KAPITEL NEUNZEHN
Die Hölle war nicht ganz das, was Anya sich darunter vorgestellt hatte.
Als sie auf die andere Seite des Tores trat, nahm sie eine spürbare Veränderung der Atmosphäre wahr. Zuerst glaubte sie, eine Art Druck auf den Ohren zu verspüren, doch wie sehr sie sich auch bemühte, sie bekam die schwere, dichte Finsternis nicht aus ihrem Helm. Es fühlte sich … klebrig an, so als hätte die Luft, die durch ihre Kehle in ihre Lunge drang, eine zusätzliche Viskosität. Es war zäh wie der Schlamm, der an ihren Füßen klebte, so als würde der Styx mit seinen Wasserfingern tief in den Tunnel hineinreichen.
»Urgh«, machte sie. Sie hatte einen Geschmack im Mund, als würde sie Aluminiumfolie kauen.
»Nach einer Weile gewöhnst du dich daran«, sagte Charon. Sie konnte ihn nicht sehen, aber seine Stimme klang sehr nahe. Wie lange eine »Weile« nach seinen Maßstäben dauerte, mochte sie nicht fragen.
Die Salamander krabbelten nach ihr durch das Gitter und drängelten sich hinter ihren Beinen. Sparky schmiegte sich mit zuckenden Kiemenwedeln an sie. Die Kreaturen verbreiteten ein warmes, bernsteinfarbenes Licht, das die grob behauenen Wände eines Tunnels mit einer niedrigen Decke aus dem Dunkel schälte, einer Decke, so niedrig, dass Anya beinahe mit dem Helm dagegenstieß, wenn sie aufrecht ging. Von Charon sah sie kaum den Rücken. Sein schwarzer Mantel verschmolz regelrecht mit den Schatten. Kurz drehte er den Kopf und deutete mit dem Kinn auf den weiterführenden Tunnel.
»An Hopes Stelle würde ich einen Ort suchen, an dem ich die Büchse der Pandora sicher verstecken kann.«
»Die Hölle scheint mir ein geeigneter Ort dafür.«
Charon drehte sich um und bedachte sie mit einem schiefen Grinsen. Anya zwang sich, nicht vor ihm zurückzuweichen. Seine Augen glühten immer noch in bioluminszentem Blau, eine unmenschliche Farbe in der Düsternis. »Sie muss einen Möglichkeit finden, die Büchse in deiner physischen Welt zu verstecken. Aber das Ding wirkt auf den spirituellen Ebenen wie ein Signalfeuer. Sie muss sie an einen Ort bringen, an dem sie sie problemlos verteidigen kann, einen Ort, den nur wenige Leute – oder Geister – freiwillig aufsuchen würden.«
»Äh …« Anya reckte eine Hand hoch. »Frage: Ich verstehe, warum Hope die Büchse der Pandora hier verstecken will … aber, wenn das hier die klassische Unterwelt ist, gibt es dann nicht auch einen Hades, der es ihr übelnehmen könnte, wenn sie sein Territorium für ihre Zwecke missbraucht?«
Charon presste grimmig die Lippen zusammen. »Die Unterwelt ist groß. Und die Götter der Unterwelt müssen sich um allen möglichen Mist kümmern – du würdest dich wundern, wie aufwendig allein die Verwaltung ist. Die versicherungsmathematische Abteilung allein belegt ein Gebiet von der Größe von Manhattan. Dann und wann entgeht ihnen dabei auch mal irgendein Scheiß. Und Hope ist so ein Scheiß.«
»Willst du mir erzählen, die Hölle ist im Grunde eine weitgehend unbewegliche Bürokratie?«
»So ziemlich. Ihr Menschen bringt es auf ungefähr hundertfünfzigtausend Todesfälle pro Tag. Das erfordert einen riesigen Verwaltungsaufwand, bei dem nicht mehr viel Zeit bleibt, um irgendwelche Megalomanen zu verfolgen, die Geisterflaschen durch die Gegend schleppen.«
»Schiebt ihr Überstunden?«
»Nein.« Sein Mund verzog sich zu einem vagen Lächeln. »Aber die hohen Tiere werden bestimmt nicht glücklich darüber sein, dass Hope versucht, es sich in ihren Gefilden bequem zu machen. Sie waren nicht erfreut über ihr Verhalten in der physischen Welt, und wenn sie erfahren, dass sie in die Unterwelt gegangen ist – auch wenn es nur um eine so abgelegene Provinz wie diese geht –, dann werden sie stinksauer.«
Anya verschränkte die Arme vor der Brust. »Und warum können wir es dann nicht jemandem, der höher in der Nahrungskette steht, überlassen, sich mit ihr zu befassen?«
»Bis das passiert, ist sie vielleicht stark genug, um die Macht zu übernehmen.«
»Was?«
»Du hast mich doch gehört. Die Büchse der Pandora ist kein Spielzeug. Sie kann Tausende von Geistern fassen. Sie kann sich ein ziemlich großes Stück der spirituellen Welt abstecken, mehr als die meisten Avatare.« Charon lächelte freudlos. »Hier steht weit mehr auf dem Spiel als nur du, ich, die Salamander und die Museumsgeister.«
»Ich …«, setzte Anya an, als eine Bewegung am Ende des Tunnels ihre Aufmerksamkeit erregte. Etwas flackerte in der Dunkelheit.
