KAPITEL SECHZEHN
Die Welt wurde schwarz.
Dann stülpte sie ihr Inneres nach außen und öffnete sich.
Anya fühlte sich schwerelos und warm, so als würde sie dösend in warmem Badewasser liegen. Sie schlug die Augen auf und fand sich über der Badewanne schwebend wieder, Nase an Nase mit dem eigenen Gesicht.
Erschrocken trat sie nach hinten aus. Wie eine ungeübte Schwimmerin in einem Pool mühte sie sich zurück und schaffte es schließlich, ihre Füße auf den Boden zu bringen. Aber der Druck fühlte sich verändert an; schwerer als gewohnt. Sie blickte hinab. Sparky saß schwanzwedelnd neben ihr auf dem Boden. Er strahlte in reinem, bernsteinfarbenem Licht, viel stärker, als er es auf der physischen Ebene tat. Die Sprenkel und Flecken auf seinem Körper brodelten weiß und orange, flackerten auf seiner Haut wie der Flammenschein eines Feuers.
Anya schaute an sich herab.
Sie war nicht sie selbst. Ihre Hände waren mit flexiblen Kupferschuppen überzogen, die sich wie eine segmentierte Ganzkörperrüstung überall über ihren Leib zogen. Sie trug einen polierten, grell glänzenden Brustpanzer. Und wie Ciro gesagt hatte, führte ein durchscheinendes, silbernes Band von ihrem Nabel zu dem reglosen Körper in der Badewanne. Sie tastete an sich herauf und entdeckte einen Helm, der ihren ganzen Kopf bedeckte und sich nahtlos an die Rückseite des Schädels anschloss.
»Willkommen in deinem astralen Ich.«
Anya drehte sich um. Charon stand auf dem Boden, die Hände in den Taschen vergraben. Er sah beinahe genauso aus wie als Geist – ein Rocker in der falschen Zeit –, aber er war von einer grauen Aura umgeben, die sich an den Rändern auflöste wie Rauch. In dem nebelhaften Schein brannten seine Augen in einem kalten Blau.
Anya hielt ihre kupfernen Hände ins Licht. »Ich hab mich schon einmal so gesehen. Ein einziges Mal.« Damals war die Kupferrüstung aus ihrem Salamanderreif hervorgeschossen, um sie vor dem feurigen Atem Sirruschs, des Königs der Salamander, zu schützen. Das war der Atem gewesen, der Drake, ihren Liebhaber, umgebracht hatte.
»Die astrale Ebene zeigt die Leute, wie sie wirklich sind. Philosophisch gesagt: ›Wie innen, so außen‹.« Charon nickte. »Aber ich muss zugeben, das ist sehr beeindruckend.«
Anya beugte sich über den Rand der Wanne, und Panik ergriff Besitz von ihr. Die Eier waren fort.
»Die Eier!«, schrie sie.
»Du trägst sie bei dir«, antwortete Charon und zeigte auf einen Perlengürtel an ihrer Taille. Als Anya genauer hinsah, erkannte sie, dass der Gürtel aus den winzigen Eiern bestand, die zu einem Gurt zusammengewoben schienen. Als sie sie berührte, fühlte sie die Hitze, so heiß wie glühende Kohlen.
»Ich weiß nicht, was du bist, aber du siehst mordsmäßig gut aus. Du glänzt so.« Renee saß auf dem Barhocker und taxierte sie ausgiebig. In dieser Welt war Renee in ein glutvolles, rosarotes Licht gehüllt und von Lilienduft umgeben.
»Du kannst mich sehen?«, fragte Anya.
»Natürlich, Schätzchen.« Dann sah sie sich argwöhnisch zu Charon um. »Und den sehe ich auch.«
»Keine Sorge«, sagte Charon. »Ich werde dich nirgends hinbringen.«
Renees hauchzarte Brauen sanken herab, und ihre Wimpern flatterten. »Gut. Jemand muss hierbleiben und auf den alten Mann aufpassen.«
Sie deutete auf Ciro. Erst in diesem Moment begriff Anya, dass nicht nur sie anders war in dieser siderischen Welt. Es war die Welt selbst und alles, was in ihr war.
