KAPITEL EINS

Tod und dazu ein Tröpfchen Magie.

Anya rümpfte die Nase, als sich die Ausdünstungen brennend in ihren Nebenhöhlen bemerkbar machten. Unweigerlich weckten sie den urtümlichen Kampf-oder-Flucht-Impuls im primitivsten Teil ihres Gehirns. Sie musste sich förmlich dazu zwingen, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und ihre verschwitzten Finger spannten sich um den Griff ihres Arbeitskoffers. Jedem normalen Menschen hätte es freigestanden, vor diesen Gerüchen zu fliehen, aber Anya hatte keine Wahl. Sie war kein normaler Mensch. Und das hier war ihr Job.

In diesem Messiehaus roch es nach verbranntem Schinken, fettig und abstoßend. Der Gestank klebte an den Zeitungsstapeln auf dem Küchentisch, den gebündelten Ausgaben der National Geographic und den Kartons, die sich an den Wänden auf dem schwarzweißen Linoleum stapelten. Im Abwaschbecken lag Geschirr, überzogen von eingetrocknetem Spülmittel mit Zitronenaroma; der Mülleimer roch nach Kaffeesatz … doch all diese anderen Gerüche verblassten gegenüber dem Gestank, der durch die sich ablösenden Tapeten sickerte.

Ein Haufen Bullen drängelte sich an der Hintertür der Küche. Als hielte ein unsichtbares Hindernis sie davon ab, die Schwelle zu übertreten, verweilten die Uniformierten vor der Tür. Sie sprachen miteinander, leise und voller Anspannung. Von den gewohnten Witzeleien und dem üblichen Maulheldentum war nichts zu spüren. Sie schienen wie gelähmt, wollten den Tatort nicht verlassen, waren aber auch nicht bereit, das Haus zu betreten.

Jemand hatte das Fenster über der Küchenspüle einen Spalt weit geöffnet, sodass ein wenig Luft hereinkam. Anya streckte die Hand über dem Geschirr aus, um es weiter zu öffnen, in der Hoffnung, dass die hereindringende Luft den Gestank milderte. Ein schmieriger Belag auf der Scheibe verschleierte ihr Spiegelbild. Ihre latexumhüllten Finger hinterließen Streifen auf dem fettigen Glas. Trotz der Handschuhe erschauderte sie.

Anya legte den Kopf auf die Seite. Eine Strähne des kinnlangen, brünetten Haares rutschte über ihre bernsteinfarbenen Augen. Ihr Haar war vor einigen Monaten vollständig verbrannt und hatte nun das nervenaufreibende Stadium erreicht, in dem es noch nicht lang genug war, um es zu einem Pferdeschwanz zu binden. Mit der sauberen Hand strich sie es hinter ihr Ohr. Die Bewegung brachte einen kupfernen Halsring am Kragen ihres Schutzanzugs zum Vorschein. Der Metallsalamander ringelte sich um ihren Hals und hielt über ihrem Schlüsselbein seinen Schwanz umfangen, sodass seine beiden Enden ein V bildeten. Der Reif, pulsierend unter dem Einfluss seiner eigenen Präsenz, fühlte sich immer wärmer an als ihre Haut. In der Gegenwart des Todes war der Salamanderreif stets besonders aktiv; Anya war überzeugt, dass er den Tod ebenso deutlich witterte wie sie selbst. Für den Augenblick jedoch ignorierte sie ihn.

»Dachte mir, das würde Ihnen gefallen, Kalinczyk.« Captain Marsh stellte eine Kiste mit Werkzeug auf dem Küchentisch ab. Selbst in dieser erstickenden Enge trug ihr Vorgesetzter unter der offenen Jacke seiner Feuerwehruniform ein makellos gebügeltes weißes Hemd nebst Krawatte.

Anya zog die Brauen hoch. »Es stinkt, und sie denken automatisch an mich?«

Marshs mahagonibraune Züge verzogen sich zu einem schiefen Grinsen. »Hatte angenommen, dass es einige der anderen Brandermittler womöglich in Angst und Schrecken versetzt hätte.« Er verschränkte die Arme vor dem strahlend weißen Hemd. »Aber im Ernst … Wir dürfen bei dieser Sache kein Aufsehen erregen. Wir müssen Stillschweigen bewahren.«

Sie warf einen Blick auf die unordentliche, ärmliche Küche und runzelte die Stirn. An diesem Tatort deutete nichts darauf hin, dass Geheimhaltung geboten wäre. Trauer vielleicht … aber keine Geheimhaltung. Und sie war sicher, dass von den anderen niemand den scharfen Geruch der Magie wahrnehmen konnte, der für sie so unverkennbar war wie Ozon. »Vorgeschichte?«, fragte sie.