Sparky kauerte sich auf den Boden und peitschte fauchend mit dem Schwanz hin und her. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Charon die Kette von seinem Arm abwickelte und locker in einer Hand hielt, sodass das andere Ende über den Boden ratterte.
Anya reckte das Kinn und wich nicht von der Stelle. Die Minimolche, die gerade noch wie Popcorn um sie herum gehüpft waren, hockten wie erstarrt da und stierten in das Dunkel.
Anyas Entschlossenheit schwand, als sie den Geist erblickte.
Leslie schwebte in ihrem Bademantel in Sichtweite. Ihre Füße schienen den Boden kaum zu berühren, als sie durch den Tunnel glitt. Während sie mit verwirrter Miene, die Hände in den Taschen vergraben, heranschwebte, prallte sie immer wieder gegen die Wände.
Anyas Kehle schnürte sich zu. Leslies Geist musste einer von denen sein, die noch in der Phiole gefangen gewesen waren, die Hope um den Hals trug.
Einer der Molche lief ihr entgegen, um sie zu beißen.
»Nein«, knurrte Anya, und der Molch verzog sich bekümmert hinter ihre Beine.
Anya trat vor. Charon packte sie am Arm, aber sie schüttelte ihn ab. »Du kannst Geistern hier unten nicht trauen … und sie können dich verletzen.«
»Leslie …«, sagte sie.
Leslie blinzelte Anya an und schwebte näher heran. Verwirrt neigte sie den Kopf.
»Leslie, ich bin es, Anya. Erinnern Sie sich an mich?«
Der Geist tänzelte noch näher heran und musterte ihr Gesicht.
Sparky knurrte drohend.
Anya leckte sich die Lippen. »Leslie, wissen Sie, wo Sie sind?«
Plötzlich riss Leslies Geist die Hände aus den Taschen. Anya erhaschte einen Blick auf die scharfen Kanten eines Metallgegenstandes in ihrer Faust, kurz bevor das Metall aufblitzte und gegen ihre Rüstung stieß.
Anya stolperte zurück, fiel. Die Erkenntnis, dass Geister sie auf dieser Ebene tatsächlich verletzten konnten, machte ihr immer noch zu schaffen. Dies war die Welt der Geister, und alles lief hier nach ihren Regeln. Leslie war mit Messern bewaffnet. So ausdruckslos ihre Züge auch nach wie vor waren, so unverkennbar agierten ihre Hände mit einer klaren Absicht.
Hopes Absicht. Das Miststück wusste, dass sie hier waren.
Die Salamander drängelten sich wie eine orangefarbene Flut hinter Anya. Sie schrie die Kleinen an, sie sollten stehen bleiben, aber sie schwärmten aus wie Heuschrecken.
»Alles in Ordnung?«, fragte Charon und sammelte Anya vom Boden auf.
»Ja.« Sie tastete nach Rissen in ihrer Rüstung. »Sie …«
»Sie steht unter Hopes Kontrolle. Dagegen können wir nichts tun.«
Der Geist, noch immer bewaffnet, schlug um sich. Sparky rannte ihn einfach um, riss ihn von den geisterhaften Füßen. Die Molche stürzten sich auf Leslie und begannen knurrend mit den Zähnen an ihr zu zerren. Sie schlug in weitem Bogen mit den Messern nach ihren Angreifern, erreichte aber wenig.
Anya wandte den Blick ab. »Es muss eine andere Möglichkeit geben«, beharrte sie. Tränen brannten in ihren Augen. Leslie war unschuldig gewesen.