Die Lebenden im Raum schienen an Ort und Stelle festgewachsen zu sein, so, als liefe die Zeit für sie langsamer, und sie waren sich Anyas Präsenz nicht bewusst. Ihre Konturen waren verschwommen, und Anya konnte Licht sehen, das jeden von ihnen umgab. Ciro war in einen weißen Schimmer gehüllt, der flackerte wie eine Glühlampe kurz vor dem Erlöschen. Als sie ihm näher kam, meinte sie beinahe, sie würde es zischen hören.
Katie stand da, in eine Diskussion mit den anderen verwickelt, und erblühte in einem heiteren, türkisfarbenen Feuer. Jules gestikulierte neben ihr, sagte etwas, und war umgeben von einem strahlenden, goldenen Licht, das Anya sonderbar tröstlich empfand. Max, gleich neben ihm, erstrahlte in einem knisternden, orange-goldenen, dynamischen Leuchtfeuer.
Brian stand mit vor der Brust verschränkten Armen ein wenig abseits. Anya streckte die Hand aus, um ihn zu berühren. Während die anderen in hellen, lebendigen Farben leuchteten, war seine Aura trüb. Grüne und schwarze Flecken verpufften in einem wirbelnden, chaotischen Durcheinander. Als sie seine Haut berühren wollte, glitt ihre Hand einfach hindurch, als wäre sie ein Gespenst.
Charon legte Anya eine Hand auf die Schulter, und sie erschrak. Sein Griff fühlte sich fest an.
»Warum kann ich ihn nicht berühren?«, fragte sie. »Und warum kannst du mich berühren?« Sie war nicht davon überzeugt, dass sie diese neue Rollenverteilung mochte.
»Auf dieser Ebene bist du im Wesentlichen ein Geist und unterliegst den gleichen Gesetzen wie die Geister. Du kannst keinen Einfluss auf die physische Welt nehmen. Aber die Dinge der astralen Ebene können mit dir interagieren.«
»Was sehe ich?«, flüsterte Anya und musterte blinzelnd Brians verschwommene Aura.
»Nachbilder. Die astrale Welt ist eine siderische Ebene – sie existiert parallel zur physischen Welt. Die Welten überschneiden sich, wenn Energie in Bewegung gerät, ob es nun die Energien der Gedanken, der Erinnerungen oder des Lebens selbst sind.«
Anya blickte auf. Die Bar selbst zeigte sich in diversen Grauschattierungen, aber sie sah nicht so aus, wie sie sie in Erinnerung hatte. Gemälde hingen über Tischen, die vorher nicht da gewesen waren. Die Fenster waren nicht geschwärzt oder verbarrikadiert, sondern bestanden aus Buntglas. Sogar die Türgriffe schienen aus einer anderen Ära zu stammen.
»Das ist die Erinnerung des Gebäudes an sich selbst. Wenn Menschen von Restspuk sprechen, reden sie eigentlich über die energetischen Eindrücke, die sich im Lauf der Zeit auf einen Ort niedergeschlagen haben, hinterlassen von den Menschen, die ihn durchwandern und ihre Gedankenenergie auf ihn konzentrieren. Manchmal dringen tiefere Eindrücke direkt hindurch zu den anderen Ebenen. Fast so, als würdest du einen Stift kraftvoll auf ein Stück Kohlepapier drücken, sodass das Bild auf die darunter liegende Schicht übertragen wird.«
Anya sah sich zu dem Geist der Zwanziger-Jahre-Schönheit um. »Renee, ist das unsere Welt, wie du sie siehst?«
Die Geisterfrau nickte, und ihre Federohrringe flatterten von ihren Schultern. Sie berührte einen Hocker mit einem dicken, lederbezogenen Polster. »Das ist die Welt, wie ich mich an sie erinnere. Manchmal denke ich, ich bin die Einzige, die das tut.«
Anya wandte sich wieder an Charon. »Wir müssen Hope finden. Ich hab die meisten Geister, die sie gefangen hielt, freigelassen, aber sie hat die Büchse der Pandora. Und sämtliche Geister aus dem Museum.«
Charon setzte eine besorgte Miene auf. »Das sind alte Geister. Machtvolle Geister. Mit ihnen dürfte sie kampfbereit sein.«
»Wie können wir sie finden?«
»Es gibt nur einen Ort in der Stadt, den alle Geister passieren. Dort sollten wir ihre Spur aufgreifen können. In der Michigan Central Station.«
Anyas Brauen ruckten unter dem Helm aufwärts. »Die ist schon seit Jahrzehnten geschlossen.«
»Sie ist für Menschen geschlossen, aber nicht für uns.« Charon zeigte zur Tür. »Komm mit, ich zeige es dir.«
Zögernd folgte ihm Anya zur Tür des Devil’s Bathtub hinaus. Als sie auf die Straße trat, keuchte sie auf und blieb wie angewurzelt stehen. Sparky rannte gegen die Rückseite ihrer gepanzerten Beine und grollte beleidigt.
