KAPITEL DREI
Jasper Bernards Haus war wie ein Bienenkorb, umgeben von dem gelben Absperrband der Feuerwehr, vor dem es vor Stimmen nur so brummte. Anya bahnte sich mühsam einen Weg durch das Gedränge der Nachbarn, die in Pyjamas und Bademänteln an der Absperrung standen und gafften. Der aalglatte Reporter, den sie schon früher vor Ort gesehen hatte, war auch hier, und die Scheinwerfer seines Übertragungswagens beleuchteten die Hausfassade, einen Feuerwehrwagen, eine ausgebrannte Limousine und zwei Polizeifahrzeuge vor dem Eingang.
Anya ließ ihre Marke aufblitzen und duckte sich unter dem Absperrband hindurch. Der Reporter streckte ihr sein Mikrofon entgegen. »Nick Sarvos von Channel 7 News. Stimmt es, dass in dem Haus ein Mann verbrannt ist?«
Anya verzog das Gesicht. Der Umgang mit Presseleuten war ihr zuwider. Ihr Verstand fror bei derartigen Befragungen schlicht ein, und sie fürchtete stets, etwas monumental Dummes von sich zu geben. Es gab nichts, was die Presse für sie hätte tun können, also konnte es auch keinen Austausch von Gefälligkeiten geben, der darauf basierte, dass sie Informationen durchsickern ließ. Derartige Dinge überließ man am besten den PR-Leuten des Detroit Fire Departments. Sie reckte eine Hand hoch und erklärte im Davongehen: »Kein Kommentar.«
»Die Nachbarn sagen, hier ginge es um einen Fall von spontaner menschlicher Selbstentzündung«, brüllte ihr der Reporter hinterher. »Ist an dem Gerücht was dran?«
Anya ging forschen Schrittes die Stufen zu Bernies Veranda hinauf und tat, als hätte sie ihn nicht gehört. Den Mann zu ignorieren würde sich vermutlich böse rächen und sie in seinen Berichten dumm aussehen lassen, aber sie hatte ihm nichts zu bieten. Teufel auch, sie wusste ja nicht mal selbst genau, was eigentlich los war.
Polizisten spazierten im grellen Licht des Übertragungswagens über die Veranda und warfen lange Schatten auf die abblätternde Farbe der Wände. Die Uniformierten traten zur Seite, um sie passieren zu lassen. Marsh stand in der Tür und kritzelte auf einem Klemmbrett herum. Er sah nicht eben glücklich aus.
»Ich dachte, der Tatort wäre gesichert.« Anya musterte ihn stirnrunzelnd. Das DFD gab einen Brandort nicht frei, ehe er als sicher erachtet und alle Hinweise auf Brandstiftung aufgenommen worden waren. Und davon waren sie derzeit noch weit entfernt. Das DFD musste nur einen Brandbekämpfer am Tatort zurücklassen, um weiterhin ohne besondere Befugnis nach Gutdünken kommen und gehen zu können. Eine nützliche Facette des Gesetzes, die dem DFD einen beachtlichen Freiraum bei seinen Ermittlungen einräumte … alles im Namen der öffentlichen Sicherheit. »Wie zum Teufel konnte jemand da rein?«
»Ja, eigentlich hätte er gesichert sein sollen«, gab Marsh finsteren Blicks zurück. »Ich habe einen Mann vorn auf der Straße postiert. Offenbar hat sein Wagen Feuer gefangen. Als er es gelöscht hat, sah er dann die Lichter im Haus.«
»Lichter? Was für Lichter?«
»Jedenfalls keine Taschenlampen … der Bursche, der Wachdienst hatte, hat einen flackernden, orangefarbenen Lichtschein beschrieben. Er dachte, das Feuer wäre wieder aufgelebt und ist rein, um nachzusehen. Und hat festgestellt, dass das Haus durchwühlt worden ist.«
»Na großartig.«
»Ja, also, das DPD hat die Sache aufgenommen, kann aber nicht sagen, ob irgendwas fehlt.«
Anya kniff sich in den Nasenrücken. »Lassen Sie mich raten …«
»Richtig. Herauszufinden, was fortgekommen ist, ist Ihre Aufgabe. Sie haben Bilder vom Tatort geschossen, ehe sich jemand hier zu schaffen gemacht hat.«
»Ich kann nicht behaupten, dass ich Zeit gehabt hätte, umfassend Inventur zu machen …«
»Tja, herzlichen Glückwunsch. Das ist jetzt Ihr Baby.«
Anya ließ die Schultern sinken und trottete an Marsh vorbei durch die Küchentür.