»Die einzige Möglichkeit, den Bann zu brechen, besteht darin, das Gefäß zu zerbrechen!«
Jenseits der wütenden Fressgeräusche hörte sie von Ferne ein Seufzen und Kratzen in den Tunnel vordringen. Ihre Nackenhaare sträubten sich. Ein Blick auf Charons Gesicht verriet ihr, dass Leslie nicht allein gewesen war, dass die anderen Geister unter Hopes Kontrolle unterwegs zu ihnen waren.
Die Salamander, gefangen in einem gustatorischen Delirium, blickten mit zuckenden Kiemenwedeln auf. Sie konnten die Neuankömmlinge riechen. Sie witterten die näher kommenden Geister ebenso wie die Jagdlust. Sogar Sparky wandte sich mit erwartungsvollem Schwanzwedeln der Dunkelheit zu.
Anya unterdrückte ein Schluchzen und baute sich neben Sparky auf. Charon hatte recht: Sie hatten keine Wahl. Nun, da sie diesen Pfad einmal eingeschlagen hatte, musste sie ihn auch zu Ende gehen.
Sie öffnete die Hände, als die erste Woge Geister um eine Tunnelbiegung kam, und sie fühlte, wie sich der finstere Abgrund in ihrer Brust öffnete, wie er erblühte und nicht minder hungrig knurrte, nicht minder fiebernd als die Salamander, die hinter ihr an dem Ektoplasma nagten.
»Kommt schon«, forderte sie die Geister heraus.
Der Tunnel war eng genug, die näher kommenden Geister zu zwingen, maximal zu dritt Schulter an Schulter zu marschieren. Die erste Reihe war Anya vertraut: Sie erkannte den Samuraigeist aus dem Museum und einen seiner Kameraden. Und Bernie. Der Geist des bebrillten Artefakthändlers in seinen Pantoffeln passte so gar nicht zu den behelmten Kriegern, abgesehen von der Waffe in seiner Hand. Anya erkannte in ihr das Schwert, das von seinem Kaminsims verschwunden war. Das bernsteinfarbene Licht der Salamander funkelte auf den Klingen und Rüstungen der Geisterkrieger, die auf ihre Gegner zurückten.
Die Salamander griffen zuerst an. Die Molche bewegten sich knapp unterhalb der Reichweite der Schwerter. Fauchend kletterten sie auf Fußgelenke und Waden. Die Samurai versuchten, sich an den Rücken zu greifen, als die Salamander sich unter die Schnürbänder ihrer Rüstungen gruben. Derweil versuchte Sparky, ihre Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, indem er bei ihren wenig zielgerichteten Stößen und Paraden nach den Waffen schnappte.
Ein Molch wurde von der Seite einer Klinge zurückgeschleudert und landete vor Anyas Füßen, wo er jämmerlich und angeschlagen maunzte. Anya bückte sich, um die Kreatur aufzuheben, als deren bernsteinfarbene Aura zu flackern begann. Auf der Suche nach Trost kroch sie an Anyas Arm herauf und verkroch sich im Rand ihrer Rüstung an ihrem Hals. Anya spürte ihren schwachen Atem, und sie fühlte, wie warmes Ektoplasma auf ihre Brust sickerte.
Zorn brodelte in ihrer Kehle, und sie schlug nach den Geistern. Sie breitete die Hände aus und versuchte, den Geist, der ihr am nächsten war, zu verschlingen.
Auf der physischen Ebene zeigte sich diese Fähigkeit oft auf subtile Weise. Die meisten Zuschauer sahen ebenso wie Anya selbst kaum mehr als das fahle Flackern ersterbender Energie, wenn sie einen Geist verschlang. Aber hier konnte sie die ganzen, furchtbaren Auswirkungen dessen sehen, was ihr zuvor wie eine recht einfache Sache erschienen war.
Ein Samuraigeist drehte sich mit erhobenem Katana zu ihr um. Als bestünde er aus Zigarettenrauch, begann er nun an den Rändern auszufransen, und wurde auseinandergerissen wie eine Pusteblume vom Atem eines Kindes. Als sie inhalierte, fühlte sie kalten Rauch durch ihre Kehle gleiten und sich in der Tiefe ihrer Lunge sammeln. Er schmeckte nach Staub. Der Geist heulte, als er zerfetzt und verschlungen wurde.