»Das Haus gehört einem zweiundsiebzigjährigen Mann, Jasper Bernard. Eine Nachbarin hat den Notruf alarmiert, weil sie merkwürdige Lichter gesehen und geglaubt hat, es wären Einbrecher im Haus.«

Mit einer Kinnbewegung deutete Anya auf den Küchentisch und sah Marsh fragend an. »Besitzt er denn irgendetwas, das es wert wäre, gestohlen zu werden? Irgendetwas, das man in diesem Saustall überhaupt finden könnte?«

»Tja, nun.« Marsh breitete die Hände aus. »Schätze, sie hat einfach nur befürchtet, dass hier irgendwas nicht stimmt. Die Polizei hat’s zunächst an der Vordertür versucht, aber ohne Erfolg. Alle Türen und Fenster waren verriegelt. Als sie dann mit den Taschenlampen durch eines der Fenster geschaut haben, erkannten sie Brandspuren im Wohnzimmer und sind eingedrungen.«

»Haben sie das Feuer gesehen?«

Marsh schüttelte den Kopf. »Nein, nur verkohlte Überreste und Asche. Das Feuer war längst ausgekühlt. Genau wie Bernard.«

»Woran ist Bernard gestorben? Rauchvergiftung?« Anya stellte sich den alten Mann tot auf seiner Couch vor, umgekommen durch ein Feuer, verursacht von einer vergessenen brennenden Zigarette. Unter all den Möglichkeiten zu sterben war das Ersticken im Schlaf nicht die schlechteste Art zu gehen. Anya hatte Schlimmeres gesehen. Wenn auch der offizielle Bericht des Leichenbeschauers, wie sie wusste, erst in einigen Tagen verfügbar sein würde, würden ihr doch ein paar vorläufige Informationen helfen, ihre eigenen Ermittlungen voranzutreiben.

Marsh rieb nervös mit der Handfläche an der Narbe, die sich über seinen kahlen Kopf zog. Der Mann zeigte sich selten beunruhigt, aber diese unbewusste Geste war Anya vertraut. »Nein.«

»Verbrennungen?« Anya zuckte innerlich zusammen. Es gab nur zwei Möglichkeiten, im Feuer zu sterben: Entweder man verbrannte oder man erstickte. Zu verbrennen war die schlechtere Wahl.

»Das sehen Sie sich besser selbst an.« Er zeigte mit dem Daumen auf die in sechs Füllungen unterteilte Kassettentür der Küche. Sie stand halb offen. Hinter ihr erstreckte sich nur kühler Schatten. »Da entlang.«

Der Lack hatte in der Hitze Blasen geworfen, die wie Pusteln unter ihren Fingerspitzen zerplatzten, als sie die Tür aufstieß und durchatmete, während sich ihre Augen an das Halbdunkel dahinter gewöhnten.

Das Wohnzimmer war eine echte Messiehöhle. An der Decke war die Glühbirne mit ihrem Sockel verschmolzen. Die mit von geschmolzenem Lack verklebten Fenster hatte man gewaltsam öffnen müssen. Graues Licht drang durch die schadhaften Jalousien herein und fiel auf Pressspanregalbretter, die sich bogen unter der Last unzähliger Bücher. Anya überflog die Titel, doch die meisten waren in für sie unverständlichem Latein geschrieben. Ein fleckiger, wollener Strukturteppichboden versank unter dem Dreck vieler Jahre, in denen er zu selten gesaugt worden war. Ungeöffnete Post lag in wirrem Durcheinander auf einem Buffet, und die Umschläge raschelten in der Zugluft, die doch nicht imstande war, den bitteren Gestank des Todes zu vertreiben.

So unordentlich der Raum auch erschien, aus forensischer Sicht war er erstaunlich intakt. Keine Brandspuren an den Wänden. Es war unwahrscheinlich, dass jemand in einem Raum, der so geringen Schaden genommen hatte, an Verbrennungen oder einer Rauchvergiftung zu Tode gekommen war. Nur an der Decke war ein wirbelförmiger Fleck, verursacht durch schwarzen Rauch, zu erkennen, der die geschmolzene Lampe über der Couch umgab.

