KAPITEL DREIZEHN

»Wenn jemand fragt, du bist Kadettin der Feuerwehrschule.«

Anya und Katie stiegen die Stufen zum Detroit Institute of Arts hinauf. Unter dem dunklen Himmel warf die Statue des Denkers, angestrahlt von künstlichem Licht, einen langen, blauen Schatten, der beinahe bis zur Ecke der verlassenen Straße reichte. Der obere Parkplatz war leer, die Türen mit gelbem Feuerwehrabsperrband versiegelt.

Katie blickte an sich herab. Sie trug einen langen, grünen Zigeunerrock, Römersandalen und ein Tanktop, das von einem Fransenschal verdeckt wurde. Die Patchworktasche mit ihrem magischen Rüstzeug, die sie mitschleppte, war schwerer als sie selbst. »Ja, genau, ich gebe wirklich eine überzeugende Feuerwehrkadettin ab.«

Anya hielt inne, um die Sache noch einmal zu durchdenken. »Okay. Du bist Historikerin.«

»Das klingt glaubhafter.«

»Überlass einfach mir das Reden.«

Sparky hastete vor ihnen die Stufen hinauf und baute sich in vorderster Front auf. Der Salamander gab sich extrem wachsam, seit sie auf den Parkplatz gefahren waren, und Anya konnte es ihm nicht verübeln. Sie klemmte sich den Molchkoffer fest unter den Arm. Es war unmöglich, vorherzusagen, wie viele Geister sich im Museum aufhielten, und welche sich anfällig für Hopes Beeinflussung zeigen mochten.

Uniformierte Schatten regten sich hinter dem gelben Absperrband, das sich über die Tür zog. Der Brandort wurde noch immer vom DFD überwacht. Das Museum war seit dem Tod der Wachleute geschlossen, obwohl das DIA Druck ausübte, um eine Freigabe durchzusetzen. Marsh war jedoch nicht bereit sich zu fügen, solange die Ermittlungen nicht abgeschlossen waren, ganz gleich, wie viel Zeit das erfordern würde. Anya nahm an, dass die Umsatzeinbußen wirklich atemberaubend sein mussten.

Ein Feuerwehrmann des DFD öffnete die Tür, und Anya zeigte ihm ihre Marke. Der Feuerwehrmann musterte Katie. »Wer ist das?«

»Sie gehört zu mir.«

»Ich bin Kunsthistorikerin«, trällerte Katie hilfreich.

Der Feuerwehrmann, der den Brandort bewachte, nickte. »Hier sind den ganzen Tag Dutzende solcher Leute übereinandergestolpert.«

Anya runzelte die Stirn. »Historiker?«

»Es heißt, die Museen, die einige ihrer Kunstgegenstände zur Verfügung gestellt haben, seien nicht erfreut über diesen Vorfall. Etliche haben ihre Sammlungen zurückgefordert.«

Anya seufzte. Zusammen mit der zeitweisen Schließung des Museums und der schlechten Presse deutete eine spürbare Verkleinerung der Sammlung einen Mangel an Vertrauen in das Museum an. Das konnte der Institution ernsthaft schaden. Das DIA war eines der wenigen verbliebenen Juwele von Motor City; es wäre traurig, wenn auch sein Glanz verblasste.

»Patrouillieren Ihre Leute im Museum?«, fragte sie beiläufig.

»Nicht, wenn’s sich vermeiden lässt.« Der Wachhabende rammte die Hände in die Taschen. »Unsere Anweisung lautet, Eingänge sichern und nichts anrühren. Außerdem …« Er sah sich über die Schulter um. »Bei Nacht ist’s hier verdammt unheimlich.«

Anya grinste. »Das kann ich mir vorstellen.«

Ohne die hektische Betriebsamkeit der Polizisten, Feuerwehrleute und Sanitäter wirkte das DIA vollends verlassen. Anya und Katie gingen durch die Große Halle, ihre Schritte hallten laut durch die steinerne Leere. Sparky stürmte voran, doch er machte keine Geräusche, als er über den Marmorboden hastete. Zwischen den Rüstungen und dem chemisch gefärbten Staub waren Verwirbelungen und Fußspuren auf dem Boden zu sehen, zurückgelassen von den Besuchern des Tages.

Aber es gab immer noch Leben hier – gewissermaßen.

Ein fernes Donnern rollte durch die Halle, so tief, dass es den Staub am Boden erschütterte. Sparky blieb ruckartig stehen, und Anya wäre beinahe über ihn gestolpert. Die Kiemenwedel des Salamanders zuckten, als kostete er die Luft auf der Suche nach dem Ursprung des Geräusches – ein hallender Galopp, der Glas und alte Rüstungen erbeben ließ. Im Großen und Ganzen war es, als stünden sie mitten auf einer Tanzfläche bei zu laut aufgedrehten Bässen.