Das war kein hübsches Baby.
Die Küche war vollständig durchwühlt worden. Kartons mit Frühstücksflocken waren aus den Regalen gerissen worden und hatten Puffreis ausgespuckt, der nun unter ihren Füßen knirschte. Der Küchentisch war umgekippt, ein Bein abgebrochen. Töpfe und Pfannen lagen auf dem Boden, vermischt mit Zeitungen und den Inhalten des Kühlschranks. Die Kühlschranktür stand offen, das Licht im Inneren brannte. Jemand hatte die Deckel von Dutzenden von Plastikgefäßen gerissen und deren Inhalt einfach ausgekippt. Eine Flasche Ketchup hatte sich über den Boden ergossen. Anya roch Reste von Kung-Pao-Hühnchen, vermengt mit dem widerlich säuerlichen Geruch schmelzenden Speiseeises. Sie schlang sich die Jacke enger um den Leib, um sich vor der Kälte zu schützen.
Wieso zum Teufel hatte der Feuerwehrmann draußen nicht gehört, was hier los war, und dem ein Ende gesetzt?, überlegte sie. Das muss ein Lärm gewesen sein wie bei einer Verbindungshausparty.
Widerwillig drückte sie die Tür zum Wohnzimmer halb auf. Unglaublicherweise war das Chaos in Bernies Wohnzimmer noch größer als vorher. Die Couch war umgestoßen worden, die Füllung aus den Polstern gerissen. Bücherregale waren auseinandergebrochen, und ihr Inhalt verteilte sich über die schwarzen Scherben zerbrochener Vinyl-LPs. Die Asche aus dem Kamin war nun über den Teppich verteilt, dick genug, dass sie den Fleck, der einmal Bernie gewesen war, beinahe überdeckte.
Anya kniff die Augen zusammen. Das war kein Zufall. Hier hatte sich nicht etwa ein Einbrecher eine günstige Gelegenheit zunutze gemacht. Nein, hier hatte jemand nach etwas ganz Bestimmtem gesucht.
Ihr Blick fiel auf den Kaminsims. Er war abgeräumt worden: keine Flaschen, kein Schwert, keine Talismane. Sie atmete tief durch. Trotz des ganzen Chaos war eine Veränderung unverkennbar: Sie konnte keine Magie mehr riechen. Absolut keine.
Sie streifte mit bebenden Nasenflügeln durch den Raum. Keiner der Gegenstände, die sie als magisch eingestuft hatte, schien noch da zu sein. Alles, was sie wahrnahm, war ein hintergründiger, vager Ozongeruch, wie sie ihn schon bei ihrem ersten Besuch in diesem Haus gerochen hatte.
Den Blick auf den Kamin gerichtet, trommelte Anya mit den Fingern auf ihrer Unterlippe. Jemand hatte in der Asche herumgewühlt. Vielleicht jemand, der hinter den Fragmenten der magiebefleckten Drusenflasche her gewesen war, die sie dort gefunden hatte. Zumindest die lag sicher verpackt im Beweismittelschrank. Sie hoffte, die Forensiker würden ein paar Fingerabdrücke von ihr nehmen können.
Sie ging in ihren eigenen Spuren zurück, sorgsam darauf bedacht, nichts anzurühren. Sie würde ihre Kamera und den Rest ihrer Ausrüstung holen und vermutlich eine Ewigkeit damit zubringen müssen, die neuen Fotos mit denen zu vergleichen, die sie zuvor geschossen hatte. Die Analyse des Brandorts entwickelte sich zu einem wahren Albtraum.
Anya schlich durch die Küche und durch die Reihen gaffender Cops. Sie hörte, wie Marsh den wie gelähmt wirkenden Feuerwehrauszubildenden anknurrte, der hier hätte Wache halten sollen. Seine Stimme war leise genug, dass der Reporter auf der Straße ihn nicht hören konnte, aber sein Ton ließ von dem armen Kerl nur Wackelpudding übrig.