Anya legte die Stirn in Falten. Vielleicht hatte der alte Mann einen Herzinfarkt erlitten. Vielleicht war er an Krebs gestorben. Oder an einer Arzneimittelüberdosis. Die Autopsie würde sicher eine Todesursache enthüllen, die nichts mit Verbrennungen oder Rauchvergiftung zu tun hatte. Eins war jedoch sicher: Hier hatte es schlicht kein Feuer gegeben, das groß genug gewesen wäre, um einen mobilen Erwachsenen ernsthaft zu verletzen.

Die abgewetzte Couch stand von Anya abgewandt vor dem offenen Kamin, dessen Verkleidung unter dem Gewicht einer wirren Sammlung verschiedenster Gegenstände abgesackt war: Ein Haufen Messingschlüssel hing wie Spinnenbeine über den Rand; ein Tiki-Gott überstrahlte sein vermülltes Reich; und da war noch ein stumpfes, angelaufenes Schwert mit einem kunstvoll verzierten, goldenen Heft. Rauch hatte eine Sammlung von Flaschen der verschiedensten Größen und Formen befleckt. Nun hatten sie alle die Farbe grauen Quarzkristalls, beinahe trüb genug, den Inhalt der Gefäße zu verbergen: schimmernde Knochen in einer Flüssigkeit.

Anya bekam eine Gänsehaut. Diese Gegenstände rochen nach Magie, nach Rost und Salz. Alte Magie. Anders als der frische Ozongeruch neu gewirkter Magie, den sie in der Küche wahrgenommen hatte.

Anya bahnte sich einen Weg zur Couch, um sich die Flaschen genauer anzusehen, und trat dabei fast auf die Überreste von Jasper Bernard.

Nicht, dass noch viel von ihm übrig gewesen wäre. Nur ein schmieriger schwarzer Brandfleck breitete sich vom mittleren Sofakissen bis zum Boden aus. Auf dem versengten Stück Teppich stand ein Paar Füße in schwarzen Socken und blauen Pantoffeln. Sie kniff die Augen zusammen und erkannte ein paar Fingerknochen der rechten Hand am Rand des Brandflecks, doch darüber hinaus war nichts von Jasper Bernard geblieben. Das Feuer hatte sich durch den Teppich gefressen und weiße Asche auf einem unversehrten Hartholzboden zurückgelassen. Vor den Schuhen stand unbeschadet ein Fernsehtisch nebst einem Mikrowellengericht auf seinem Menüteller. Hackbraten und grüne Bohnen, wie es aussah.

Sie wippte auf den Fersen und hauchte: »Heilige Scheiße.« Das war kein natürliches Feuer gewesen. Es war nicht einmal ein denkbares Feuer gewesen. Menschliche Körper brannten nicht so, nicht einmal, wenn sie mit Benzin übergossen und in einem Auto in Brand gesteckt wurden. Irgendwas blieb immer übrig. Nichts verbrannte restlos, nicht einmal im Ofen eines Krematoriums. Krematorien mussten die Überbleibsel nach dem Verbrennungsvorgang gewaltsam pulverisieren, um sie in die Urnen zu bekommen …

Wohin zum Teufel waren Bernards Überreste verschwunden?

Anya ging in die Knie und starrte ungläubig auf Bernards Füße. Durch ein Loch in einer Socke konnte sie rosafarbene Haut erkennen. Die extreme Hitze, die seinen Körper zu Asche verbrannt hatte, hatte sogar die Fusseln unter seinem perfekt erhaltenen Zehennagel nicht im Geringsten in Mitleidenschaft gezogen.

Hinter ihr stob unter Marshs Schritten Staub vom Teppich auf. »Ist es das, was ich vermute?«

Wenn es so war, dann war dies der heilige Gral der Brandermittlung. Sie gab sich ausweichend. Noch hatte sie nicht genug gesehen, um sicher zu sein. »Ich weiß es nicht genau. Wir müssen mehr Beweise sichern, aber es deutet alles darauf hin.«

»Auf was?«, drang er in sie und lehnte sich in seinen nunmehr staubigen, vormals mit Spucke polierten Schuhen nach vorn. Er wollte nicht derjenige sein, der es zuerst aussprach, derjenige, der als Erster den Schritt über die Klippe zu einer irrationalen Erklärung tat.