Sie hatte erwartet, das zu sehen, was sie immer zu sehen bekam: eine zentrumsnahe Straße mit rissigem Asphalt, Verkehr, Telefonmasten, vielleicht noch ein wenig Abfall oder einen geparkten Wagen, geschmückt mit diversen Strafzetteln. Aber diese Straße hier war beinahe verlassen und zog sich dahin wie ein schwarzes Band, wand sich entlang an Gebäuden aus den verschiedensten Epochen: aus den 1920ern, den 1930ern und diversen anderen Zeiten. Durch ein offenes Fenster hallten Fetzen von Jazzmusik, und ein Modell T brauste die Straße hinunter. Ein Baum, der sich in einem prachtvollen Absinthgrün zeigte, hatte im Bürgersteig Wurzeln geschlagen, und Anya sah, dass die Wurzeln, die sich unter das Pflaster gegraben hatten, eine perfekte Symmetrie mit den Ästen bildeten, die sich über ihr dem dunstigen Himmel entgegenreckten.
Zwei Türen weiter fiel ein Ziegelgemäuer, dem Anschein nach ein Lagerhaus, geräuschlos in sich zusammen und löste sich in Staub auf, der wie ein Sandsturm vom Wind fortgetragen wurde. Anya hielt sich die Nase zu, als der Staub vorüberzog. Er roch nach zerschlagenem Ton und war angefüllt mit Fragmenten, die glitzerten wie Glas.
»Was passiert hier?«, keuchte sie. Der rote Staub wehte an ihren Beinen vorbei die Straße hinunter.
»So etwas passiert hier mit den Dingen, die vergessen sind.« Charon zuckte mit den Schultern, als wäre es ganz alltäglich, zuzusehen, wie ein dreistöckiges Gebäude zu Staub zerfiel. »Erinnerung ist der Schlüssel. Energie erweckt die Dinge zum Leben. Gedanken sind Energie. Etwas, an das niemand – ob Geist oder Mensch – mehr denkt, verschwindet.«
Der Staub verzog sich und hinterließ einen kahlen, leeren Fleck, der sich in einen brodelnden, siedenden schwarzen Abgrund verwandelte. Das war die wohl vollständigste Zerstörung, die Anya je zu sehen bekommen hatte. Instinktiv schrak sie davor zurück. Aber zugleich fühlte sich das Geschehen vertraut an. Ihre Finger berührten ihre Brust dort, wo das schreckliche, dunkle Feuer wütete. Es schmeckte nach Vergessenheit.
»Wir müssen weiter. Ich erkläre dir unterwegs die Regeln.« Charon holte ein Motorrad aus dem Schatten des Devil’s Bathtub. Anya war kein Fan von Motorrädern. Feuerwehrleute und Sanitäter nannten sie auch »Organspendertaxis«. Charons Maschine war ein altes, verbeultes Krad, das Anya in einer TV-Dokumentation über den Zweiten Weltkrieg zu sehen erwartet hätte.
»Das ist dein hiesiges Transportmittel?«
Charon schien ihre Vorbehalte zu spüren. Ein Lächeln umspielte seine Mundwinkel, das erste Lächeln, das sie in seinem Gesicht zu sehen bekam, und das war kein unerfreulicher Anblick.
»Was hast du erwartet? Den Kahn hab ich schon vor ein paar Tausend Jahren ausgemustert.«
Anya konnte nicht einschätzen, ob er es ernst meinte oder nicht. Sie kletterte hinter ihm auf das Motorrad. Sparky krabbelte auf ihre Schulter, und sie schlang unbeholfen die Arme um Charons Leib. Selbst durch seinen Mantel verströmte er Kälte, eine Kälte, die durch ihre metallene Rüstung drang und sie schaudern machte. Auch sein Mantel roch nach Weihrauch.