»… zum Teufel haben Sie sich dabei gedacht? Sie haben den Tatort einer laufenden Untersuchung unbeaufsichtigt gelassen und damit für weitere Ermittlungen nahezu unbrauchbar gemacht. Morgen früh hab ich Ihre Marke auf meinem Schreibtisch, verstanden?«
Der Feuerwehrmann stand da, die Hände in die Taschen gerammt, und stierte zu Boden. »Ja, Sir. Ich weiß nicht, was passiert ist. Ich hab dem Haus nur ein paar Minuten den Rücken zugewandt.«
»Haben Sie geschlafen?«
»Nein, Sir.«
»Haben Sie getrunken?«
»Nein, Sir.«
»Drogen?«
»Nein, Sir.«
»Sie schieben jetzt Ihren Arsch rüber in die Ambulanz und lassen einen Drogentest machen. Sofort.«
Anya drückte sich an ihnen vorbei und blieb stehen. Ihre Nase zuckte, und sie drehte sich zu dem glücklosen Feuerwehrmann um.
Er roch nach Magie. Der Ozondunst hing schwach wahrnehmbar an seinem Mantel. Anya musterte ihn von Kopf bis Fuß. Er war ein ganz gewöhnlicher Bursche – sie sah nichts Besonderes an ihm: ein junger Mann in den Zwanzigern mit Bürstenhaarschnitt, der in seinen Stiefeln zitterte, während Marsh ihn zusammenstauchte. Machte einen ernsthaften Eindruck … nicht wie jemand, der sich im geheimen Kämmerlein mit Magie befasste.
»Hey«, sagte sie und unterbrach die Schimpftirade. »Erzählen Sie mir, was passiert ist. Was haben Sie gesehen?«
Der Feuerwehrmann kratzte sich am Hinterkopf. »Ich hab das Haus beobachtet, genau wie Captain Marsh es mir gesagt hat. Hab Radio gehört, als ich plötzlich ein statisches Rauschen vernahm. Ich hab versucht, den Sender neu einzustellen, aber dann ist Rauch aus dem Motorraum des Wagens aufgestiegen. Ich hab die Haube aufgemacht, weil ich dachte, es wäre vielleicht nur Dampf aus dem Kühler, aber es war Rauch.«
»Welche Farbe hatte er?«
»Weiß, glaube ich. Darum dachte ich erst auch, es wäre nur Dampf. Aber ich bin nicht sicher.«
Anya legte die Stirn in Falten. Ein Feuer in einem Motor, gespeist von Motoröl, hätte schwarzen oder blauen Rauch erzeugt. Vielleicht ein Schwelbrand in der Elektrik. Oder Batteriesäure, die sich entzündet hatte.
Der Feuerwehrmann fuhr fort. »Ich hab den Feuerlöscher aus dem Kofferraum geholt. Zu der Zeit stand schon der ganze Vorderwagen in Flammen. Ich hatte Angst, der Tank könnte Feuer fangen, und ich hab Verstärkung gerufen.«
»Wann sind Sie darauf aufmerksam geworden, dass sich in dem Haus etwas tut?«
»Ich hab das Licht im Haus gesehen, als die Jungs mit dem Leiterfahrzeug eintrafen und den Brand gelöscht haben. Wie ich Marsh schon gesagt habe, es war nicht das Licht von Taschenlampen … es war goldorange. Ich bin die Stufen raufgerannt, und als ich die Tür aufgemacht habe, ist das Licht ausgegangen.«
»Haben Sie jemanden gesehen?«
»Nein, und das kapiere ich einfach nicht.« Der Feuerwehrmann schüttelte den Kopf. »Ich verstehe nicht, wie irgendjemand an mir hätte vorbeikommen können.«
Anya sah ihn aus zusammengekniffenen Augen an. »Niemand ist vorbeigerannt?« Es gab im Haus nur eine Tür, die Vordertür. Nun ja, tatsächlich gab es nur eine nutzbare Tür. Die Hintertür war mit Müll vollgestellt und nicht erreichbar. Niemand hätte durch sie aus dem Haus gelangen können. Und man hatte keine Anzeichen für einen gewaltsamen Einbruch gefunden.