Sie schluckte und sprach so leise, dass die angestrengt lauschenden Uniformierten jenseits der Tür sie nicht hören konnten: »Spontane menschliche Selbstentzündung.«

Die anschließende Stille zog sich hin, und Anya konnte nicht fassen, dass sie es tatsächlich ausgesprochen hatte.

Marsh deutete auf die offenen Fenster. »Das haben die Uniformierten auch gesagt. Und das würde auch die Presse sagen, wenn sie davon erfährt.« Er blickte auf das Loch im Teppich hinab, auf die Stelle, an der einmal ein Mensch gesessen und sich darauf gefreut hatte, sein Fertiggericht zu verspeisen. »Widerlegen Sie es. Finden Sie heraus, was wirklich passiert ist.«

Anya wippte wieder auf den Fersen. Ihre Kehle fühlte sich trocken an. Es war zu früh, auch nur Spekulationen anzustellen, und sie hasste es, gedrängt zu werden. »Sir, bisher habe ich noch nicht einmal angefangen, irgendeine Theorie zu entwickeln …«

»Finden Sie eine vernünftige Erklärung für das hier. Nehmen Sie sich so viel Zeit und Mittel, wie Sie brauchen, aber sorgen Sie dafür, dass das verschwindet.« Sein Blick wanderte zum Fenster und hinaus zu der dunkel werdenden Skyline. Irgendwo dort draußen heulte eine Sirene. »Detroit braucht nicht noch mehr Gespenster.«

Marsh hatte recht. Anya aber starrte auf die Asche und dachte, dass Marsh nicht einmal ansatzweise wusste, was dort draußen alles ungesehen durch die Stadt streifte. Wenn irgendjemand wüsste, was sie wusste … Sie unterdrückte ein Schaudern. Gewöhnliche Leute hatten keine Ahnung von dem, was sich hinter der Fassade Detroiter Normalität verbarg.

Anya gehörte nicht zu den gewöhnlichen Leuten, so sehr sie es sich auch wünschte.

Ihr Blick wanderte zurück zu Bernards Flaschensammlung. Wie es schien, hatte auch er nicht zu den gewöhnlichen Leuten gezählt.

Knatternde Stimmen kündeten von einem Streit an der Küchentür. Marsh lugte durch die schiefen Fensterläden hinaus. »Die Presse ist hier«, murmelte er.

»Jetzt schon?«

»Der Ü-Wagen ist gerade bei den Streifenwagen abgestellt worden. Jemand muss ihnen einen Tipp gegeben haben«, grollte Marsh und ging zur Tür. »Kümmern Sie sich um den Tatort. Ich befasse mich mit der Presse.«

Sie nahm ihre Kamera aus dem Koffer und richtete sie auf die Tür. Begleitet vom Geräusch des Verschlusses sammelte sie in dem Licht, das durch die Jalousien hereindrang, ihre Gedanken, während sie den Ort des Geschehens umkreiste. Sie schloss die Stimmen aus, die in den Raum hineinquollen, und lauschte auf das Knarren der von der Hitze verzogenen Bodenbretter unter ihren Füßen, während sie Jaspers Chaos näher in Augenschein nahm. Darauf bedacht, dass der Bildausschnitt jedes neuen Fotos sich mit dem des vorhergehenden überschnitt, verschlang das Objektiv ihrer Kamera die Bilder eines traurigen, gewöhnlichen Lebens: aufgestapelte Rechnungen; eine Wanduhr mit nachleuchtenden Ziffern, die leise tickend die Zeit herunterzählte; eine Rolle Briefmarken; ein Karton voller alter Schallplatten, deren Vinyl in der Hitze wellig geworden war.

Ganz zu schweigen von den außergewöhnlichen Dingen, die sie mit der Kamera verewigte. Anyas Blick wanderte über die kunstvoll emaillierte Terrakottafigur eines Foo-Hundes mit einer gebrochenen Pfote; über eine Reißverschlusstasche aus Plastik, die mit antiken Münzen gefüllt war. Ein Zauberstab aus Marienglas, so lang wie ihr Unterarm und so schmal wie ihr Finger, ruhte auf einem abgenutzten Schreibtisch und glitzerte im letzten Sonnenlicht. In einer filigranen silbernen Flasche, so groß wie ihre Hand, steckte ein Stopfen, der an einer angelaufenen Kette befestigt war. In Anyas geschultem Blick waberten diese Gegenstände unter ihrer Staubschicht, pulsierten unter den Mysterien der Äonen und der ihnen innewohnenden Magie.