»Was ist das?«, brüllte Katie.

»Ich glaube, das ist nur Pluto«, antwortete Anya, dennoch spannten sich ihre Finger noch stärker um den Gurt des Molchkoffers. Und sie wich nicht von der Stelle, als der Donner in die Halle vordrang und das gewaltige Schlachtross an ihnen vorüberraste. Pluto galoppierte durch die Glastür am Eingang und löste sich auf. Anya hörte das alarmierte Geschrei der wachhabenden Feuerwehrleute, gefolgt von einem lauten Knall und einem Plätschern, ausgelöst von einer Kaffeekanne, die auf den Boden gefallen war.

»Pluto?«, quiekte Katie. »Wie der Gott der Unterwelt?«

»Na ja, dieser Pluto ist ein Pferd.« Das obsidianschwarze Ross kehrte zurück, ein böswilliges Glitzern in den Augen, den Schweif stolz aufgerichtet. Sparky baute sich mit peitschendem Schwanz vor Anya auf und sah zu, wie das Geisterpferd mit einem übermütigen Klimpern schnaubend an ihnen vorübertrottete. »Er ist eigentlich ganz harmlos. Glaube ich.«

»Ich hab noch nie einen Geist gesehen, der mal ein Tier war«, murmelte Katie. »Es heißt, so was passiert, wenn das Schicksal des Tieres mit dem eines Menschen verknüpft ist, aber … ich dachte immer, es käme so gut wie nie vor. Tieren fällt der Übertritt ins Jenseits normalerweise leicht, und sie haben kein Interesse daran, noch lange hier herumzuhängen.«

»Für mich ist Pluto auch der erste Pferdegeist.«

Nun, da das Donnern der Hufe verstummt war, vernahmen sie Stimmen von den weiter hinten gelegenen Emporen. Es hörte sich wie ganz normales menschliches Geplauder an: Gelächter und Konversation, akzentuiert von gelegentlichem Kreischen und dem Klimpern von Glas.

Katie musterte Anya mit einem schiefen Blick. »Hast du nicht gesagt, wir hätten das Museum für uns allein?«

Anya runzelte die Stirn und ging argwöhnisch auf den Ursprung der Geräusche zu. Das Ganze hörte sich an wie ein verdammter Cocktailempfang. »Es sollte niemand hier sein. Das Museum ist geschlossen.«

»Ich weiß nicht, ob ich bei all dieser Ablenkung Magie wirken kann.« Katie hörte sich skeptisch an. »Eine Unterbrechung im falschen Moment könnte katastrophal sein.«

Anya ging um die Ecke zu der Galerie, die zur Sonderausstellung führte. »Mach dir keine Sorgen. Das DFD hat hier immer noch das Sagen. Im Notfall kann ich denen befehlen, ihre Ärsche hier rauszuschaffen.«

Sie geriet ein wenig ins Rutschen bei dem Versuch, ruckartig stehen zu bleiben, als ein Geist aus der Galerie in die Halle stolperte: Gallus. Er hielt den kichernden Kopf einer platinblonden Frau unter dem Arm. Helm und Umhang wirkten derangiert, und er rückte den Helm gerade, um Anya und Katie besser sehen zu können.

»Meine Damen!«, brüllte er. »Willkommen zur Party!«

Anya deutete auf den Kopf unter seinem Arm. »Äh … Gallus, du hast da einen menschlichen Kopf bei dir.«

Gallus hielt sich den Kopf vor sich wie ein Sportler eine Trophäe. Die gepuderte Perücke hing schief, und die Augen zwinkerten. Das Gesicht war so weich und beweglich, als säße der Kopf nach wie vor auf seinem Körper.

»Wo hab ich nur meine Manieren gelassen? Marie, sag Anya guten Tag.«

Maries Mundwinkel wanderten aufwärts, bis einer beinahe den Schönheitsfleck auf ihrer Wange erreicht hatte. »Enchanté.«

Sparky richtete sich auf die Hinterbeine auf und schnüffelte an den herabbaumelnden Ringellöckchen.

»Gallus, das ist Sparky. Und dies hier ist Katie.« Sie sah sich über die Schulter um. Katies Augen waren rund und starr. Anya nahm an, dass diese Geister über die Jahrhunderte genug Macht angesammelt hatten, um sich ganz nach Gutdünken sichtbar zu manifestieren. Und sogar für eine Angehörige der DAGR war der Anblick einer vollständigen Geistererscheinung eine außergewöhnliche Erfahrung – etwas, das Anya häufig vergaß. Sie war so daran gewöhnt, Geister zu sehen, dass sie oft nicht daran dachte, welche Wirkung sie auf andere Menschen erzielten.