Neben ihr schwang Charon Kerberos’ Leine über dem Kopf. Mit einem verstörenden Rasseln traf sie die Kehle des anderen Samurai. Charon zog ihn zu sich heran und riss ihm einen Molch aus der Hand, während Sparky sich im Schwertarm des Samurai verbiss. Der Fährmann versetzte dem japanischen Krieger einen gemeinen Tritt gegen die Rüstung, der ihn unter lautem Klappern zurücktaumeln ließ. Die Kette löste sich. Charon holte wieder aus und schlug erneut zu, hart genug, ihm den Helm vom Kopf zu reißen. Gleichzeitig stürzte sich Sparky auf den Geist, um ihm die Kehle herauszureißen. Als der Samurai zu Boden ging, verblasste er wie ein überbelichtetes Foto, ehe er sich endgültig in der Dunkelheit auflöste.
Bernie, der mit beiden Händen unbeholfen das Schwert umklammerte, stellte sich Anya in den Weg. Er holte aus, schlug zu, und sie wehrte den Hieb mit dem gepanzerten Ellbogen ab.
»Tut mir leid, Bernie.« Anya packte sein Handgelenk, und ihr Atem rasselte in ihrer Kehle. Sie fühlte, wie das Ektoplasma, aus dem Bernies Geistergestalt geschaffen war, in ihrem Griff so weich wurde wie Wachs in der Sommersonne.
Bernie heulte. Das Schwert fiel klappernd zu Boden. Anya ließ nicht nach. Und sie ließ auch nicht nach, als ihre Finger und ihr Atem sich durch seine Haut fraßen. Er schmeckte nach Kohle und allerlei verbrannten Dingen, als er sich in ihrer Kehle auflöste.
Eine zweite Reihe Geister drängte bereits hinter der ersten heran. Anya erkannte die bestickten Röcke der böhmischen Mädchen aus dem Museum, deren Hände in der Nähe ihres Gesichts durch die Luft schlugen.
Anya griff nach ihnen, griff nach ihnen mit ihren Händen und der schwarzen Leere in ihrer Brust. Zart wie Schmetterlinge flatterten sie in ihren Hals und lösten sich schreiend auf. Hunderte von Jahren gelebter Geschichte verstummten in einem Atemzug.
Ein Atemzug.
Und noch einer.
Sie griff nach den Geistern, die Molche schwebten vor ihr wie eine orangefarbene Feuerwand. Von links hörte sie das Rasseln von Charons Kette, von rechts Sparkys Knurren. Und sie griff nach den Geistern in der nächsten Reihe.
Einige kannte sie. Einige nicht. Sie erkannte Katies prachtvollen Ägypter; er zerfiel wie Sand, als sie ihn berührte, schmeckte wie Myrrhe, als sie ihn verschlang. Sparky zerfleischte einen Mann in der Uniform eines Postboten. Briefe flatterten aus seinem Postsack wie weiße Vögel aus dem Zylinder eines Zauberers, nur um sich gleich darauf in Schwärze aufzulösen. Der verrückte Alte aus dem Museum kraxelte auf Anya zu und schwang drohend seinen Stock. Anya ballte die Fäuste und duckte sich. Obwohl seine Augen trüb waren, erkannte sie einen Funken unabhängiger Willenskraft an ihm. Aber vielleicht war es auch nur Wahnsinn.
»Ischtar«, fauchte er. »Hüte dich vor Ereschkigals Gift.«
Anya runzelte die Stirn. Der alte Mann lebte immer noch in der Welt seiner Mythen. Er schlug erneut mit seinem Stab nach ihr. Anya wehrte ihn ab. Als sie ihn verschlang, schmeckte sie etwas Bitteres, beinahe wie frische Erde und Zwiebeln.
Immer weiter drang sie vor und verschlang Geist um Geist. Aber sie konnte sich des Gefühls nicht erwehren, dass die Luft immer dicker wurde, dass sie immer flacher atmete. Ihre Lunge schmerzte, als sie sich durch die Geister arbeitete und sie auseinanderriss wie Zuckerwatte. In der physischen Welt verschlang sie vielleicht zwei Geister im Monat – hier waren es mehr Geister als in ihrem ganzen Leben. Und sie fühlte, wie ihr Körper anfing, sich zu wehren, wie er unter der Anstrengung zu schmerzen begann.
»Anya!«
Charons Stimme traf sie wie ein Peitschenschlag, und sie drehte sich um, aber sie reagierte einen Moment zu spät. Etwas prallte auf ihre Rüstung und schleuderte sie zu Boden wie eine Blechbüchse. Der Geschmack von Blut lag auf ihrer Zunge.