Anya lugte durch die Lücke zwischen den Fensterläden. Auf der Straße konnte sie Marsh ausmachen, der sich drohend vor einem Mann mit einer Minicam aufgebaut hatte. Im Hintergrund spannten Polizisten ein gelbes Absperrband. Der Mann mit der Minicam gab sich unbeeindruckt, wenngleich Schweiß aus seinem gegelten Haar über seinen Nacken auf sein kostspieliges Jackett tropfte. Anya glaubte, in ihm einen der Sprecher der Abendnachrichten zu erkennen.

Der Reporter musterte die Jalousien wie ein Bluthund, der eine Bewegung erahnte. Anya zog sich in den Schatten des Raums zurück, doch erst, als die Jalousien über die Oberfläche des Fensterbretts scharrten.

In Häusern aus dieser Ära waren marmorne Fensterbretter noch weit verbreitet – weißer, von schwarzen Streifen durchzogener Stein. Aber etwas an dem Muster erregte ihre Aufmerksamkeit, und so zupfte sie sacht an der Schnur der Jalousie.

Eine dünne Salzspur war auf das Fensterbrett aufgebracht und von dem sanften Wind kaum berührt worden.

Anya setzte eine sorgenvolle Miene auf. Sie war keine Hexe, keine Magierin, aber sie erkannte einen Bann, wenn sie ihn vor sich sah. Bernard hatte sich davor gefürchtet, dass etwas Magisches in sein Haus eindrang … obwohl es im Haus bereits haufenweise magische Gegenstände gab.

Es würde eine Ewigkeit dauern, diesen Tatort zu untersuchen und eine Ahnung davon zu bekommen, welches dieser Dinge sich Bernards Kontrolle entzogen haben mochte … so weit entzogen, um seinen Tod herbeizuführen.

Das Objektiv auf die Decke gerichtet, schoss Anya ein Bild von der Glühbirne über der Couch. Die Glühbirne beunruhigte sie. Bei jedem normalen Feuer hätte die Hitze das Glas zum Platzen bringen oder es zumindest verformen müssen. Im Zuge einer Verformung hätte sich das Glas in die Richtung verdrehen müssen, in der die Hitze am stärksten war, die Richtung, in der sich der Zündpunkt des Feuers befand.

Aber diese Glühbirne hatte sich geradewegs abwärts in Richtung Couch verformt. Wie eine Schweißperle auf der Nase eines Läufers war ein Stück Glas mitten im Herabrinnen erstarrt und deutete nun direkt auf Bernards spärliche Überreste.

Doch dort konnte das Feuer nicht entstanden sein. Es konnte einfach nicht.

Anyas Finger verkrampfte sich über dem Auslöser der Kamera, während sie den schmierigen schwarzen Fleck aus allen erdenklichen Winkeln fotografierte. Die Decke besaß einen vagen Glanz, beinahe, als wäre sie frisch gestrichen, und Anya musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. In dem ganzen Haus war seit Jahren nichts gestrichen worden. Konnten das Reste eines Brandbeschleunigers sein? Irgendeine exotische Chemikalie, die nicht so sauber verbrannt war, wie es Benzin oder Propan getan hätten?

Der gleiche Glanz fiel ihr auf der Unterseite des Fernsehtischs auf. Blinzelnd musterte sie die Stelle, berührte sie. Sie war noch warm und roch nach Kerzenwachs und rohem Fleisch. Einigermaßen verblüfft erkannte sie, dass dies die Quelle des außergewöhnlichen Geruchs war, den sie beim Betreten des Hauses wahrgenommen hatte. Dieselben Rückstände, die auch die Küchenfenster bedeckten und sich wie ein Film über die verputzten Wände gelegt hatten. Doch es war kein Brandbeschleuniger, jedenfalls nicht im üblichen Sinne.

Fett. Es war Bernards verbranntes Körperfett, das verdampft war und sich auf die Umgebung niedergeschlagen hatte.

Anyas Magen geriet in Aufruhr. Von derartigen Dingen hatte sie bisher nur in Lehrbüchern gelesen. Das Phänomen nannte sich »Dochteffekt« und besagte, dass ein menschlicher Körper theoretisch stundenlang brennen und das Feuer durch sein eigenes Fett speisen könnte. Theoretisch.

Aber wo war der erste Funke hergekommen? Was konnte den Mann überhaupt in Brand gesetzt haben?