»Kommt und sagt hallo.« Gallus winkte Anya zu der Galerie der Sonderausstellung.

Anya konnte nicht widerstehen – sie schaute hinein. Und ihr blieb der Mund offen stehen.

Geister aus jeder denkbaren Ära schwebten durch den strahlend weißen Ausstellungsraum wie Gäste bei einer Kostümparty: Frauen in geschnürten Kleidern und Petticoats, Männer in Wämsern. Ein Zulukrieger mit einer Furcht erregenden Maske und Körperbemalung unterhielt sich mit einer Geisha, die mit geschwärzten Zähnen lächelnd hinter einem handbemalten Fächer hervorlugte, in dem ein Riss klaffte. Eine Sirene aus den 1940ern kicherte einen Burschen an, der, gekleidet wie Attila, der Hunnenkönig, wild mit seinen Waffen herumfuchtelte. Sie schlenderten zwischen Gemälden und Skulpturen einher, schwebten um die Vitrine im Zentrum, in der eine lebensgroße Guillotine samt Auffangkorb stand.

»Macht ihr das«, wandte sich Anya im Flüsterton an Gallus, »jeden Tag nach Feierabend?«

»Sonst gibt’s ja nicht viel zu tun.« Gallus reichte Maries Kopf an einen Samurai weiter. »Sie steht auf mich«, sagte Gallus und wackelte mit den Brauen.

»War das«, fragte Katie und musterte die Guillotine, »die Marie?«

»Eben diese. Marie ist eine Leihgabe aus London.« Gallus grinste. »Sie hält mich für einen Partisanen, und ich hab mir nicht die Mühe gemacht, ihr diese Vorstellung zu nehmen.«

»Aber …« Anya sah sich in dem Raum um. »Wo ist der Rest von ihr?«

Gallus zuckte die Achseln. »Wer weiß? Vielleicht spukt er immer noch durch die Straßen von Paris.« Er zwinkerte den Frauen zu. »Aber ich nehme gern mit dem vorlieb, was übrig ist.«

Anya verzog das Gesicht. »Entschuldige, Gallus, aber das ist eklig.«

»Hey, nach zweitausend Jahren wärest du bei der Auswahl deiner kleinen Vergnügungen auch nicht mehr so wählerisch. Nach so langer Zeit gibt’s nur noch sehr wenig, was einem pervers vorkommt.« Gallus klatschte in die Hände und bat um die Aufmerksamkeit der Geisterschar. »Meine Damen und Herren!«, grölte er. »Bitte begrüßt Anya, Katie und Sparky. Anya ist das Medium, von dem ich euch erzählt habe.«

Eine Woge der Anerkennung rollte durch den Raum, begleitet von dem einen oder anderen Buhruf. Anya errötete. Sie hatte vorgehabt, die Büchse der Pandora zu schützen und wieder zu verschwinden, ohne dabei irgendwelche Aufmerksamkeit zu erregen. Nun schien es, als wäre dies ein aussichtsloses Unterfangen.

Der Samurai hockte sich vor Sparky und bewunderte das Spiel des trüben Lichts auf seiner fleckigen Haut. Anya fiel ein rostroter Fleck auf, der den gelben Seidenobi des Kriegers verunzierte. Außerdem erkannte sie Myriaden kleiner Dellen in seinem Brustpanzer. »Ist das dein Drache?«, fragte der Samurai in arg gebrochenem Englisch.

»Ja«, entgegnete Anya geistesabwesend. »Er ist mein Drache.«

Der Samurai verbeugte sich tief vor dem Salamander. Anya fiel auf, dass er seinen gepanzerten Unterarm fest gegen seine Körpermitte presste, um die Eingeweide im Leib zu behalten. »Es ist mir eine Ehre, deine Bekanntschaft zu machen, mächtiger Drache.«

Sparky hockte in majestätischer Haltung vor seinem neuen Verehrer. Anya fragte sich, wie oft Sparky derartiges erlebt haben mochte. Sie hatte keine Ahnung, wie alt er war oder wo er sich herumgetrieben hatte. Gewiss musste es auch noch andere gegeben haben, die ihn sehen konnten und ihn für eine heilige Kreatur gehalten hatten. Eine heilige Kreatur, die ihrem eigenen Schwanz nachjagte und Mobiltelefone verspeiste.