Charon gab Gas. Das Motorrad jaulte auf wie ein überforderter Rasenmäher und raste los. Anyas Magen schlug Purzelbäume, und sie spürte ein Spannungsgefühl in der Brust. Sie hörte, wie Sparkys Klauen über ihre Rüstung kratzten, als er sich um ihren Hals wickelte. Aus den tränenden Augenwinkeln sah sie, wie der Salamander den Kopf in den Wind hielt. Seine Zunge und seine Kiemenwedel schossen hervor, und er schien die Luft zu kosten, die auf sie einpeitschte.
Anya schauderte. Wenigstens trug sie einen Helm.
Aus zusammengekniffenen Augen sah sie die Umgebung vorüberrasen. Die schwarze Straße dehnte sich unter einem von der Dämmerung geröteten Himmel. Die ersten Straßenlampen flackerten in einer Vielzahl unterschiedlicher Modelle auf: Gaslaternen, elektrische Leuchten auf kunstvollen Pfählen und Lichter, die an schlanken Aluminiumarmen hingen. Irgendwo musste irgendein Bauingenieur von diesen Lampen geträumt haben, um ihnen hier Gestalt zu geben.
Die Gebäude verschoben sich wie Wolken am Himmel. Manchmal sah sie Bauwerke, die so aussahen, wie sie sie aus der physischen Welt kannte: Fabriken, Häuser, Sehenswürdigkeiten. Aber bisweilen kehrten sie in frühere Zeiten zurück. Manches trat klarer zum Vorschein als anderes: Das Umfeld zweier Geister, die in einem Park Schach spielten, war faszinierend detailliert erkennbar bis hin zu jedem einzelnen Grashalm. Anya stellte sich vor, dass die beiden jahrzehntelang an jedem Wochenende gespielt hatten. Wartezimmer von Ärzten waren hell erleuchtet, und die abgegriffenen Zeitschriften auf den Tischen waren in jeder langweiligen Einzelheit zu sehen. Durch andere Fenster erblickte sie die Pulte in Klassenräumen samt der daruntergeschobenen Plastikstühle. Wände und Waggons voller Graffiti waren deutlicher erkennbar als ihre sauberen, neueren Gegenstücke. Supermärkte und Tankstellen verblassten in einem unscharfen, modrigen Nebel – offenbar widmete ihnen kaum jemand eine hinreichende Erinnerung, und so fielen sie buchstäblich auseinander.
Charon bog am Fluss ab, und das Motorrad ratterte grollend die Straße entlang. Der River Rouge glitt silbernen Stromschnellen gleich durch das Zwielicht, viel schneller und klarer und machtvoller als in der physischen Welt.
Charon sah ihren Blick und brüllte: »Gewässer wie das sind hier stark. Daher stammt der Mythos, das Böse könne fließendes Wasser nicht überqueren.«
»Trifft das hier zu?«
»Nicht an den Orten, die ich je besucht habe. Na ja, jedenfalls nicht ohne magische Einflussnahme.«
Anya nahm an, dass diese Aussage eine Menge Orte umfasste, und sie brüllte gegen den Wind an, der ihre Stimme mitreißen wollte: »Was bist du überhaupt? Bis du der Charon? Ich meine, der Typ, der auf dem Styx nach toten Seelen fischt? Oder ist das nur Getue?«
Sie fühlte, wie sich seine Muskeln unter ihren Armen anspannten. »Wie steht’s mit dir? Bist du die Ischtar?«
»Natürlich nicht.«
»Wir alle ererben Teile von Dingen, die uns zu dem machen, was wir sind, ob wir das wollen oder nicht.«
Anya boxte ihn in die Rippen, woraufhin das Motorrad gefährlich ins Schwanken geriet. »Hör mit der verdammten Geheimniskrämerei auf.«
»Du hast wirklich keine Ahnung, was?«
»Ganz genau.«
»Weißt du, was ein Avatar ist?«
»Das ist die Figur, die man erfindet, um sich in einem Videospiel zu präsentieren. Jeder macht sich dabei viel attraktiver, als er wirklich ist, und verschwindet in einer Fantasiewelt, um Ungeheuer niederzumetzeln und sich mit Cybersex zu vergnügen.«
Charon lachte. Anya fühlte das Rumpeln unter ihren Finger, ehe der Wind das Lachen fortriss. »Wenn es doch nur so einfach wäre. Lass mich kurz ausholen. Weißt du, was ein Archetyp ist?«
»Ich bin nicht vollkommen verblödet. Ich erinnere mich, von Jung und den Archetypen gelesen zu haben. Das sind Vorstellungen von Idealtypen im kollektiven Unbewussten. Krieger, Zauberer, Gauner … all so was. Vor einigen Jahren war da so ein Typ auf PBS, der darüber gesprochen hat.« Anya war von sich selbst beeindruckt, dass sie so viel aus Mythologie 101 behalten hatte.
