kleine hatte in jüngster Zeit zugelegt. Vielleicht hatte er von ein paar Geistern zu viel genascht. Sie redete ihm gut zu, während sie die fahlen Flecken auf seiner bernsteinfarbenen Unterseite rieb, und er krümmte sich vor Wohlgefühl. Jules musterte sie mit einem schiefen Blick und kaum verhohlener Abscheu.

Brian näherte sich argwöhnisch und nahm das Handy vom Tresen. Binnen Sekunden hatte er die Frontplatte abgenommen und stocherte in den winzigen kupfernen Innereien herum. »Interessant. Der Akku ist völlig leer. Ich meine … die Hauptplatine ist gebraten worden, aber das ist irgendwie cool …«

»Ich dachte, Geister würden dann und wann Batterien leersaugen«, sagte Anya.

»Sie können es jedenfalls. Videorekorderbatterien, Kamerabatterien. Es ist nicht ungewöhnlich, dass ein vollständig geladener Akku im Zuge von Ermittlungen den Geist aufgibt.«

»Wie kommt das?«, fragte Max, der auf Zehenspitzen hinter Brian stand und ihm über die Schulter blickte. Der Junge hatte sein Interesse für Elektronik entdeckt, und Brian hatte ihn unter seine technischen Fittiche genommen.

»Tja, die Theorie besagt, dass Geister irgendwie Energie anzapfen müssen, um sich zu manifestieren. Darum sinkt auch die Temperatur in Gegenwart von Geistern … sie saugen die Energie aus der Luft. Bei den Batterien von elektrischen Geräten verhält es sich etwa genauso. Manche Medien oder mediale Vampire können sogar Uhrenbatterien aussaugen.«

»Was ist denn ein medialer Vampir?«, fragte Max.

»Das sind Menschen, die von den Energiefeldern anderer Leute zehren«, sagte Jules. »So was wie Blutegel.«

Anya schlang die Arme um Sparky, der sogleich behaglich an ihrem Ohr rülpste. Sie rümpfte die Nase. Sparkys Atem roch nach Schwefel. »Sparky ist kein medialer Vampir.«

»Behaupte ich ja nicht. Aber er könnte Überlebensmechanismen haben, von denen wir bisher gar nichts wissen. Ich meine, du weißt ja nicht mal genau, wo er herkommt«, gab Brian zu bedenken.

»Meine Mutter hat ihn mir geschenkt«, sagte sie trotzig. Sollte er nur weitermachen. Das war ein steiniges Terrain für Brian, und das wusste er.

»Aber wo hatte sie ihn her?« Brian zog sich einen Barhocker heran.

Anya ließ sich das Haar ins Gesicht fallen. Es reichte ihr bis zum Kinn und war damit gerade lang genug, um sich dahinter zu verstecken. »Keine Ahnung. Er war einfach immer da. Meine Mom hat mir erzählt, dass er sich immer in meinem Stubenwagen zusammengerollt hat, als ich noch ein Baby war.«

Jules, in sicherer Entfernung auf der anderen Seite des Tresens, schnaubte vernehmlich. »Und ich bin schon nervös geworden, als meine Frau nur die Katze bei unserer Tochter hat schlafen lassen …«

»Kannst du deine Mutter nicht mal nach ihm fragen?«

Anyas Kiefermuskulatur spannte sich. Dieses Terrain hatte sie in der Beziehung bisher nicht betreten. Noch nicht. »Sie, äh, sie ist nicht mehr da.«

»Oh. Tut mir leid.« Brian musterte die feuchten Abdrücke, die seine Fingerspitzen auf dem glänzenden Tresen hinterließen, und zeichnete die Umrisse seiner Hände nach.

»Nicht nötig. Das ist schon lange her.« Anya schob die Finger unter Sparkys Achseln. Brian meinte, sie würde Sparky auf vielfältige Weise als Schmusedecke benutzen. Vielleicht hatte er recht. Aber sie brauchte den kleinen Kerl. Sonst brauchte sie im Grunde niemanden – nicht die anderen DAGR-Mitglieder, nicht einmal Brian. Aber sie war bereit, sich einzugestehen, dass sie Sparky brauchte.