»Du hast die Augen von Ischtar«, zischte eine Stimme hinter ihr.

Anya erschrak, wirbelte herum und sah einen alten, barfüßigen Mann in Lumpen vor sich. Er roch nach Staub und abgestandenem Weihrauch, Olivenblätter hatten sich in seinem grauen Bart verfangen, und er stützte sich schwer auf einen hölzernen Stock.

Anya umklammerte den Molchkoffer, und Sparky fing zu ihren Füßen an zu knurren. Der alte Mann griff nach ihr, aber seine Geisterhand fuhr durch ihre Schulter hindurch.

»Rühr mich ja nicht an«, grollte sie.

Der alte Mann blinzelte sie aus kohlschwarzen Augen an. Die Pupillen waren voll geweitet – ob das jedoch ein Zeichen von Verletzung war, von Drogen oder Wahn konnte Anya nicht sagen.

»Du hast ihren schrecklichen Blick. Kein Unterschied.«

Anya kniff die Augen zusammen. Allein Drake hatte sie Ischtar genannt. Wie konnte dieser alte Mann davon wissen?

»Wir kennen uns nicht«, sagte sie eisig.

»Aber ich habe sie schon früher gesehen.« Der alte Mann grinste, streckte die Finger aus, um ihr Gesicht zu tätscheln, aber seine Finger flackerten nur bis unter die Hautebene in sie hinein. »Die Seelenfresserin. Diejenige, die all ihre Liebhaber zum Tode verurteilt.«

Anya gefror der Atem in der Kehle, und das lag nicht nur an der Kälte, die mit der Berührung des Geistes einherging.

»Ischtar ging hinunter in die Unterwelt, um ihren toten Geliebten zu retten, so heißt es in den alten Geschichten. Sie kam in Rüstung und hielt ein Schwert in Händen, als sie verlangte, dass ihr die Tore zur Unterwelt geöffnet werden. Die Königin der Unterwelt, Ereschkigal, ließ sie ein, doch sie vergiftete sie und nahm sie gefangen. Die Götter brachten Ischtar das Wasser des Lebens und schlossen einen Handel mit ihr: Ischtar durfte nur zurückkehren, wenn sie jemanden anderen schickte, der ihren Platz in der Unterwelt einnähme.«

Anyas Kehle war trocken wie Papierstaub. »Wen hat sie geschickt?«

Der alte Mann grinste sie zahnlos und ohne eine Spur von Humor an. »Ereschkigal schickte Dämonen mit Ischtar auf die Welt, um dafür zu sorgen, dass sie nicht davonkommt. Als Ischtar auf die Erde zurückkehrte, erkannte sie, dass ihr Gemahl nicht um sie trauerte, also schickte sie ihn an ihrer statt in die Unterwelt. Und so verlor Ischtar beide, den Geliebten und ihren Gemahl.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

»Du trägst ihre Rüstung und bist dazu verdammt, in ihren Fußspuren zu wandeln.« Die Augen des alten Mannes waren so schwarz wie endlose Abgründe.

»Achte nicht auf den alten Balzeri«, mischte sich Gallus ein und dirigierte den alten Mann fort von ihr. Der fing an, vor sich hin zu summen. Gallus tippte sich an die Seite seines Helms. »Er hat zu viele Drogen genommen. Das hat einen Spielverderber aus ihm gemacht.«

»Äh, ja …« Anya sah sich nach Katie um, die in ein Gespräch mit einem alten Ägypter vertieft war. Katies Blick huschte beständig von seinen kajalumrandeten Augen zu seiner breiten, gebräunten Brust. Sein muskulöser Oberkörper war unbekleidet und lediglich mit einem Türkishalsreif geschmückt. Mit seinen goldenen Sandalen und dem geplätteten Lendentuch wirkte er wie eine lebendig gewordene romantische Fantasie, wäre da nicht der geschwärzte Schlangenbiss auf einem Bizeps. Anya fragte sich unwillkürlich, ob er die Bekanntschaft von Cleopatras Natter gemacht hatte.

»Lass uns gehen, Katie.«

Katie löste sich zwar artig von dem eleganten Ägypter, doch ihre Augen verweilten weiter bei ihm. »Verdammt«, sagte sie. »Was für ein verwirrender Geist.«

»Wir haben was zu erledigen«, drängte Anya sie.

»Können wir danach wieder herkommen?«

»Ich bin überzeugt, Gallus wäre höchsterfreut.« Doch ihre Gedanken kreisten um das, was der alte Mann gesagt hatte, darum, dass sie Ischtars Augen habe.