»Was zum Teufel …?«, ächzte sie, hielt sich die Schulter und drehte sich zur Seite, nur um Charons Stiefel direkt neben ihrem Kopf zu erblicken.
Sein Körper zuckte, während er über ihr stand, und sie konnte ihn murmeln hören: »… zwei, drei …«
Als sie an ihm vorbeiblickte, erkannte sie die Wachmänner aus dem Museum, die, wie im Leben, mit Schusswaffen ausgestattet waren. Charon zählte die Schüsse, als sie näher kamen, Schüsse, die seinen Mantel zerrissen. Die Kugeln waren auf dieser Ebene erschreckend real und bohrten sich in Charon.
Anya keuchte und streckte die zu Klauen verkrümmten Hände vor sich, um die Geister zu vernichten.
»… vier, fünf …« Charon stolperte.
Die Männer hatten mindestens sechs Schuss pro Revolver. Ganz gleich, wie viele Bäder Charon im Styx genommen hatte, er würde nicht standhalten.
Sie sog den ersten Wachmann in ihre Kehle und wäre beinahe an ihm erstickt. Ihre Brust füllte sich bedrohlich, und sie plagte sich, hustete, als sie den zweiten verschlang. Und noch mehr Geister traten in den Tunnel und füllten die Lücke, die die Wachmänner hinterlassen hatten. Molche schwärmten in der Dunkelheit aus, aber die Reihen der Geister schienen sich bis in weite Ferne zu erstrecken, und Anya entging nicht, dass nicht mehr so viele Molche da waren wie zu Beginn des Kampfes. Eine Erkenntnis, die ihr die Kehle zuschnürte.
Charon fiel auf die Knie, die Arme auf Brusthöhe um den Leib geschlungen. Anya strich ihm das kraftlose Haar aus dem Gesicht. »Alles in Ordnung?« Eine verdammt dumme Frage, wenn man sie einem Mann stellte, auf den geschossen worden war.
»Ja.« Rasselnd holte Charon Luft und tastete nach der Beule in Anyas Rüstung. »Und bei dir?«
»Ich bin okay.« Die Rüstung hatte die Kugel abgefangen, dennoch würde das Projektil einen höllischen Bluterguss hinterlassen. Außerdem fühlte sie etwas Heißes, Klebriges, das unter ihrer Rüstung zu ihrer Handfläche hinabrann.
Sie zog Charon auf die Beine. Sparky tauchte neben ihm auf, um einen Teil der Last zu übernehmen.
»Wir müssen ihre Aufstellung durchbrechen«, knurrte er. »Wir müssen an dem Flaschenhals vorbei.«
Anya nickte und wandte den Kopf ab, um in ihren Ellbogen zu husten.
Charon packte ihren Arm, und Anya erkannte, dass ihre glänzende Rüstung mit Blut befleckt war.
»Wie viele Geister hast du verschlungen?«, verlangte Charon zu wissen und legte ihr eine Hand an die Stirn, als wäre sie ein fieberndes Kind.
»Ich weiß es nicht …«
Charon riss die Riemen ihrer Rüstung auf und öffnete den Brustharnisch.
»Was zum Teufel bildest du dir eigentlich ein?« Anya versuchte, ihre Blöße zu bedecken, obwohl sie sich kaum gegen den Drang wehren konnte, ihn zu schlagen. Sie spürte die kalte Luft auf ihrer Haut.
»Scheiße!« Charon starrte aus blau glühenden Augen auf ihre Brust.
Anya blickte an sich herab und hätte sich beinahe übergeben.
Wenn Anya einen Geist verschlang, so hinterließ er in der physischen Welt ein Brandmal. Die Wunden heilten irgendwann, üblicherweise nach ein paar Wochen, und sie hinterließen nur selten Narben. Aber dieser Kampf gegen Dutzende von Geistern hatte ihre Brust in eine blutige, schwarze Fläche verwandelt. Sie sah aus, als hätte jemand sie mit einer Lötlampe bearbeitet. Ihre Haut fühlte sich unter ihren Fingern taub an. Und darunter … sie konnte beinahe die Schwärze berühren, die sich von Geistern ernährte.
»Du brennst aus.« Charons Blick traf sengend auf ihre Augen. »Laternen können nur eine bestimmte Menge Geister verzehren, ehe sie ausbrennen.«
»Warum hast du mir diesen Mist nicht früher erzählt?«, verlangte sie zu erfahren.