Ein Rollstuhl quietschte auf dem polierten Boden neben dem Tresen. Ciro, der Eigentümer des Devil’s Bathtub, rollte an die Theke heran. Sein ebenholzschwarzes Gesicht war von Sorgenfalten geprägt. In seinen runzligen Händen hielt er ein Fotoalbum. Anya fiel auf, wie sehr diese Hände zitterten, als er ihr das Album reichte, dessen nach Mottenkugeln stinkende Seiten sich öffneten wie die Schwingen eines schweren Vogels.

»Das ist Bernie.« Ciro zeigte auf den verblassten Schnappschuss von einer Gruppe Männer in karierten Hosen und Hemden mit steifem Kragen. Nach dem Schnitt der Kleidung und dem Orangestich des Bildes zu urteilen, nahm sie an, dass die Aufnahme in den Siebzigern entstanden war. Im Hintergrund war eine Bowlingbahn zu sehen. Ciros zitternde Finger zeigten auf einen Mann mit langen Koteletten und einem kunstvoll getrimmten Schnauzbart. Schon damals hatte Bernie eine Brille getragen und eine Wampe vor sich hergeschleppt.

Anyas Blick wanderte über die anderen Gesichter auf dem Foto, und sie musste grinsen, als sie einen jüngeren Ciro neben dem Ballreiniger herumlungern sah. Anya fiel die angeberische Haltung auf – damals war er ein junger Mann gewesen, dem die ganze Welt zu den in Bowlingschuhen steckenden Füßen zu liegen schien. Und der junge Ciro hatte Haare. Haufenweise. Sein Afrolook, pingelig getrimmt wie eine Formschnitthecke, sprengte schier den Aufnahmewinkel.

»Hey, damals war das modern.« Eine Mischung aus Belustigung und Stolz flackerte in den Augen des alten Mannes.

»Das ist wieder modern, Ciro.«

Ciro rieb sich verlegen den kahlen Schädel und lächelte auf die attraktive Erscheinung seines jüngeren Selbst hinab. Den Bart trug er heute noch, aber die Afromähne war längst verschwunden. »Das Rad der Zeit und das Schwinden der Follikel hält niemand auf.«

»Hast du Bernie dort kennengelernt? In einer Bowlingliga?«

»Das war nicht irgendeine Bowlingliga. Das war die Liga der gewieften Ballkünstler. Drei Jahre lang waren wir die Champions der Liga, bis das halbe Team dann nach Vietnam geschickt wurde.«

»Habt ihr nach der Rückkehr auch noch gebowlt?« Anya wusste nicht, wie sie Ciro sonst entlocken sollte, wie viele von seinen Freunden überhaupt zurückgekehrt waren.

Der alte Mann zuckte mit den Schultern. »Ein paar von uns. Dann und wann. Aber es war nicht mehr das Gleiche.« Er tippte auf das Bild von Bernie. »Bernie war immer schon ein komischer Vogel, sogar damals. Obwohl das damals eine Zeit der … na ja, schätze, man könnte es die Ära der spirituellen Erkundung nennen …«

Max prustete los und tat, als rauche er einen Joint.

Ciro bedachte ihn mit einem giftigen Blick. »Das hab ich nicht gemeint. Ich meine, Bernie stand auf abgefahreneres Zeug als der Rest von uns. Und ich rede nicht nur von Drogen.«

»Wovon dann?« Anya beugte sich vor. Ciro war der Dämonologe der DAGR. Er hatte mehr Dämonennamen vergessen, als Anya je gekannt hatte. Wenn Ciro behauptete, jemand hätte auf abgefahrenere Dinge gestanden als er selbst, dann hatte das schon einiges zu sagen.

»Bernie war besessen von der Idee der Astralreisen. Außerkörperliche Erfahrungen. Er hat immer behauptet, er wäre schon überall auf der Welt gewesen.«

»Ich glaube nicht, dass Menschen auf die astrale Ebene vordringen können«, sagte Anya. »Ist das nicht das Gleiche wie das Jenseits?«

Ciro schüttelte den Kopf. »Du verwechselt den Weg und das Ziel. Das Jenseits ist ein Teil der astralen Ebenen, aber sie umfassen noch viel, viel mehr. Nicht jeder dieser Orte ist ein Paradies. Astralreisen führen uns zu Verbindungspunkten zwischen unserer Welt und jenen Ebenen … Abkürzungen, sozusagen.« Der alte Mann seufzte. »Aber im Allgemeinen hast du recht. Menschen gelangen dort nicht hin. Nicht, ohne einen schrecklichen Preis dafür zu bezahlen.«