Der Saal mit der griechisch-römischen Ausstellung war noch immer nahezu dasselbe Schlachtfeld, das sie zurückgelassen hatte. Gelbes Feuerwehrband versperrte den Durchgang durch die geborstene Stahltür; sie duckte sich darunter hindurch und zog es zur Seite, um Katie den Einstieg zu erleichtern. Sparky trippelte vor ihnen durch die funkelnden Glasscherben, den Chemikalienstaub und das herumliegende Mobiliar.

»Das ist sie.« Anya deutete auf die Vitrine mit der Büchse der Pandora. Sie war erleichtert, dass das Artefakt immer noch da war. Sparky watschelte zu der Vitrine, legte den Kopf schief und starrte das Ausstellungsstück an. Wie es schien, wusste er instinktiv, dass es sich um einen magischen Gegenstand handelte, der die gleiche kristalline Matrix enthielt, die die Innenseite von Anyas Badewanne überzog. Anya fragte sich, ob je ein Salamander ein Gelege Eier darin hinterlassen hatte.

»Dieser Ort ist beschmutzt«, murmelte Katie. Sie ließ ihre Tasche auf eine saubere Stelle am Boden fallen und zog einen Besen aus Weidenzweigen hervor. Sie fing an, den Bereich um die Vitrine zu fegen, um ihn auf die rituelle Magie vorzubereiten. Der Besen wirbelte Staub auf, der sie bei ihrer Arbeit zum Niesen reizte.

Schließlich trat sie einen Schritt zurück und putzte sich die Nase. »Ich glaube, besser geht es nicht.« Sie blickte zur Decke hinauf. »Äh … ist der Feueralarm da oben angeschlossen?«

»Nein. Der ist in diesem Bereich außer Funktion seit dem letzten Einsatz. Was kann ich tun?«, fragte Anya. Wenn es um Ritualmagie ging, hatte sie zwei linke Hände, und sie wusste es.

Katie legte einen Kompass und einen Eimer mit Straßenmalkreide auf den Boden. »Du kannst die Himmelsrichtungen mit Kreide auf den Boden zeichnen.«

Anya warf einen Blick in den Eimer und wählte eine gelbe Kreide für den Osten, eine violette für den Norden, eine blaue für den Westen und eine pinkfarbene für den Süden aus. Sie war bemüht, die Markierungen so unauffällig wie möglich auf dem Granit aufzubringen.

»Was jetzt?«, fragte Anya am Boden hockend.

Katie stellte in jeder Himmelsrichtung eine weiße Votivkerze in einem silbernen Kerzenhalter auf. Sie salbte jede Kerze mit einem Öl, das nach Spülmittel roch. »Tja, die Herausforderung hier ist es, einen magischen Kreis zu ziehen, der für Menschen nicht sichtbar ist und von Geistern trotzdem nicht übertreten werden kann.«

»Wie stellen wir das an?«

Katie hielt einen gläsernen Parfümflakon hoch, der dasselbe Öl enthielt, das sie für die Kerzen benutzt hatte. »Lavendelöl. Es wird in den Stein einsickern und so gut wie unsichtbar sein.« In der anderen Hand hielt sie ein Glas mit weißen Kristallen. »Und Salz. In diesem Chaos wird ein bisschen Salz nicht auffallen.« Sie ließ den Inhalt des Salzgläschens in ihre Hände rieseln, blies hinein und verteilte es auf dem Boden. Das Salz verschwand in dem Staub und den Glassplittern, die auf dem Granitboden glitzerten. »Das Salz wird den Raum reinigen.«

Katie ließ sich auf Hände und Knie sinken. Sie tauchte ihre Finger in das Lavendelöl und zog einen Kreis von neun Fuß Durchmesser, der Anyas Markierungen miteinander verband. Das Öl sickerte beinahe augenblicklich in den Granitboden.

Anya hielt sich mit Sparky im Hintergrund und trat ihm auf den Schwanz, um ihn davon abzuhalten, Katie in die Quere zu kommen. Ihr war nicht daran gelegen, einen naseweisen Salamander im Inneren des Kreises gefangen vorzufinden.