Anyas Augen richteten sich auf den Wagen hinter ihm, in dem er am Straßenrand gewacht hatte. Nun war er nur noch eine geschwärzte Masse, der Vorderwagen verkohlt, die Haube klaffend offen wie das Maul eines Monsters. Das Glas war noch intakt, was darauf hindeutete, dass das Feuer keine hohe Temperatur erreicht hatte. Ein brennendes Auto konnte sehr heiß werden, über fünfhundert Grad, bisweilen erreichte so ein Feuer sogar eine Temperatur von über tausend Grad. Vielleicht war ein Teil der Hitze entwichen, als er die Haube geöffnet hatte. Im Zickzack bahnte sie sich einen Weg durch die Reihen der Polizisten und griff nach dem Türgriff …
… und wurde von dem Gestank der Magie, der dem Wagen entströmte, beinahe umgehauen. Es war, als hätte jemand zwölf Stunden bei geschlossenen Fenstern in dem Auto gesessen und die Seiten eines Buchs der Schatten geraucht.
Anya hustete. Ihre Augen tränten, und sie fühlte, wie die Überbleibsel der Magie in ihre Kleider und ihre Haut drangen. Sie fühlte, wie sich der Salamanderreif an ihrem Hals regte, als sie zurückwich. Sparky sprang leichtfüßig zu Boden, packte ihren Mantel mit den Zähnen und zerrte sie zurück, zurück in die frische Luft.
Sie atmete tief durch, drängte die schwere, immer noch magisch aufgeladene Luft aus ihrer Lunge. Sparkys Kopf zuckte zum Wagen herum, und er knurrte.
Jemand, der wusste, wie man mit Magie umzugehen hatte, hatte das Feuer ausgelöst, um den Feuerwehrmann abzulenken. Dann war man in das Haus eingebrochen und hatte Bernies magisches Inventar vor der Nase der Feuerwehr gestohlen.
Und Anya hatte keine Ahnung, was dieses Inventar alles umfasste. Nach allem, was sie über den Sammler wusste, mochte er den gottverdammten Stein der Weisen oder das Schwert Excalibur unter seinen Zeitungsstapeln verbuddelt haben.
Scheiße.
Anyas Büro war nichts Besonderes, aber es bot ihr eine verdammt gute Zuflucht.
Verborgen in den Innereien des Hauptquartiers des Detroit Fire Departments geriet es häufig schlicht in Vergessenheit. Das Kellerbüro mit dem alten schwarz-weiß gefliesten Boden, der gesprungenen Scheibe im oberen Teil ihrer Tür und den abgenutzten Büromöbeln aus den Sechzigern roch nach Moder und abgestandenem Kaffee. Die Leuchtstoffröhren an der Decke summten und flackerten. Es war kein Palast, aber es war ein Zuhause abseits ihres Zuhauses. Und sie wurde hier nur selten von irgendjemandem belästigt. Sie wusste es zu schätzen, nicht oben in dem vollgestopften Großraumbüro mit seinen mit Raumteilern abgetrennten Arbeitsnischen untergebracht zu sein; Anya war nicht daran interessiert, zu sehen oder gesehen zu werden. Sie wollte Raum zum Denken. Auch wenn dieser Raum keinen Wohlgeruch verströmte.
Anya saß im Schneidersitz auf dem Boden, umgeben von Stapeln von 20 × 30-Abzügen. Sie hatte die ganze Nacht damit zugebracht, die neuerlich veränderte Brandstelle mit ihrer Kamera zu protokollieren, und war nun dabei, diese Fotos mit denen vom Vortag zu vergleichen. Der quietschende Tintenstrahldrucker auf ihrem Schreibtisch spuckte widerwillig eines nach dem anderen aus, sofern er nicht gerade wieder einen Papierstau fabrizierte. Anya thronte mit einem roten Textmarker über den Fotos und kreiste Dinge ein, die da sein sollten, aber nicht da waren. Es war wie ein riesiges »Wo – verdammt noch mal – ist Walter?«-Suchbild, und es bereitete ihr Kopfschmerzen.