Anya erinnerte sich an Bernies angstvolle Miene, als sein Geist aus dem Raum gezerrt worden war. »Das kann ich mir vorstellen.«

»Als Bernie gesagt hat, er würde die Ebenen bereisen, dachten wir, er wäre auf ’nem Trip. Aber ein- oder zweimal ist es ihm gelungen, stoffliche Gegenstände von seinen Reisen mitzubringen.«

Anyas Brauen krochen in Richtung Haaransatz. »Wirklich?«

»Kleinigkeiten. Chinesische Münzen, Kruzifixe … einmal tauchte er mit einem Stein wieder auf, von dem er behauptet hat, er stamme von einer archäologischen Ausgrabungsstätte in Ägypten. So ein Zeug eben. Diese Form des Apports ist in der metaphysischen Literatur nicht gänzlich unbekannt, aber fundierte Berichte sind heutzutage eine Seltenheit.«

»Er hatte einen Haufen Zeug in seinem Haus. Dinge, die nach Magie gerochen haben. Schwerter, Gläser mit Skeletten, Zauberbeutel …«

Ciro nickte bekümmert. »Demnach hat er sich nicht sehr verändert. Er hat Anfang der Achtziger angefangen, mit magischen Artefakten zu handeln. Herkunft oder Geschichte der Gegenstände haben ihn ebenso wenig interessiert wie die Leute, die sie kauften. Ihm ging es nur ums Geld. Manchmal hat er wirklich scheußliches Zeug angeschleppt … Einmal ist er mit einem Stück einer Rüstung aufgetaucht und hat geschworen, die hätte einmal einem Dämon gehört. Das Zeug hat nach dem Bösen gestunken. Ich hab ihm gesagt, er soll die Finger davon lassen, ehe er an etwas geriete, das seine Fähigkeiten übersteigt.«

»Wie hat er reagiert?«

»Er hat gesagt, er würde die Dinge, die er verkauft, schließlich nicht benutzen und hätte keine Beziehung zu ihnen, also könne ihm nichts passieren. Ich hab ihm gesagt, dass das nichts hilft. Manchmal stellen die Gegenstände selbst eine Beziehung her.«

Anyas Finger huschten zu dem Metallreif an ihrem Hals. Diese Art des Beziehungsaufbaus war ihr vertrauter als den meisten anderen Menschen.

Beziehungen waren, wie Anya inzwischen beschlossen hatte, nicht grundsätzlich eine schlechte Sache. Aber sie ging bei diesem Thema immer noch langsam und vorsichtig vor.

Zu vorsichtig, soweit es Brian betraf, was ihr durchaus bewusst war.

Brian steuerte seinen Van in die Auffahrt von Anyas winzigem, einstöckigem Haus. Es sah genauso aus wie alle Häuser an dieser Straße, abgesehen von dem mächtigen Ahornbaum im Vorgarten und der Tatsache, dass ihre Fensterläden grün waren. Alles andere war bei allen Häusern identisch, soweit das Auge die Straße entlangzublicken vermochte: ausgebleichte Verkleidungen, alternde Mauerziegel, schadhafte Dachschindeln und Rasenflächen von der Größe einer Briefmarke, beleuchtet vom Schein der Verandalampen. Das Frühjahr entlockte kantig geschnittenen Hecken und Bäumen ihre Blüten, doch es war noch zu früh im Jahr für den ersten Rasenschnitt.

Hier in Hamtramck, das im Stadtgebiet Detroits lag, lebte Anya schon seit ihrer Kindheit. Nicht in diesem Haus, aber das machte keinen großen Unterschied. Das Haus, in dem sie mit ihrer Mutter gelebt hatte, das Haus, in dem sie bei Onkel und Tante gewohnt hatte, und dieses besaßen allesamt die gleiche Aufteilung, sodass sie sich mit geschlossenen Augen hätte zurechtfinden können. Und sie alle standen im tröstlichen Schatten der mächtigen römisch-katholischen Kirche St. Florian. Dennoch waren die Dinge nicht mehr so wie in ihrer Kindheit. Heute trug der Wind mehr Müll zu den Maschendrahtzäunen, der nie wieder entfernt wurde. Mehr Feuerhydranten waren mit AUSSER BETRIEB-Schildern versehen. Keine Verkehrsströme führten mehr von und zu der inzwischen geschlossenen Autofabrik weiter unten an der Straße. Die Leute ließen ihre Verandabeleuchtung die ganze Nacht brennen, als könnte der schwache Lichtschein die Dunkelheit wenigstens teilweise in Schach halten. Als Anya klein gewesen war, hätte ihre Mutter dergleichen als Energieverschwendung betrachtet. Aber heute schien es irgendwie notwendig zu sein. Es war ein wirkungsloser Ausdruck der Hoffnung, wie Anya sehr gut wusste, dennoch war es eine instinkthafte Handlung. Menschen versammelten sich um das Licht wie um ein Lagerfeuer, um sich sicher zu fühlen.