Katie entzündete ein Streichholz, und der Feuerschein tanzte über ihre elfenhaften Züge. Sie senkte die Flamme hinab zu der Kerze im östlichen Quadranten. »Ich widme diesen Kreis den Alten, den alten Göttern und Göttinnen, die noch immer auf Erden, in der Unterwelt und im Himmel wandeln. Um diesen Kreis zu segnen, rufe ich den Wachturm des Ostens. Mögen die Mächte der Luft diesen Kreis segnen und seine Kraft erhalten.«

Sie ging weiter nach Norden und zündete die nächste Kerze an. »Ich rufe den Wachturm des Nordens. Mögen die Mächte der Erde diesen Kreis segnen und seine Kraft erhalten.«

Und Katie ging weiter zur nächsten und zur übernächsten Kerze. »Ich rufe den Wachturm des Westens. Mögen die Mächte des Wassers diesen Kreis segnen und seine Kraft erhalten. Ich rufe den Wachturm des Südens. Mögen die Mächte des Feuers diesen Kreis segnen und seine Kraft erhalten.« Als Katie dieses Streichholz entzündete, züngelte und zischte die Flamme empor.

Obwohl Anya kein besonderes Talent für Ritualmagie hatte, konnte sie es spüren: das Trommeln und Pulsieren im Boden, der sich wie eine lebendige Kreatur anfühlte. Sie konnte den scharfen Dunst der Magie in der Luft riechen, fühlen, wie sich die feinen Härchen an ihrem Nacken aufrichteten.

Katie zog den silbernen Athame aus ihrem Gürtel und richtete die Spitze des Dolchs auf den verblassenden Ölkreis am Boden. Noch einmal folgte sie dem Kreis im Uhrzeigersinn. »Möge dieser Kreis stark und geschlossen bleiben, möge er die Schätze in seinem Inneren vor Plünderern schützen. Kein Mensch und kein Geist soll ihn zerreißen.« Katie ließ ein Streichholz auf den Ölkreis fallen, worauf der in Flammen aufging, die über den Boden rasten.

Sie hob ihr Athame zum Himmel. »Der Kreis ist geschlossen. Gesegnet seien die Alten und die Wachtürme. Mögen sie diesen Ort schützen.«

Das Feuer erlosch zischend und hinterließ nicht die kleinste Spur. Anya musterte die Umrisse dessen, was einmal gebrannt hatte. Katie ging im Uhrzeigersinn um den Kreis herum und löschte die Kerzen.

»Woher wissen wir, dass es funktioniert hat?«

Katie zuckte mit den Schultern. »Tja, Menschen sollten den Bannkreis betreten können.« Katie trat über die unsichtbare Grenze an die Vitrine heran und legte eine Hand an das Glas. »Menschen, die empfindlich auf Magie reagieren, werden vielleicht eine Gänsehaut bekommen und wahrscheinlich nicht lange hier verweilen.«

»Und die Geister?«

»Finden wir’s heraus.« Katie blickte an Anya vorbei zur Saaltür. Anya folgte ihrem Blick und sah Gallus hinter dem Feuerwehrabsperrband vor der Tür stehen. Seine Hand lag in Höhe seiner Wespentaille auf dem Schwert.

»Kann ich gefahrlos eintreten?«, fragte Gallus. Seine Nasenflügel zuckten, und Anya sah ihm an, dass auch er die Magie riechen konnte.

»Klar«, sagte Katie. »Der Kreis wird niemanden verletzen. Er dient nur dazu, Geister fernzuhalten.«

Gallus ging quer durch den Saal bis an den Kreis heran. Dann fuhr er mit den flachen Händen durch die Luft, als taste er nach den Rändern. »Wie funktioniert das?«

Katie errötete und drückte unsicher die Fußspitze in den Boden. »Ich weiß nicht genau, was er bewirkt. Nicht viele Geister erzählen davon, wie es ihnen beim Zusammenstoß mit einer magischen Barriere ergangen ist.«

Gallus blies sich auf wie ein Hahn. »Kann ich ihn ausprobieren?«

»Nur zu.«

»Sei vorsichtig«, warnte ihn Anya. Sie war überzeugt, dass Katie sich ihrer magischen Kräfte manchmal gar nicht richtig bewusst war.

Gallus streckte die Hand nach der Barriere aus. Blaues Licht flammte auf wie ein Blitz. Funken sprühten auf seine Hand. Gallus rüttelte an der Barriere, ging ganz um sie herum. »Interessant«, sagte er. Für einen Moment blieb er still stehen. Dann riss er sein Schwert aus der Scheide und stürzte sich auf die unsichtbare Grenze.

Ein Netz aus blau-weißem Licht leuchtete auf und schleuderte Gallus zurück. Der Römer landete auf seinem Hintern, rutschte auf dem glatten Boden weiter weg und kreiselte dabei wie eine Flipperkugel umher.

Anya lief zu ihm. »Gallus? Alles in Ordnung?«

Der Reitersoldat rieb sich grinsend den Schädel. Sein flüchtiger Körper schien zu rauchen. Sparky schlängelte sich heran und leckte ihm das Kinn.