Bislang fehlten aus Bernies Haus sechs Schwerter, sechsundzwanzig Flaschen diverser Art, Kristalle und Steine, ein paar Statuen, ein geschnitzter Holzschädel und ein Beutel mit Murmeln. Und das war nur das, was sie bei der ersten Bestandsaufnahme und der Sichtung der Fotos hatte entdecken können. Vermutlich fehlte noch viel, viel mehr, von dem sie nie erfahren würde. Sie hatte versucht, Bernies Angehörige zu finden, um herauszufinden, ob die ein wenig Licht auf seinen Tod oder die verschwundenen Gegenstände werfen konnten, aber sein einziger lebender Verwandter, ein Neffe, hatte ihn seit zwanzig Jahren nicht mehr gesprochen. Der Neffe hatte Verstand genug bewiesen, um aus Detroit fortzuziehen. Als Anya ihn fragte, was mit der verbliebenen Habe seines Onkels geschehen sollte, hatte der Neffe erklärt: »Fackeln Sie es ab. Können Sie es nicht für Feuerwehrübungen benutzen oder so was in der Art?«
Anya nagte an der Kappe ihres Stifts und starrte die Bilder an. Dieses Durcheinander zu enträtseln würde Monate dauern. Jahre.
Das Telefon auf ihrem Schreibtisch klingelte, rüttelte sie aus ihren Gedanken. Sie streckte die Hand aus und schnappte sich den Hörer. »Kalinczyk.«
»Was zum Teufel haben Sie mir da eigentlich geschickt? Einen gottverdammten Fuß?« Die Bezirksgerichtsmedizinerin am anderen Ende kreischte förmlich, und das Rascheln einer Plastiktüte war zu hören. »Was zum … zwei Füße?«
»Das ist eine Leiche, Gina.«
»Wo ist der Rest davon?«
»Das ist der Rest.«
»Erklären Sie mir das bitte.«
»Sie stammen von einem Brandort. Brandspuren auf der Couch und dem Boden, und die Füße wurden am Rand der Brandspuren gefunden.«
»Haben Sie Fotos?«
»Ja. Ich schicke Sie über die Hauspost …«
»Bringen Sie sie lieber her, wenn Sie einen Bericht von mir erwarten. Anderenfalls bleiben diese Füße bis Weihnachten in der Kühlung.« Gina legte auf.
Seufzend pflückte Anya die Fotos vom Boden, die Bernies Überreste zeigten, und schob sie in einen braunen Umschlag.
Sie hasste es, die Gerichtsmedizin aufzusuchen, aber niemand widersetzte sich Gina, dem Ghul.
Mit dem Umschlag unter ihrem Arm schaltete Anya, leise vor sich hin schimpfend, die Bürolampen aus und ging die Treppe hinauf. Die Hauptwache des Detroit Fire Departments war bereits 1929 in einem Gebiet erbaut worden, das heute als Washington Boulevard History District bekannt war. Die Eingangshalle und die oberen Stockwerke waren offen für den Publikumsverkehr und mehrfach umgestaltet und neu möbliert worden, aber von außen schmückte sich das Gebäude immer noch mit der Originalfassade mit ihren hohen Mauerbögen über den Türen.
Der Zauber der 1920er endete, sobald sie auf der Straße angelangt war. Gleich gegenüber dem DFD stand das Cobo Center. Das in den Sechzigern erbaute, modernistisch-kubische Bauwerk erstreckte sich über mehrere Häuserblocks und ragte im Süden sogar noch über den Lodge Freeway hinweg. Den Kontrast zwischen neu und alt fand sie nach wie vor erschütternd, ganz gleich, wie oft sie aus dem kühlen Schatten der Hauptwache hinaus in den strahlenden Sonnenschein auf der Straße trat.
Anya trödelte, während sie ihren Dart vom Parkplatz holte. Sie nahm sich Zeit, fuhr gemächlich durch das Uferviertel, in der Absicht, die I-75 zu nehmen. Auf dem Weg nach Norden zum gerichtsmedizinischen Institut hoffte sie inständig, der Verkehr würde sie aufhalten und ihren Besuch ein wenig hinauszögern.