Ihr Blick glitt über den Teller mit dem nicht angerührten Essen und weiter zum Kamin. Es war ein Gebot der Logik, diesen Ort genauer in Augenschein zu nehmen. Sie ließ sich auf alle viere herab und richtete ihre Taschenlampe auf den Feuerraum. Durch die Handschuhe fühlten sich die Steine des Kamins kälter an als der Fernsehtisch, der näher an den Überresten des Mannes stand.

Nein, der Kamin war nicht die Brandquelle. Aber sie roch die bitteren Ausdünstungen von Magie, stärker als bisher. Nachdem sie den Zustand von Feuerraum und Abzug sorgfältig mit der Kamera dokumentiert hatte, nahm sie eine Zange aus ihrem Koffer und stocherte in der schwarzen Asche am Boden der Feuerstelle herum.

Hier war haufenweise Papier verbrannt worden. Fragmente flatterten unwiederbringlich davon. Anya war erstaunt, dass Bernard überhaupt je etwas entsorgt hatte. Was immer es gewesen war, seine Zerstörung musste ihm wichtig gewesen sein. Sie zupfte die Ecke eines Umschlags vom Feuerrost und musterte sie nachdenklich. Wie es schien, hatte Bernard sogar seine Werbepost gehortet. Mit einer Pinzette befreite sie einen grünen Papierfetzen aus den Resten des Briefumschlags.

Ein Scheck. Das Wasserzeichen war unverkennbar. In der linken, oberen Ecke war ein Schriftzug zu sehen: Wunder für die Massen. Und eine Adresse, die im Lagerhausbezirk von Detroit lag.

Sie legte die Fetzen in eine leere Farbdose, um sie dem Labor zur Analyse zu übergeben, und stocherte weiter in der Asche herum. Die Zange schlug gegen etwas, und sie hörte ein Klirren: Glas.

Anya zog den Hals einer zerbrochenen Flasche vom Kaminrost. Er war kohlschwarz und kleiner als der einer Weinflasche und besaß einen kunstvollen, silbernen Verschluss. Was immer sich im Inneren verbarg, war unter der verkohlten Schicht Oberfläche nicht erkennbar. Anya hielt die Bruchstelle ins Licht.

Sie hatte mit einem leeren Gefäß für Wasser oder Wein gerechnet. Vielleicht auch mit einem gläsernen Gefängnis für konservierte Knochenfragmente wie jenen auf dem Kaminsims. Doch als sie hineinsah, war es, als blicke sie in eine Druse: funkelnde Quarzkristallzähne, vom Feuer obsidianschwarz eingefärbt, schimmerten vor ihren Augen.

Etwas zuckte an ihrer Kehle. Anyas Hand glitt hinauf zu dem Metallreif um ihren Hals. In dem Metall regte sich etwas Warmes, löste sich von ihrer Haut. Zierliche Amphibienzehen spreizten sich und marschierten über ihre Schulter, als das Metall knisternd ein lebendes Wesen freigab. Sodann sprang ein Elementarwesen in Form eines Salamanders zum Kamin hinunter und knurrte die magiegetränkte Flasche im Feuerraum an. Seine Zunge schoss in den schwarzen Kaminraum, und er erglühte in einem bernsteinfarbenen Licht.

»Sparky«, zischte sie. Sie musste nicht befürchten, dass Marsh oder irgendjemand anderes ihn sehen könnte. Für gewöhnliche Menschen war Sparky unsichtbar, und es gab nur drei Gelegenheiten, zu denen Sparky sich die Mühe machte, wach zu werden: wenn etwas seinen übernatürlichen Marotten entgegenkam, wenn Geister in der Nähe waren oder wenn Gefahr drohte.

Anya schluckte. Als hätte sie es mit radioaktivem Abfall zu tun, legte sie die Überreste der Flasche auf den Kaminsockel. Sparky stolzierte auf sie zu, und seine fedrigen Kiemenwedel flatterten, während seine Zunge über die verkohlte Oberfläche schnellte.

Anya hielt den Atem an und beobachtete Sparkys Reaktion. Sie wusste, dass auch er die Magie witterte, aber sie wusste nicht, wie gefährlich diese zerbrochene Flasche tatsächlich war. Nach allem, was sie bisher herausgefunden hatte, mochte es sich um eine magische Zeitbombe handeln … eine Bombe, die Jasper Bernard hochgejagt hatte. Eine Bombe, die immer noch aktiv sein mochte.