»Gallus?«

Der Römer lachte inzwischen so herzhaft, dass der Federbusch auf seinem Helm erbebte und die Segmente seiner Rüstung lautstark rasselten. »Ich kann’s kaum erwarten, dass Pluto damit in Berührung kommt. Das ist seit zweitausend Jahren die beste Revange, die ich diesem Pferd bieten kann.«

Katies Haus war zu still, um Schlaf zu finden.

Anya lag im Gästezimmer und starrte an die Decke. Dieses Haus lag weitab von allen Fernstraßen und Bahnlinien. Anya war es seit ihrer Kindheit gewohnt, das Rauschen der Fahrzeuge auf der Schnellstraße und das Blöken nächtlicher Züge zu hören, und die Stille machte sie unruhig. Alles, was sie hörte, war das Ticken einer Uhr im Wohnzimmer und das Klacken von Fays und Verns Klauen auf dem Hartholzboden, das verriet, dass die beiden Katzen durch ihr Revier patrouillierten.

Rund um das Bett verteilten sich die Überbleibsel ihrer Bemühungen, ihrem Leben wieder so etwas wie eine funktionierende Ordnung zu verschaffen: Einkaufstüten voller Klamotten und Toilettenartikel, stapelweise Papiere von Versicherungsinstituten, die sie unterschreiben sollte. Ein paar jämmerliche Häufchen persönlicher Besitztümer, derzeit die ganze Ausbeute ihres Lebens. Aber Anya ermahnte sich, dass sie schon einmal nach einem Brand von vorn angefangen hatte. Das konnte sie wieder tun. Vielleicht.

Anya rollte sich herum und boxte ein nach Lavendel duftendes Kissen unter ihrem Kopf. Sparky grollte leise im Schlaf. Er schlief um den Molchkoffer gerollt am Fußende des Betts. In der Dunkelheit glühten die Eier wie Kohlen und verbreiteten aus dem Inneren des Beutels heraus einen güldenen Lichtschein. Sie wusste, dass die Molche nirgends besser aufgehoben waren als in Katies Haus und dass Hope vermutlich eine Weile brauchen würde, um herauszufinden, wo Anya sie hingebracht hatte. Und Katies Haus war mit machtvollen Bannen geschützt. Salzlinien säumten die Fensterbänke, Türen und Fenster wurden von winzigen Pentagrammen aus geflochtenen Weidenzweigen bewacht. Der Buchsbaum, der rund um das Haus wuchs, war mit magischem Dünger versorgt worden. Katie hatte sogar schützende Obsidiane an den am schwersten erreichbaren Zugängen des Hauses platziert: rund um den Hauptwasseranschluss und die Abflüsse und auf dem Dachboden. Das Entlüftungsrohr des Trockners war mit Salbei ausgestopft. Der Kamin wurde von einem mächtigen Gesteck aus Disteln und Knoblauch versperrt. Anya konnte sogar die ganz gewöhnliche Alltagsmagie der Hexe in dem Citrusbodenreiniger riechen. Vern und Fay schoben Wache, hüpften auf Fensterbänke, ohne das Salz zu verwischen, und zwitscherten in ihrer felinen Sprache miteinander. Für eine Hexe war dieser Ort eine Festung.

Aber Anya konnte das Gefühl, verwundbar zu sein, nicht abschütteln. Sie hatte gesehen, wozu Hope imstande war.

Über Anyas Bett wachte ein Gemälde der heiteren Göttin Guanyin über die Finsternis. Das Bild war mit Wasserfarben und Tinte gemalt worden, weich und ätherisch in grünen und pinkfarbenen Pastelltönen. Guanyin hielt eine Taube in den Händen. Die Göttin der Güte und Barmherzigkeit war das ganze Gegenteil von Ischtar. Anyas Ischtargemälde, das sie aus den Flammen gerettet hatte, stand in einer Ecke an der Wand. Etwas an Ischtars tiefem Blick wirkte tröstlich auf Anya.

Sie nagte an ihrer Lippe und dachte daran, was der verrückte alte Mann auf der Geisterparty gesagt hatte: »Du hast die Augen von Ischtar.« Sie wusste nicht recht, was das zu bedeuten hatte, aber sie fühlte sich dieser fürchterlichen Göttin des Krieges und der vernichteten Liebhaber eindeutig näher als der gütigen Guanyin.