Die glänzenden Säulen des GM Renaissance Center reckten sich hinauf in einen klaren, blauen Himmel und bildeten einen scharfen Gegensatz zu einigen der älteren Gebäude im Innenstadtbereich von Detroit. Am Ende des 19. Jahrhunderts hatte Detroit wegen seiner überwältigenden Baukunst als das »Paris des Westens« gegolten. Die Große Depression hatte dem Bauboom ein Ende gesetzt. Seither war die gesamte Bautätigkeit ins Stocken geraten, hatte immer wieder aufgelebt, schien aber schließlich vollständig ausgebrannt zu sein.
Das gerichtsmedizinische Institut von Wayne County war gerade einen bequemen Steinwurf vom Detroit Receiving Hospital und dem VA Medical Center entfernt. Der Gehweg wurde von Bäumen gesäumt, die das nichtssagende Ziegelgemäuer vor neugierigen Blicken von der Straße abschirmten.
Anya steuerte den Dart auf den Parkplatz. Dann verharrte sie hinter dem Lenkrad und starrte das Gebäude an. Es gab bestimmte Orte, die kein Medium gern aufsuchte: Krankenhäuser, Beerdigungsinstitute, Friedhöfe … einfach alle Orte, an denen die Toten zusammenkamen. Jüngst Verstorbene waren oft verwirrt und wütend. Diejenigen, die schon vor längerer Zeit gestorben waren und sich entschlossen hatten, in der physischen Welt herumzuhängen, neigten dazu, manipulativ und bösartig aufzutreten. Viele Medien weigerten sich daher, auch nur einen Fuß in eine derart chaotische Umgebung zu setzen. Mochten solche Orte gewöhnlichen Leuten auch still und friedlich erscheinen, stellten sie für ein Medium fast das Äquivalent zu einem Gang durch ein Irrenhaus nach dem Löschen der Lichter dar.
Zischend sog Anya die Luft zwischen den Zähnen hindurch, ehe sie die Wagentür öffnete und argwöhnisch auf die Glastür des gerichtsmedizinischen Instituts zuging. Der Salamanderreif an ihrem Hals erzitterte, drehte sich, und dann glitt Sparky über ihren Rücken hinab und um ihre Füße.
»Benimm dich«, warnte sie ihn.
Sparky blinzelte zu ihr hinauf, ehe er durch die durch einen Bewegungsmelder gesteuerte Tür trottete. Die Tatsache, dass die Tür seine Anwesenheit registrierte und öffnete, entlockte ihm ein entzücktes Quieken. Er kam zurück, schlich hinter Anya und öffnete die Tür noch weitere dreimal, ehe er sich an ihre Fersen hängte.
Anya senkte den Kopf, rammte die Hände in die Taschen und ging forschen Schrittes die in kühlem Grün gefliesten Korridore hinunter. Ihre Absätze hallten laut auf dem Boden. Es stank nach Desinfektions- und irgendeinem Konservierungsmittel, das verdächtig nach italienischer Wurst roch. Sie bemühte sich, den Geist einer alten Frau in einem Hausmantel zu ignorieren, der schreiend vor einem Verkaufsautomaten stand. Sie wandte sich von der durchsichtigen Erscheinung eines Teenagers ab, der auf dem Flur saß und sich die Handgelenke aufschnitt. Das Mädchen sah verwirrt aus, als kein Blut aus der Wunde quoll. Ein Unfallopfer trug noch immer seinen Sicherheitsgurt, als es durch die Mauer schwebte, ohne seiner Umgebung Beachtung zu schenken. Sparky schaute sich neugierig um und schnappte nach jedem Geist, der in seine Reichweite kam.
Doch diese Geister waren nicht ihr Problem. Anya wusste nicht, was sie über das Jenseits denken sollte. Sie hoffte inbrünstig, dass diese Leute irgendwann irgendwohin gehen würden, dass irgendein gnädiger Engel ihre verwirrten Seelen einfing und sie zu irgendeinem strahlenden, prächtigen Ort führte.
Allein, sie glaubte nicht daran.