»Ich dachte, du kennst deine Grenzen.« Jetzt wirkten seine Augen eisig, anklagend.
»Ich verspeise diese Wichser nicht zum Frühstück.« Jetzt begriff sie, was der alte Mann gemeint hatte – die Geister waren Gift für sie. Zu viele, und …
Charon sah sich über ihren Kopf zu den Molchen um. Sie hielten die Stellung, aber es war nur eine Frage der Zeit, wie lange noch. »Wir müssen eine Möglichkeit finden, uns zurückzuziehen.«
Anya schüttelte den Kopf und fummelte an den Verschlüssen ihres Brustharnischs herum. Sparky schlängelte sich besorgt um ihre Beine. »Nein. Wir kämpfen weiter.«
Charon musterte sie finster. »Wir machen es so: Die Molche und ich treiben einen Keil in ihre Mitte. Du bleibst hinter uns. Wenn wir das Ende der Reihen erreicht haben, dann wagst du einen Ausfall und schnappst dir Hope. Sparky gibt dir Deckung.«
Sparky klopfte mit dem Schwanz auf den Boden. Anya hoffte, er machte sich Notizen.
Ein Heulen und Klagen erfüllte den Tunnel.
»Scheiße«, fluchte Anya. Das konnte nur Pluto sein.
»Legen wir los.« Charon spannte die Kette zwischen den Händen. Sparky fiel neben ihm in Schritt, und die beiden marschierten auf den Flaschenhals zu. Anya hob Bernies Schwert auf, das neben einem Molch gelegen hatte, der gerade verblasste wie eine Rauchfahne im Wind. Charons Kette peitschte durch das Getümmel, und Sparky stürzte sich ins Gefecht. Anya blieb hinter ihnen und schlug mit dem Schwert nach Angreifern, die sich durch den Zwischenraum zwischen den beiden schlängelten.
Weiter vorn sah sie Pluto wüten. Gallus klammerte sich im Sattel fest. Das Geisterpferd rollte mit den Augen und hatte Schaum vorm Maul. Das Ende von Charons Kette wickelte sich um den Pferdehals, und der Fährmann zog mit aller Kraft.
Das Pferd kämpfte, schwankte im Getümmel der Geister und krachte mit einem bestialischen Aufschrei zu Boden.
Gallus hackte sich den Weg aus dem Durcheinander aus verdrehten Geisterkörperteilen und Zaumzeug frei und heulte: »Du hast mein Pferd getötet!« Tränen glitzerten in den Augen unter dem Helm. Er hob sein Schwert, um Charon zu köpfen, dessen Hände immer noch von der Kette umwickelt waren.
Anya stieß Bernies Schwert zwischen die beiden Kämpfer und wehrte Gallus’ Hieb unbeholfen ab.
Molche klammerten sich an Gallus’ Hals und nagten an seinen Schultern, doch er schrie nur: »Das war mein Pferd! Pluto war zweitausend Jahre lang mein Pferd …«
Tiefes Mitgefühl wallte in Anya auf, und sie streckte die Hand aus, um Gallus’ tränennasse Wange zu berühren.
Dann atmete sie ihn ein, mit demselben Atemzug, mit dem sie das verwundete, verdrehte Pferd einatmete. Sie bemühte sich, sanft zu sein, und sie fühlte, wie die beiden sich in ihrer Lunge vermischten, rauchig, moschusartig, für alle Zeiten aneinander gebunden …
Sie lächelte traurig. Der kalte Odem der Geister erfasste ihren Hals, lähmte ihre Lunge. Sie konnte nicht mehr einatmen. Konnte nicht ausatmen. Sie fühlte sich, als würde sie ertrinken, konnte nichts hören außer dem Echo des Blutes, das in ihrem Helm pulsierte. Dann spürte sie den Schmerz der Geisterverbrennung, der ihre Brust hinauf und durch ihre Kehle kroch und ihr die Stimme verschlug.
Charon hielt sie an den Armen und brüllte sie an. Er schüttelte sie so heftig, dass sich der Helm rasselnd löste und von ihrem Kopf fiel.
Aber das Donnern des Blutes war lauter. Sie fühlte das Gift der Brandwunde, das sich über ihr Gesicht ausbreitete, ihre Sinne betäubte und sich wie ein schwarzer Film über ihr Blickfeld legte.
Das Letzte, woran sie sich erinnerte, war, dass sie über Charons Schulter fiel, während Sparky sich an ihre Beine klammerte.