Sparky machte kehrt und präsentierte dem Ding das gefleckte Hinterteil. Herablassend scharrte er mit den Hinterpfoten in der Asche, beinahe, als wäre er eine Katze, die ihre Hinterlassenschaften im Katzenklo verscharren wollte.

Anya verdrehte die Augen. Der Salamander konnte nicht sprechen, doch er schaffte es mühelos, sich Ausdruck zu verleihen. Vielleicht ging von der Flasche gar keine Gefahr aus; vielleicht ging es dem Elementargeist lediglich darum, sich bemerkbar zu machen und ihr auf die Nerven zu fallen.

Oder … Anya sah sich im Zimmer um, betrachtete erneut den öligen, schwarzen Fleck, der einmal Jasper Bernard gewesen war.

Dann sagte sie flüsternd: »Bist du immer noch hier, Bernard?«

Vielleicht hatte Sparky etwas ganz anderes wahrgenommen, das ihn aus dem Schlaf gerissen hatte. Vielleicht war Jasper Bernard nicht friedlich ins Jenseits übergetreten und hing immer noch hier herum. Sollte das der Fall sein, so könnte sie mit ihm reden und ihm die Wahrheit darüber entlocken, wie er es fertiggebracht hatte, sich in dieser Ebene der Existenz ganz einfach aufzulösen und nur seine Füße samt den Schuhen zurückzulassen.

Ein durchsichtiges Rund wallte in dem öligen Fleck auf: ein kahler Kopf mit bebrillten Augen. Anya bemerkte, dass die Brille auf einer Seite nur von einem Stück Isolierband zusammengehalten wurde.

»Jasper Bernard?«, fragte Anya mit leiser Stimme. Sie wollte ihn nicht erschrecken. Gerade erst Verstorbene waren gewöhnlich so schreckhaft wie Wildkatzen, und sie nahm an, dass Bernard da keine Ausnahme bildete. Sie fühlte, wie Sparky an der Rückseite ihrer Beine entlangglitt, und trat ihm auf den Schwanz, um ihn davon abzuhalten, auf den Geist zuzukriechen und ihn in die Flucht zu schlagen.

»Man nennt mich Bernie. Sie … Sie können mich sehen?«

»Ja, ich kann Sie sehen.«

Die phosphoreszierenden Augen zuckten nach rechts und links, und Panik machte sich in seiner Stimme bemerkbar. »Die Polizisten haben mich nicht gesehen. Die Feuerwehrleute haben mich nicht gesehen. Wieso können Sie mich sehen?«

Anya kauerte sich neben dem Fleck auf den Boden, und ihr war bewusst, dass Sparky angespannt neben ihr verharrte. »Ich bin eine Art Medium. Ich kann Geister sehen und mit ihnen reden.«

Bernie musterte sie prüfend aus zusammengekniffenen Augen. »Ich bin schon Medien begegnet. Sie sind mehr.«

Anya nagte an ihrer Unterlippe. Sie sollte Bernie nicht in Panik versetzen, aber sie hatte auch keine Zeit, sich eine plausible Lüge einfallen zu lassen. »Ich bin eine Laterne. Geister werden von mir angezogen.« Den anderen Teil ließ sie bewusst aus, den Teil, der besagte, dass es sie kaum einen Atemzug kosten würde, die verbliebenen Reste seines Geistes zu vernichten. Geister kamen zu ihr wie Motten zum Licht, und wenn es nötig war, dann verbrannte Anya sie zu Asche.

Die furchtsamen Augen musterten den Salamander über den Rand der Bifokalgläser hinweg. »Ist das das, was ich denke?«

»Äh … das ist Sparky. Er ist mein Freund.« Und mein Freund würde dich gern zum Mittagessen verspeisen.

Sparky knurrte den Geist an.

»Ein Salamander? Wie haben Sie es geschafft, so eine Kreatur zu zähmen?« Nun schlich sich ein neugieriger und leicht neiderfüllter Ton in die Stimme des Geistes.