»Nein … lass mich in Ruhe.«
Eine schwache weibliche Stimme drang unter einer Tür hindurch und erregte Anyas Aufmerksamkeit. Sparky drehte sich knurrend um. Anya hielt inne und beugte sich zu der Edelstahltür des Kühlraums vor. Eine andere, tiefere Stimme überlagerte die schwache, weibliche.
»Niemand kann dich schreien hören, Mädchen.«
Anya riss an dem Riegel der Kühlraumtür und tastete auf der Innenseite nach einem Lichtschalter.
Der Kühlraum war voll. Flackerndes Neonlicht beleuchtete Leichensäcke, die sich an Ort und Stelle in offenen Metallfächern und auf Tragbahren stapelten. Etwas Dunkles, Klebriges rann über den Betonboden zum Bodenabfluss, und der Raum stank wie ein Schlachthaus.
Der Geist eines großen, hageren Mannes hielt den Geist eines jungen Mädchens an der Kehle umfasst und presste ihn an die Wand. Das harte Licht betonte die Einschusslöcher in der Brust des Mannes, aber an dem Mädchen konnte Anya keine Wunden ausmachen. Tränen strömten über seine Wangen.
»Lass sie verdammt noch mal in Ruhe.« Zorn brodelte in Anyas Brust.
Der Mann drehte sich um und sah sie höhnisch an. »Kümmer dich um deine Angelegenheiten.« Vielleicht war er daran gewöhnt, dass niemand ihn sehen konnte. Vielleicht war er daran gewöhnt, Menschen zu ängstigen, im Leben wie im Tode. Aber Anya wollte nichts davon wissen.
Sparky stürzte sich auf ihn. Seine Zähne packten die Rückseite der Kapuzenjacke und zerrten ihn von der Wand weg. Der Salamander zerfleischte den Geist, wedelte knurrend mit dem Schwanz und zerriss die ektoplasmische Kehle des Mannes. So brutal hatte Anya ihn noch nie erlebt, aber sie hatte auch noch nie zugesehen, wie er ein Kind verteidigte.
»Zurück«, sagte Anya zu dem Mädchen, worauf es zwischen den Gitterstäben eines Regals verschwand.
Anya fühlte die Macht der Laterne in ihrer Brust brennen. Sie konnte spüren, wie sich das Feuer auf ihre Aura ausbreitete und aus ihren Handflächen strömte, begierig, diesen schrecklichen Geist zu packen. Eine Laterne unterschied sich in einem entscheidenden Punkt von anderen Medien: Eine Laterne zog Geister an wie ein elektrischer Insektenvernichter … und konnte sie verschlingen.
»Sparky«, mahnte sie, worauf der Salamander sich fügte und den Weg freigab. Anya griff nach dem Geist, rang ihn zu Boden, atmete ihn ein, zog ihn in den schwarzen Abgrund in ihrer Brust. Sie konnte die metallische Kälte des Geistes schmecken, als sie ihn verschluckte, die Asche in ihrer Kehle, als das Feuer in ihrer Brust ihn verzehrte. Keuchend trat sie zurück und fühlte, wie die Hitze auf ihrer Brust Blasen schlug. Der Vorgang mochte eine Narbe auf ihrem physischen Leib hinterlassen, aber die Wunde würde heilen.
Sie drehte sich zu dem Mädchen um, das verängstigt hinter den Regalen kauerte.
Anya drängte das Feuer in ihrem Herzen zurück, bemühte sich, Hände auszustrecken, die nicht brennen würden. Sie kämpfte darum, den Zorn niederzukämpfen, bis er durch ihre Füße im Boden versickerte. »Schon gut … er ist weg.«
Das Gesicht des Mädchens tauchte hinter einem Leichensack auf. »Er kommt nicht zurück?«
Anya schluckte und schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie wusste nicht so genau, was aus den Geistern wurde, die sie verschlang. Jemand hatte ihr einmal erklärt, sie würden machtvolle Feuerelementare nähren. »Du bist jetzt sicher.«
Sparky knurrte. Anya drehte sich um und sah, wie sich an der Wand ein Schatten von der Form eines Menschen bildete. Die schwarze Masse wurde zu der durchscheinenden Gestalt eines Mannes in einem schwarzen Mantel und Jeans. Kalte blaue Augen schauten aus einem kantigen Gesicht, die Art Gesicht, die gut auf ein Albumcover aus den 1980ern gepasst hätte. Dazu ein Wust blonder Haare, gestylt zu einer Frisur, die wie ein verspäteter Tribut an die Punkära wirkte.