Brians Atem beschlug die Scheiben des Vans. »Soll ich mit reinkommen?«

Anya dachte kurz über die Frage nach, und sie wusste, dass er ihr Zögern spürte. Das Pulsieren des Reifs an ihrem Hals fühlte sich träge an. Sparky schlief, also sagte sie: »Klar.«

Sie stieß die Tür auf, trat hinaus auf den rissigen Boden der Einfahrt und nahm ihre Schlüssel aus der Jackentasche. Brian ging zur Rückseite des Vans und wühlte in den Kabeln und Kisten seiner Geisterjägerausrüstung herum. Schließlich kam er mit einem Karton unter dem Arm um den Wagen gelaufen.

»Was hast du da?«, fragte sie.

»Ein Geschenk.« Er balancierte den Karton auf dem Oberschenkel, während sie die Tür entriegelte. »Eine Kleinigkeit für dein Haus.«

Anya runzelte die Stirn, auch wenn sie fand, dass ihre Raumdekoration durchaus verbesserungswürdig war. Verglichen mit Brians üblicher Umgebung, einem Vogelnest aus Kabeln und Elektroarkana, sah ihr Haus vermutlich recht spartanisch aus. Ausgestattet mit makellos sauberen Gebrauchtmöbeln war ihr Wohnzimmer der Inbegriff der Nützlichkeit. Anya gefiel es so. An den meisten Tagen kam sie aschebeschmutzt von der Arbeit nach Hause, und die Hartholzböden waren leicht zu reinigen. Sie war geradezu zwanghaft darauf bedacht, die Arbeit aus ihrer heimischen Zuflucht fernzuhalten, und Sauberkeit schuf die tröstliche Illusion von Ordnung, so wie die Verandabeleuchtung ihrer Nachbarn die Illusion von Sicherheit schuf.

Brian stellte den Karton vor dem Couchtisch ab.

»Was ist da drin?« Sie tänzelte zu ihm, und er legte den Arm um ihre Hüften.

»Ich hab ziemlich viel Zeit hier verbracht, daher …« Sein Kinn lag auf ihrem Kopf. »Ich hab mir die Freiheit genommen, dir einen Fernseher zu besorgen.«

Anya blinzelte. Dank Sparky hatte sie nur sehr wenige Elektrogeräte im Haus. Teufel auch, das kleine Wesen hatte ihre letzte Mikrowelle hochgejagt und vor ein paar Wochen einen elektrischen Dosenöffner in die ewigen Jagdgründe befördert. »Äh, ich hoffe, Sparky wird nicht …«

»Jagt er ihn hoch, jagt er ihn eben hoch.« Er küsste sie auf die Wange. »Aber in letzter Zeit hat er uns doch ziemlich in Ruhe gelassen.«

Anya lächelte, den Kopf an Brians Brust gelehnt. Ein bockiger Salamander konnte schon eine ernsthafte Herausforderung für eine Beziehung darstellen. Sparkys Bedürfnis nach Aufmerksamkeit, das sich meist in den unpassendsten Momenten zeigte, war in ihren früheren Beziehungen zu einem ernsten Problem geworden. Es war wirklich nicht einfach, in Stimmung zu kommen, während ein unsichtbarer Salamander maulend am Fuß des Betts hockte. Aber Sparky schien derzeit nicht gar so bedürftig zu sein. Letzte Woche hatte der Salamander Brian und Anya sogar gestattet, zusammengekuschelt auf der abgenutzten Samtcouch zu schlafen, ohne die beiden zu stören.

Anya war immer noch ein wenig unsicher, wenn es darum ging, sich auf einen anderen Menschen einzulassen. Jeder Mensch, den sie geliebt hatte, war aus ihrem Leben verschwunden. Und sie wollte nicht, dass es bei Brian auch so kam. Er war zu wichtig für sie, und sie hatte Angst, die Sache zu vermasseln.