»Joseph Campbell. Ja, das ist ein witziger Bursche. Toller Kerl. Und er hat haufenweise Spaß im Jenseits.« Charon schüttelte den Kopf, und der Wind zerrte an seinem Flock-of-Seagulls-Kopfputz. »Wie auch immer … Archetypen sind diese idealisierten mythologischen Urbilder. Weißt du noch, was ich darüber gesagt habe, dass Gedanken dem Leben in dieser Welt seine Form verleihen?«
»Ja.«
»Teile dieser Archetypen finden manchmal auf der physischen Ebene Ausdruck. Sie wollen zeitlos sein, ewig … folglich wollen sie auch nicht, dass die physische Welt sie vergisst. Anderenfalls würden sie auch hier aufhören zu existieren.«
»Uah!« Diese ganze Theorie bereitete ihr Kopfschmerzen.
»Die Kurzversion lautet, dass du von Ischtar berührt wurdest. Oder von dem zeitlosen Archetypus der Ischtar, je nachdem, wie’s dir lieber ist. In alten Zeiten hätte das aus dir eine Priesterin oder den Liebling eines Gottes gemacht.«
»Ich bin ihr Avatar in der physischen Welt?« Anya hatte Mühe, mitzukommen.
»Du bist einer ihrer Avatare, vermutlich einer von Hunderten im Lauf der Zeit. Vielleicht von Tausenden.«
Anyas Lippen wurden schmal. »Vor ein paar Monaten war ich von einem Dämon besessen, der einmal eine Priesterin der Ischtar war.«
»Du ziehst Synchronizitäten an, die dich mit diesem Archetypus verbinden. So etwas ist absolut unberechenbar, aber genauso läuft das.«
»Und der Salamander?«, fragte sie.
»Der Salamander braucht einen Beschützer. Du stellst aus deren Sicht eine eindrucksvolle Bedrohung dar. Du bist eine Laterne, und du kannst in ihre Welt blicken. Du wurdest von Ischtar berührt. Folglich kann sich ein vernünftiger Feuerelementargeist nichts Besseres wünschen, als sich bei dir einzuklinken, um seinen Nachwuchs zu hüten.«
»Aber Sparky hat mich nicht einfach aus irgendeiner Menge ausgewählt. Meine Mutter hat ihn mir gegeben.«
»Weißt du noch, was ich über Teile der Archetypen gesagt habe, die über die physische Ebene wandeln? Irgendwo hat irgendwer aus deiner Familie diesen Salamanderreif aufgesammelt, und er hat seinen Weg zu dir gefunden. Du wurdest durch das Feuer gesegnet.«
Anyas Kiefermuskulatur spannte sich. Die Vorstellung, dass diese Bruchstücke eines Mythos sich mit willentlicher Absicht Ausdruck schufen, ohne sich darum zu scheren, wie das dem Empfänger ihrer Gnade gefiel, sagte ihr gar nicht zu.
»Das ist ganz ähnlich wie die Fähigkeit, Geister zu sehen«, erklärte Charon. »Sie sind nicht Teil des Alltagsbewusstseins jedes Menschen. Aber wenn man über die banale physische Welt hinausblicken kann, dann erkennt man, dass die Mythen überall ihre Finger haben, dass sie alles berühren und hinter allem stehen. Und hier, auf der astralen Ebene, sind die Mythen und Geister deutlich robuster und machtvoller als sie es in deiner leiblichen Welt je sein könnten.«
»Hör mal, Charon, ich wurde als braves katholisches Mädchen erzogen. Für meinen Geschmack ist das ein kleines bisschen zu viel New Age.«
»Gute katholische Mädchen verschlingen keine Geister, ziehen keine Feuerelementare auf und flirten auch nicht mit Motorradfahrern auf der astralen Ebene«, konterte Charon schnaubend. »Ich glaube nicht, dass sich Ischtar für deine Erziehung interessiert. Du hast ihr gefallen, und du wurdest eine der ihren.«
Charon bog in eine der Nebenstraßen ab, und Anya hielt sich um ihres lieben Lebens willen an ihm fest. Schließlich hielt er vor der Michigan Central Station und schaltete den Motor ab. Die plötzliche Stille brachte Anyas Ohren zum Klingeln.