»Bleibt zum Teufel noch mal von dem Mädchen weg«, fauchte Anya. »Ich hab genug von euch verdammten Perversen.«
Der Geist hob die Hände. »Ich bin nicht hier, um jemandem zu schaden.«
»Warum bist du hier? Um hier rumzuhängen und auf die Apokalypse zu warten?«
Ein Lächeln umspielte seine Lippen. »Ich bin wegen des Mädchens hier.«
Anya ging sofort hoch und fühlte, wie sich die Hitze in ihren Fingerspitzen sammelte. Diesen Geist würde sie ebenso mühelos verschlingen wie den letzten.
»Ich bin hier, um sie ins Jenseits zu führen.«
Ein kalter Schauer lief über Anyas Rücken. »Wer bist du?«, fragte sie misstrauisch. Geister waren unverbesserliche Lügner, wie glatt sie auch auftreten mochten.
Er drehte sich zu dem Mädchen um, was Anya erneut erzürnte. »Trina, mein Name ist Charon. Ich bin hier, um dich mit auf eine Reise zu nehmen.« Er streckte die Hand zu dem Regal aus.
»Woher kennst du meinen Namen?« Das Mädchen musterte ihn, die Arme um den Körper geschlungen.
»Den hat mir deine Großmutter verraten. Sie würde sich freuen, wenn du sie besuchen kämest.«
»Kannst du mich hier wegbringen?« Trina zitterte und starrte hinauf zur Decke.
»Ja.« Wenn Charon lächelte, so tat er das mit dem himmlischen Lächeln eines Engels. Sparky watschelte zu ihm und schnüffelte an ihm. Seine Kiemenwedel richteten sich auf, ertasteten die Aura des Geistes. Der Geist ließ ihn gewähren. Er machte keine plötzlichen Bewegungen und zeigte keinerlei Widerstand.
Sparky mochte unschlüssig sein, aber Anya traute ihm nicht. Ganz und gar nicht. »Du bringst niemanden irgendwohin.«
Charon zog eine Braue hoch. »Das ist nicht deine Entscheidung, Laterne.« Er richtete sich zu voller Größe auf und starrte Anya direkt in die Augen. Als er dann in der Reichweite ihrer Aura wieder das Wort ergriff, fühlte Anya die Kälte, die von ihm ausging. Er war machtvoll; sie spürte die verharrende Zeit, die an ihm zerrte. Sein Atem kondensierte in der Luft. »Für das Mädchen ist es Zeit zu gehen. Du hast ihr einen Dienst erwiesen, indem du sie beschützt hast. Aber was willst du nun tun? Du kannst sie nicht von diesem Ort wegbringen.«
Anya reckte das Kinn vor. Charon hatte recht. Geister waren auf physische Orte fixiert, auf Menschen oder auf Gegenstände. So sehr sie es wollte, sie konnte den Geist des Mädchens nicht in Schutzhaft nehmen. Der einzige Weg, wie sie die Bindung des Kindes an seine Umgebung brechen konnte, war, es zu verschlingen. Oder sie überließ es der Gnade der anderen Geister hier in der Gerichtsmedizin.
»Was … bist du?«, fragte Anya.
Charon zuckte mit den Schultern. »Ich bin ein Führer, mehr nicht. Ich bringe Geister hierhin und dorthin … ein Taxifahrer des Jenseits. Die Gerichtsmedizin ist … eine der Haltestellen auf meiner Route.«
Trina lugte hinter den Regalen hervor. »Ich will mit ihm gehen.«
Anya ballte die glühenden Hände zu Fäusten. Alles, was sie dem Geist zu bieten hatte, war vollständige Vergessenheit.
Und so sagte sie nichts, als Charon die Hand des Mädchens ergriff. Gemeinsam gingen sie durch die Wand des Kühlraums und waren sodann verschwunden.