Sie fühlte Brians Atem an ihrem Kopf, fühlte, wie seine Arme steif wurden und sein Kinn kaum wahrnehmbar zurückwich. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie immer noch nach Arbeit roch: nach Tod und Magie und dem fettigen Fleck auf Bernies Boden. Der übernatürliche Schmutz kribbelte auf ihrer Haut.

Sie wich zurück, stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste Brians Oberlippe. An der linken Seite seines Mundes war eine kleine Narbe, nach deren Herkunft sie ihn nie gefragt hatte, die sie aber zu gern spürte. »Lass mir etwas Zeit, mich zu waschen.«

»Nur, wenn du versprichst, dass du zurückkommst.«

Sie löste sich von ihm und ging durch den dunklen, nach Zitronenholzpolitur riechenden Flur in das kalte Weiß des gefliesten Badezimmers. Ein Dutzend gelbe Entchen starrten sie aus ihren Cartoonaugen von einem Regalbrett aus an, als sie sich entkleidete. Der Salamanderreif blieb, wo er war; sie nahm ihn nie ab. Nicht einmal als Kind hatte sie ihn je abgelegt.

Noch als sie die Tür schloss, zog sie sich das Shirt über den Kopf und rümpfte die Nase. Ihre Kleider rochen nach verbranntem Schinken. Geistesabwesend strich sie über die Narbe an ihrer Brust, Reste einer Brandwunde. Weißes, glänzendes Narbengewebe breitete sich sternförmig über ihrem Herzen aus und dunkelte nur allmählich nach. Das war kein gewöhnliches Brandmal – dies hatte ihr ein Dämon hinterlassen, ein Dämon, der sie beinahe das Leben gekostet hätte. Das hätte nie passieren dürfen. Ein gewöhnlicher Dämon hätte ihr nicht antun können, was Lilitu ihr angetan hatte. Eine Laterne konnte Geister und Dämonen nach Gutdünken verschlingen, konnte sie verbrennen und vernichten. Aber Lilitu war eine Ausnahme gewesen.

Aber es geschahen viele Dinge, die nicht passieren sollten; unvorhersehbar wie der Fettfleck, der einmal Jasper Bernard gewesen war, und der nun auf dem Boden seines Wohnzimmers klebte.

Anya drehte das heiße Wasser auf und trat in den Strahl. Sie hielt den Kopf ins Wasser und versuchte, das Bild aus ihrem Geist zu waschen. Ihre Zehen kitzelten die Brust einer gelben Gummiente, die um den Abfluss kreiste. Diese Ente war eine dämonische Ente mit finsterer Miene, roten Hörnern und einem roten Plastikschwanz, der sich über ihren Rücken krümmte.

Sie schloss die Augen und fühlte, wie das heiße Wasser über ihre Lippen troff. Sie rieb sich mit dem nach Mandarinen duftenden Duschgel ein, dem sie eine Hand voll Salz folgen ließ. Sie rieb, bis die Haut sich rot färbte. Vielleicht war sie nicht in der Lage, das Bild wegzuspülen, aber sie konnte zumindest den Gestank abwaschen. Sie konnte sich von all dem Tod und der Magie reinwaschen und so tun, als wäre sie ein normaler Mensch, der einen normalen Abend mit einem normalen Mann verbringen wollte.

Einer ihrer Mundwinkel zuckte aufwärts. Das war es, was sie an Brian am meisten liebte: Er war normal. Ein sturer Nichtmagier und skeptisch obendrein. Während sie nach unsichtbaren und unberührbaren Dingen roch, nach Geistern und Feuer, war das, womit Brian sich befasste, solide, greifbar. Schaltungen. Maschinen. Der kalte Geruch von Metall und Silikon. Alles war auf Nullen und Einsen reduziert, auf binären Code, auf an oder aus. Diesem Wissen haftete etwas Tröstliches an, dem Wissen, dass er Dinge fest im Griff hatte, die unwiderlegbar real waren.

Jemand musste das tun.

Sie rubbelte sich das Haar mit dem Handtuch ab. Ganz gleich, wie sehr sie auch schrubbte, ein leichter Brandgeruch ließ sich einfach nicht vertreiben. Es war kein unangenehmer Geruch; ein Hauch von Holzrauch. Vor einigen Monaten hatte sie sich das Haupthaar bei einer Begegnung mit einem von Sparkys Verwandten verbrannt und beinahe auch sich selbst in einen Haufen Asche verwandelt. Es war dunkel und glatt nachgewachsen, fühlte sich aber immer noch so zart und fein an wie Babyhaar.