»Ich, äh … ich habe ihn schon seit meiner Kindheit.« Auch hier erzählte sie ihm nicht die ganze Wahrheit, aber die musste Bernard auch nicht erfahren. Außerdem konnte man Sparky nicht ernsthaft als »zahm« bezeichnen. Anya beäugte ihn argwöhnisch. »Was wissen Sie über Salamander?«

Bernies Finger erhoben sich über den öligen, schwarzen Rückständen. »Ich bin so etwas wie ein Sammler.«

Anya sah sich zu den Flaschen auf dem Kaminsims um. »Ein Sammler?«

»Ich handle mit magischen Artefakten.«

Beschützerisch schob Anya eine Hüfte vor Sparky. »Darum stinkt es hier so nach Magie.«

Hochmütige Brauen ruckten über der Brille aufwärts. »Mein Haus stinkt nicht.«

»Bernie.« Anya kauerte sich vor den Geist und achtete darauf, den öligen Fleck nicht mit den Knien zu berühren. Bernie hatte die Erkenntnis seines Todes möglicherweise noch nicht gänzlich verdaut, und sie wollte die Überreste seiner Persönlichkeit nicht ins Trudeln bringen, ehe sie ihm einige nützliche Informationen entlockt hatte. »Ist Ihnen so etwas zugestoßen? Schadmagie?«

»Ich erinnere mich an … Feuer.« Bernies Unterlippe sackte herab und glitt allmählich von seinem Gesicht. Die Wucht der Erinnerung sorgte dafür, dass der Geist sich Stück für Stück auflöste.

Sie musste schnell handeln. »Erinnern Sie sich, was das Feuer ausgelöst hat?«, drang Anya in ihn. »Haben Sie etwas im Kamin verbrannt. Haben Sie geraucht?«

Trotz Bernies Beschäftigung mit magischen Objekten riet Anyas Erfahrung ihr, zunächst nach einer banalen Erklärung zu suchen.

Der Geist schüttelte den Kopf. »Das war nicht ich. Das war sie.« Die Augen hinter der Brille verdrehten sich aufwärts. »Moment. Wenn Sie mich sehen können, kann sie mich dann auch sehen?«

»Wer?«

Geisterhafte Finger erschienen am Rand des Brandflecks, und Bernie blickte zur Decke hinauf. »Oh, Scheiße …«

Die Decke öffnete sich, und ein Luftwirbel schraubte sich hinab, kalt wie der Odem des Winters. Der Wirbel berührte nichts von der physischen Umgebung, sondern griff direkt nach Bernie, so sicher wie ein Kind, das in einer Spielzeugkiste nach seinem Lieblingsteddy suchte. Wie eine Marionette an ihren Fäden wurde Bernies geisterhafter Leib aus dem Boden gezerrt. Sein geisterhafter Körper, angetan mit Pyjama und einem Chenillehausmantel, schlug um sich, wehrte sich gegen die unsichtbare Kraft.

Anya stürzte voran und griff instinktiv nach dem Geist. Sparky packte knurrend Bernies Hosenbein mit den Zähnen. Der Salamander zog mit aller Kraft an ihm, bemühte sich, Bernie auf dem ruinierten Boden festzuhalten. Aber der alte Mann stieg auf wie ein mit Helium gefüllter Ballon, und Anya wusste nicht, wie lange sie ihn noch würden halten können. Ein säuerlicher, magischer Geruch, der an verdorbene Milch erinnerte, löste einen Würgereiz in ihrer Kehle aus.

Bernie trat in der Luft um sich, und seine Finger verkohlten. Geisterhafte Flammen züngelten unter dem Kragen seines Hausmantels, und der Chenillestoff ging in Flammen auf.

»Lassen Sie nicht zu, dass sie das Gefäß findet!«, brüllte Bernie.

Der Artefakthändler wurde Sparkys Zähnen entrissen und verschwand zischend im Äther. Das Loch in der Decke schloss sich und hinterließ dröhnende Stille im Raum.

Anya landete verdattert mit dem Hintern auf dem fleckigen Teppich. Eisige Luft entströmte ihrem Mund. Sie hatte in ihrem Leben schon Geister gesehen, die sich aufgrund eines Exorzismus aufgelöst hatten oder auch aus eigenem Antrieb, wenn sie beschlossen, ins Jenseits überzutreten. Aber etwas wie das, was soeben passiert war, etwas so Gewaltsames, hatte sie noch nie erlebt. Der Geist war verschluckt worden wie eine Ameise von einem Staubsauger, aber … wohin?

»Bernie«, rief sie im Dämmerlicht des Raumes.

Niemand antwortete.

Sparky watschelte zu dem Fleck auf Bernies kaputtem Teppich, umkreiste ihn zweimal und begann, mit den Hinterpfoten zu scharren, als wollte er etwas Totes verbuddeln.