Auf der astralen Ebene sah der Bahnhof beinahe genauso aus wie ihm echten Leben: ein heruntergekommener schwarzer Kasten. Doch hier bewegten sich massenweise Leute hinter den Fenstern und an den verzogenen stählernen Gleisen entlang. Anya konnte Hüte und wirbelnde Röcke sehen, konnte das Geschnatter unzähliger Stimmen und das Ächzen des Gepäcks hören.
»Das sind Geister.« Anya kletterte mit gerunzelter Stirn vom Sozius.
»Dieser Ort ist das, was er immer gewesen ist: Eine Durchgangsstation für die Geister, die zwischen den Ebenen reisen. Die Seelen kommen hierher, um ins Jenseits zu gelangen, wie immer dieses Jenseits für sie aussehen mag.«
Anya folgte Charon die Stufen hinauf. »Also … ist das hier das Tor zum Himmel?«
»Oder zur Hölle. Und zu allem, was dazwischen liegt. Von hier aus kannst du zu jeder Ebene der Realität reisen. Doch die Seelen können sich ihr Ziel nicht aussuchen.«
Sie gingen durch die Tür in die überfüllte Bahnhofshalle. Hunderte von Geistern schlenderten hier umher, Abbilder von Menschen aus den verschiedensten Epochen: Frauen mit Hauben, Männer mit Schulterpolstern und eng zulaufenden Anzughosen, ein Kind in einem einteiligen Schlafanzug, das ein Stofftier umklammerte. Niemanden schien es zu kümmern, wie unterschiedlich die Vertreter der verschiedenen Zeiten auftraten, und Anya fragte sich, wie lange einige dieser Seelen wohl gebraucht hatten, um diesen Ort zu erreichen. Einige starrten die große Uhr hoch oben an der Wand an, während sie mit Koffern und Aktentaschen in den Händen auf ihren Zug warteten. Andere huschten durch die Menge wie kleine Fische durch einen See, als sie zu ihren Zügen hasteten. Lange Schlangen warteten vor dem Kartenschalter, der unversehrt und vollständig verglast war. Anya sah zu, wie ein Schatten einem Geist einen Fetzen Papier durch die Fensteröffnung zuschob. Der Geist am Anfang der Schlange, ein Mädchen im Teenageralter, nahm das Ticket entgegen. Er warf einen Blick auf die Karte und brach in Tränen aus.
Charon bahnte sich einen Weg durch die Menge wie ein typischer New Yorker in einer U-Bahn-Station. Anya hatte Mühe, Schritt zu halten, als sie hinter ihm hertrottete. Auf seinem erhabenen Ausguck verdrehte sich Sparky über der Menge den Kopf. Die Leiber der Geister drängten sich gegen sie, kalt wie ein Winterwind, kalt genug, dass ihre Kupferrüstung beschlug. Sparky war noch immer wie eine Feder fest um ihren Hals gewickelt. Sie zitterte, und ihre Rüstung rasselte an ihrem Körper.
Am Rand des Bahnsteigs blieb Charon stehen und starrte, die Hände in den Taschen, in die Finsternis. »Er kommt bald.«
»Wer kommt bald?« Anyas Mund war trocken, und sie erkannte ein Licht, das am Rand des Tunnels erblühte, hörte ein schauerliches Geräusch näher kommen.
»Der Zug. Er bringt dich an den Ort, den du aufsuchen musst.«
Der Bahnsteig erbebte unter einem Donnern, das einen scharfen Wind mit sich brachte und eine Hitze erzeugte, die die Luft zum Flimmern brachte. Eine Schwärze, so undurchdringlich wie am Fuß einer Kellertreppe, rauschte durch den Tunnel und verdrängte das trübe Licht der Lampen, die über dem Bahnsteig hingen, wie eine Wolke, die über einen Sternenhimmel zog.
»Er fährt zur Hölle!«, brüllte Anya. Instinktive Furcht breitete sich in ihrem Bauch aus. Dieses Geräusch konnte von keinem anderen Ort stammen.