Sie warf sich den Bademantel über, auf dem unzählige gelbe Cartoonenten zu sehen waren. Mit den stinkenden Klamotten unter dem Arm tappte sie den Flur in Richtung Waschmaschine hinunter.

An der Tür zum Schlafzimmer hielt sie kurz inne. Das Licht von der Straße flutete Wände und Boden. Ihr Blick fiel auf einen stilisierten magischen Zirkel, der in schwarzer Farbe auf dem Boden rund um das Bett herum aufgemalt worden war. Er ließ sich mit einer einfachen Geste öffnen. Geschlossen hielt er das Böse fern und garantierte ihr einen ruhigen Schlaf. Und er konnte im Falle unruhigerer Aktivitäten den Salamander fernhalten.

Sie fühlte Augen auf sich ruhen, die sie in der Stille beobachteten. Es waren ihre Augen, eingefangen in einem Gemälde, das an der Südmauer hing. Die Leinwand war mit einem mineralischen Pulver behandelt worden, das in dem dämmrigen Licht funkelte, und es gab ein Detail, dessen Anblick sie immer wieder fesselte: Ihr Abbild war in ein schwarzes Korsagenkleid gewandet, kehrte dem Betrachter den Rücken zu und sah sich halb über die Schulter um. Dies war das sinnlichste, kraftvollste Kunstwerk, das sie je gesehen hatte. Es stammte von einem früheren Verehrer, Drake Ferrer. Er war vieles gewesen: Maler, Architekt, Brandstifter. Aber er war auch die einzige andere Laterne, der sie je begegnet war. Und er war tot.

Doch er hatte diesen fremdartigen, bezwingenden Teil ihrer selbst eingefangen, dieses Schattenselbst, von dem sie sich nicht recht losreißen konnte und das ihr aus schwarzer Kohlefarbe und schimmerndem Glimmer entgegenschaute. Er hatte das Gemälde Ischtar betitelt, nach einer babylonischen Göttin der Liebe und des Krieges. Ihre größte Furcht war, selbst so zu werden, und sie behielt das Bild stets in ihrer Nähe, um sich daran zu erinnern, dass sie diesen Weg nicht einschlagen wollte. Dass sie keine Zerstörerin werden wollte. Dass sie nicht wie Drake werden wollte.

Stimmen schreckten sie auf; sie war dergleichen in der Stille ihres Hauses nicht gewöhnt. Aus dem schattigen Korridor sah sie Brian vor dem flackernden Schirm eines großen Flatscreen-Fernsehers am Boden sitzen und an der Fernbedienung herumfummeln. Geräuschlos tappte sie auf nackten Füßen zu ihm.

Sie hockte sich neben ihn. Wasser troff von ihrem nassen Haar auf ihre Schulter, und sie empfand eine seltsame Ehrfurcht, beinahe wie ein Höhlenbewohner, der sich an ein Feuer kauerte. Das Bild war glasklar, als Brian die Kanäle durchschaltete: dürre Modells, strahlend bunt wie Schmetterlinge, stolzierten über einen Laufsteg; ein Koch hielt einen Hummer hoch; eine Frau sprach vor einem blau leuchtenden Monitor Japanisch.

»Wow. Schick.« Sie stieß einen leisen, bewundernden Pfiff aus.

»Ich bin froh, dass er dir gefällt.«

»Danke. Aber das hättest du nicht tun müssen. Wirklich nicht.« Sie nagte an ihrer Unterlippe und fürchtete sich vor der nächsten Frage: »Aber … wo kommen all die Sender her? Ich hab gar keinen Kabelanschluss …«

»Mach dir darüber keine Gedanken«, sagte er mit einem listigen Grinsen. Brian stellte irgendwelche finsteren, geheimnisvollen Dinge mit der Technik an, Dinge, die sie nicht verstand und von denen sie nicht sicher war, dass sie legal waren: Überwachungsgeräte, Stimmenrekorder; und dann war da noch eine irrsinnig umfangreiche Sammlung an Technomusik. Die meisten seiner Spielzeuge landeten irgendwann in den Händen der DAGR. Aber sie fragte ihn nie, woher diese Dinge kamen oder welche Art von Forschungen er genau für die Universität durchführte. Niemand von ihnen fragte ihn danach.