Und durch die Augen der Ischtar … sah sie Brian. Sie wollte nicht, dass Brian geschah, was Drake zugestoßen war. Wenn sie wirklich Ähnlichkeit mit der babylonischen Göttin hatte, wie sollte sie dann Brian schützen, wie sollte sie ihn fernhalten vor dieser Tücke des Schicksals, das Drake verfolgt und umgebracht hatte. War es wirklich ihr Los, jeden zu verlieren, den sie liebte?

Anya blinzelte ihre Tränen ins Kissen. Was, wenn …? Es gab keine Antwort. Niemand schien imstande zu sein, ihr eine Antwort zu geben.

Fay trottete zur Tür herein, knurrend, und Anya saß wie der Blitz aufrecht im Bett. Die Glückskatze sprang mit aufgeplustertem Fell auf die Fensterbank und fauchte. Irgendwo in der Dunkelheit des Hauses jodelte Vern. Sparky rollte sich noch enger um seinen Eierbeutel und klammerte sich mit den Zehen fest. In der Finsternis waren seine Pupillen geweitet, die Augen rund und schwarz und kalt wie die des Mannes im Museum.

Anya kroch zum Fenster und schob den zarten Vorhang zur Seite. Fetzen von etwas Substanzlosem flatterten vorüber wie ein Kaiserfisch in einem Aquarium. Andere kamen dazu, verweilten vor dem Fenster und legten ihre Hände an das Glas.

Geister. In der brodelnden Dunkelheit konnte Anya ihre sich windenden Gestalten erkennen, als sie nach einem Weg ins Innere des Hauses suchten. Sie flatterten hinauf zum Dach, huschten um das Fundament herum, fummelten an dem Stromanschlussmasten auf dem Haus ebenso herum wie an der Gasuhr. Anya umklammerte das Fensterbrett so krampfhaft, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. Hinter sich hörte sie Katies Schritte. Sie drehte sich um und sah die Hexe im Nachthemd vor sich. In der rechten Hand hielt sie eine Kerze, die nach Wachsmyrte roch. In der linken hatte sie ein Zeremonienschwert.

Es rasselte im Wohnzimmer, und Anya hörte etwas wie Sand durch den Kamin rieseln. Vern knurrte.

»An dem geschlossenen Ofenrohr kommen sie nicht vorbei«, sagte Katie. »Es ist mit sieben Pentagrammen versiegelt.«

Anya drehte sich wieder zum Fenster um. Sie schluckte schwer, als sie ein vertrautes Gesicht erblickte, das aus der Dunkelheit heranhuschte: Leslie.

Leslie schwebte an das Fenster heran. Ihr Gesicht war direkt vor dem Glas, und ihr Atem schlug sich auf der Scheibe nieder. Mit einem Finger schrieb sie die Worte »Hilf uns« in den Niederschlag. Jenseits des Gartens sah Anya einen Komposthaufen Feuer fangen. Der grelle Feuerschein drang hell durch die Atemspur auf dem Fenster.

Anya streckte die Hand nach dem Fensterhebel aus.

»Nein!« Katie stellte die Kerze in den Rahmen und packte Anyas Handgelenk. Das Kerzenlicht schien die Geister zurückzutreiben. »Lass sie nicht rein. Das ist ein Trick.«

Anya schlang die Arme um den Körper, ging zurück zum Bett und hockte sich neben Sparky. Ein leises Grollen entstieg seinem Brustkorb, tief genug, das Bett in Vibration zu versetzen.

Sie fühlte sich zerrissen. Zerrissen zwischen dem Wunsch, den Geistern zu helfen, die an die Fassade klatschten wie Motten gegen eine Laterne, und dem, sie in Stücke zu reißen, weil sie eine Bedrohung für Sparkys Gelege darstellten. Sie fühlte, wie sich der schwarze Abgrund in ihrer Brust öffnete, fühlte das Zucken ihrer Finger. Wenn einer dieser Geister an Katie vorbeikam, würde sie ihn verschlingen, selbst wenn es Bernie oder Leslie sein sollte. In diesem Punkt hatte sie keine Wahl. Doch sie betete, dass Katies Schutzmaßnahmen reichen würden.

»Was jetzt?«

Katie kniete sich auf den Boden und lehnte das Schwert an ihre Schulter. Mit ihrem offenen Haar und dem weißen Nachthemd sah sie aus, als wäre sie einem von Dante Rossettis präraffaelitischen Gemälden entsprungen. Sie war geradezu eine leibhafte Vision der Beatrice. »Wir tun einfach gar nichts. Wir warten bis morgen früh oder bis sie aufgeben.«

Anya sah sich zu dem Bild der Guanyin um.

Katie hatte recht: Dies war nicht der richtige Zeitpunkt für Barmherzigkeit.

Dies war die Zeit des Krieges.