»Nicht zur Hölle.« Die Schwärze zerriss Charons Stimme. »Aber zu einer Straße, die zur Hölle führt.«
Ehe sie umdrehen und davonlaufen konnte, wusch der Schatten über den Bahnsteig hinweg und sog all die Geister auf. Sie verschwanden wie Taschentücher in einem Staubsauger. Anya kauerte sich zu Boden und hielt Sparky fest umklammert, wie sie es bei den Tornadoübungen in der Grundschule gelernt hatte. Aber der Geisterzug riss auch sie mit sich, als würde sie gar nichts wiegen.
Sie erlebte einen exquisiten Moment der Schwerelosigkeit und des Fallens. Ihr Körper erhob sich in seiner Rüstung, und sie konnte spüren, wie sich das Material auf ihrer Haut lockerte. Sparkys Gewicht auf ihren Schultern löste sich, obwohl ihre Finger immer noch seine Pfoten umklammerten. Schwärze umgab sie, durchbrochen allein von Lichtfunken, von denen sie annahm, dass sie nur auf ihren Netzhäuten existierten. Vielleicht hatte sie eine Gehirnerschütterung. Sie spürte, wie die um ihren Leib gegürteten Eier sie umkreisten wie glühende Planeten. Die Wirbel in ihrem Rückgrat lockerten sich ebenso wie alle anderen Gelenke, und sie fragte sich für einen Moment, ob Geister sich immer so fühlten, vergänglich und fließend …
… und dann krachte sie zu Boden. Die Schwärze spie sie donnernd und in einem heftigen Windstoß auf den Beton. Ihre Rüstung klapperte an ihr, als sie mit der linken Schulter und der Hüfte aufprallte und versuchte, Sparky und die Eier zu schützen.
Ächzend rollte sie sich auf den Rücken, und Sparky löste sich schnaufend aus ihrem Griff. Er stolzierte davon und leckte sich den Rücken, während er zugleich, verärgert über die ruppige Landung, seinen Schwanz ausschüttelte. Anyas Finger huschten zu den Eiern an ihrer Taille und ertasteten keine Schäden. Töricht blinzelte sie in das Licht einer Straßenlaterne und erkannte, dass der Betonboden von einer dünnen Schneeschicht bedeckt war. Weiße Flocken trieben durch den Lichtkegel wie Moskitos im Sommer. Sie schmolzen, sobald sie auf ihr Gesicht oder ihre Rüstung fielen, und schmeckten nach Eisen und Schmutz.
»Es ist leichter, wenn man im Laufschritt auftrifft.« Charon stand über ihr, die Hände nach wie vor in seinen Taschen vergraben.
Anya setzte sich auf, zog die Füße an und stemmte sich langsam hoch. Dort, wo sie gelegen hatte, hatte sie das Bild eines Engels in den Schnee gemalt. »Schieb dir das Gerede in deinen Psychopompenarsch, Charon.«
Charon schnaubte leise und suchte in seiner Tasche nach einer Zigarette. Auf seinen Mantelschultern und in seinem Haar schmolz der Schnee nicht, er sammelte sich nur wie Haarschuppen. Aber Anya nahm Brandgeruch wahr, noch bevor er das Feuerzeug entzündet hatte.
Ihre Brauen zogen sich zusammen. Sie befand sich auf einer Wohnstraße, einer vertrauten Straße. Obwohl die Auren rund um die Straßenlaternen surreal matt erschienen und die Nummern, die auf den Rinnstein gemalt worden waren, verschwommen und unscharf aussahen, erkannte sie diesen Ort. Sie erkannte den ungleichmäßigen Schotterbelag, die Skelette der Holzapfelbäume, die zu nahe an die Straße gepflanzt worden waren, den gelb lackierten Feuerhydranten. Dies war ein Ort, an dem sie seit ihrer Kindheit nicht gewesen war, ein Ort, den sie zu vergessen versucht hatte.
Ihre Stimme klang leise und drohend, doch unter der Rüstung war ihr der kalte Schweiß ausgebrochen, Schweiß, der nichts mit dem Schnee zu tun hatte. »Charon! Wo zum Henker sind wir?«
Die Flamme des Feuerzeugs tanzte über Charons kantiges Gesicht und ließ es für einen Moment inhuman erscheinen. »Der Zug bringt dich an den Ort, den du aufsuchen musst.«
»Du hast auch gesagt, er führt zur Hölle.«
»Das läuft aufs Gleiche hinaus. Wir alle müssen durch die Hölle gehen, um an unser Ziel zu kommen.«
Anya schluckte, drehte sich um und sah zu, wie das Zuhause ihrer Kindheit bis auf die Grundmauern niederbrannte.