Sie blinzelte das Bild einer brutalen Naturdoku an, auf dem ein blutüberströmtes, bellendes Robbenjunges zu sehen war, das versuchte, einem Eisbären auf einer weißen Eisfläche zu entkommen. Sie wusste, dieser Heuler würde ihr in der Nacht mehr Albträume bereiten als alles, was sie heute gesehen hatte. »Äh … können wir vielleicht den Sender wechseln?«

Brian schaltete um. Eine Frau mit einem Mikrofon schritt in einem körnigen, hausgemachten Video über eine Bühne wie ein Tiger durch seinen Käfig. Anya schätzte sie auf Anfang fünfzig. Sie trug einen mittelblauen Hosenanzug und hatte wasserstoffblondes Haar, das sie sorgfältig in spitzen Fransen über ihre glühenden blauen Augen drapiert hatte. In diesen Augen brannte mehr als nur Leidenschaft, aber Anya konnte nicht definieren, was es war. Eine gläserne Phiole hing an einer Goldkette an ihrem Hals. Ihre Stimme war voluminöser, als es ihre zierliche Gestalt vermuten ließ, und sie erscholl wie eine Glocke über den Köpfen ihrer Zuhörer.

»Nichts ist unmöglich, meine Freunde. Mit genug Willen und Fantasie können auch Ihre Träume wahr werden. Das Universum will Sie glücklich sehen …«

Brian verzog das Gesicht und schaltete erneut um.

»Moment, schalt noch mal zurück.« Anya umfasste seinen Arm.

Brian schaltete wieder zurück, und Anyas Aufmerksamkeit wurde von einem gelben Banner am unteren Bildrand gefangengenommen: Wunder für die Massen. Sie erkannte den Schriftzug. Es war derselbe wie der auf dem Scheckfragment aus Bernies Kamin.

»Wer ist das?«, fragte Anya.

Brian seufzte. Sein Gott war der Pragmatismus, und er hatte wenig Geduld mit irgendetwas, das nicht funktionierte. »Hast du bis heute unter einem Stein gelebt? Das ist Hope Solomon, die Anführerin eines New-Age-Schneeballsystems, das sich Wunder für die Massen nennt. Sie ist jeden Abend im lokalen Kabelfernsehen. Für einen Lacher ist sie sicher gut, aber mir tun die armen Irren leid, die ihr ihr Geld überlassen haben.«

Anya sah, wie Hope glückselig in die Kamera lächelte. »Dann ist sie also von hier?«

»Ja. Bedauerlicherweise.«

»… stellen Sie sich das Schicksal vor, das Sie erstreben, das Schicksal, welches das Universum für Sie wünscht. Doch Sie müssen auch den Willen aufbringen, Ihre Wünsche wahr werden zu lassen. Willen ist der Schlüssel. Willen heißt, aktiv werden. Und Sie können noch heute aktiv werden, um Ihre Träume Realität werden zu lassen, indem Sie die Nummer am unteren Bildschirmrand anrufen.

Gehen Sie mit guten Taten in Vorleistung. Verpflichten Sie sich, auf dass Ihre Träume wahr werden, und wir werden uns verpflichten, Ihnen auf Ihrer Reise zu helfen. Die Göttliche Intelligenz wird Ihnen helfen, damit auch Sie wahrhaftige Wunder erleben. Sie müssen nur diesen ersten Schritt tun. Unsere Telefonisten stehen bereit, um Ihre Anrufe entgegenzunehmen.

Seien Sie gesegnet, und gute Nacht.«

Unter stehenden Ovationen und donnerndem Applaus winkte Hope und ging von der Bühne. Gleich darauf füllten die Telefonnummer und die Adresse von Wunder für die Massen den Bildschirm aus, ehe das Ganze von einem Werbespot abgelöst wurde.

Anya hockte sich auf die Fersen. »Sie hat Charisma, das muss man ihr lassen. Ich schätze, einige Leute werden sie sehr ansprechend finden.«

Brian schnaubte verächtlich. »Herdenmenschen. Nur Herdenmenschen glauben, dass sie sich führen lassen müssen.«

Anya zog eine Braue hoch. »Das ist ein bisschen hart, findest du nicht? Die Leute wollen nun einmal an eine bessere Zukunft glauben. Ich meine, die Tatsache, dass ich Probleme mit der katholischen Kirche hatte, heißt nicht, dass ich das Kind mit dem Bade auskippen muss.« Sie musste allerdings zugeben, dass es schwer war, an eine bessere Zukunft für Detroit zu glauben. Wenn sie früh am Morgen schlaflos im Bett lag, hätte sie oft schwören können, die marode Stadt vor sich hinrosten zu hören.

»Nur, weil eine reiche Frau Süßholz raspelt und mit dem Geld anderer Leute ein großes Gebäude errichtet, besitzt sie noch lange keine moralische Autorität. Es ist eine soziologische Tatsache: In der Gruppe wird der Mensch zum Idioten.«

»Mag sein. Aber es können auch gute Dinge geschehen, wenn Menschen sich zusammentun.«

Brian beugte sich zu ihr und schnüffelte an ihrem Haar. Dann packte er den Ärmel ihres Bademantels und zog sie zu sich auf den Boden. »Du riechst nach Orangen.«

Anya errötete. Der Themenwechsel kam ihr nicht ungelegen, und sie war sogleich abgelenkt, als seine Finger den Vorhang aus Haaren beiseiteschoben, der ihr Gesicht bis zum Kinn verdeckte. Er knabberte an ihrem Ohr und jagte ihr erwartungsvolle Schauer über den Rücken. Sie legte die Beine in seinen Schoß, begierig, etwas Reales zu spüren und von ihm berührt zu werden.

»Hmm. Du schmeckst auch nach Orangen.«

Seine Arme umfassten mühelos ihre Taille, und seine Lippen wanderten gemächlich über ihr Kinn zu ihren Lippen. Anya ließ sich in seinen Kuss sinken, kostete den Minzgeschmack und die Wärme seines Mundes. Ihre Finger verkrallten sich im Stoff seines Hemdes, und sie spürte, wie sein Herz unter ihren Händen schneller schlug, als er in den Kragen ihres Bademantels griff und die nackte Haut an ihrem Nacken berührte. Sie sehnte sich danach, seine Hände auf mehr blanker Haut zu spüren …

… als sie spürte, wie sich gähnend der Salamander an ihrem Hals zu rühren begann.

Schlaf weiter, Sparky, bettelte sie in Gedanken. Nicht jetzt.

Das Telefon klingelte. Widerstrebend löste sich Anya von Brian. Offenbar hatte sich das ganze Universum gegen sie verschworen. Sie fühlte, wie Sparky sich streckte und über ihren Arm zu Boden glitt. Unten angekommen hielt er inne und musterte Brian misstrauisch aus halb geschlossenen Augen.

Brian griff nach ihr. Ihre Augen lagen im Schatten. »Kann das nicht warten?«

»Mich ruft nie jemand zu Hause an … es sei denn, es ist wichtig.«

Sie stemmte sich vom Boden hoch und riss den Hörer von der Küchenwand. Das Telefon, ein altmodisches, türkisfarbenes Gerät mit Schnur, hatte sie zusammen mit dem Haus erworben. Es war älter als Anya selbst. Bisher hatte es sich wie ihr 1972er Dodge Dart als immun gegenüber Sparkys Übergriffen erwiesen.

»Hallo?« Aus dem Augenwinkel beobachtete sie, wie Sparky schwanzwedelnd um Brian herumschlich. Plötzlich aber fesselte etwas anderes die Aufmerksamkeit des Wesens. Er starrte an dem Mann vorbei zu dem glühenden Rechteck verlockender, nagelneuer Schaltungen auf dem Boden. Sparky zuckte voran, um an dem HDTV-Gerät zu lecken. »Sparky«, blaffte sie, worauf sich der Salamander über die Schulter zu ihr umblickte und eine Unschuldsmiene aufsetzte, wie sie ausschließlich ein Elementargeist von der Größe eines Rottweilers zustande bringen konnte.

»Kalinczyk?« Die vertraute Stimme am anderen Ende brodelte vor Ungeduld.

Anya presste den Handballen an die Stirn. »Ja.«

»Marsh hier. Es hat einen Vorfall am heutigen Einsatzort gegeben.«

»Was für einen Vorfall?« Mit angestrengter Miene ging sie im Kopf blitzartig die verschiedenen Möglichkeiten durch. Das Feuer konnte nicht wieder aufgelebt sein – das ganze Haus war kalt gewesen.

»Jasper Bernards Haus wurde durchwühlt. Die Presse ist bereits hier. Ziehen Sie besser ihre Siebenmeilenstiefel an, und machen Sie sich darauf gefasst, hier jemandem in den Arsch zu treten.«