KAPITEL SIEBEN
Anya trottete durch das feuchte Gras zum Nachbargrundstück. »Entschuldigen Sie?«
Die Frau im Bademantel blickte auf. »Ja?«
»Wir sind … äh, wir arbeiten für Ihre Nachbarn.« Anya zeigte mit dem Daumen auf den Van, der am Bordstein parkte, und die Computerkabel, die sich aus dem Fahrzeug Richtung Haustür schlängelten. »Ich hoffe, wir stören nicht.«
»Ganz und gar nicht.« Die Frau schüttelte den Kopf. »Wir sind gerade erst eingezogen, und der Herr weiß, wir haben bei den Umbauarbeiten mehr als genug Lärm gemacht … Ich hab ein ganz schlechtes Gewissen, weil wir uns noch nicht vorgestellt haben.«
»Ich bin Anya.« Sie streckte die Hand aus, um sich zu vergewissern, dass die Frau wirklich aus Fleisch und Blut war.
»Leslie.« Ihr Handschlag war fest, ihr Lächeln strahlend, auch wenn Anya dunkle Ringe unter ihren Augen sah. Sie hatte nicht gut geschlafen. »Gehören Sie zu einem Generalunternehmen? Wir könnten vielleicht Hilfe bei den Elektroinstallationen im Keller brauchen, die wir erneuern wollen.«
»Wir sind keine Handwerker.« Anya atmete tief durch. Dieses Gespräch könnte eine wirklich üble Wendung nehmen, und Anya bemühte sich, den Ball flach zu halten. »Wir sind eher so etwas wie spirituelle Berater.«
Leslie ließ ihre Hand fallen wie einen heißen Stein und trat einen Schritt zurück. »Wir gehören bereits einer Kirche an.«
Anya schüttelte den Kopf. »Nein, wir sind Geisterjäger. Ihre Nachbarn verzeichneten in ihrem Haus einige sonderbare Vorkommnisse und riefen uns, damit wir uns die Sache ansehen.«
Leslies Schultern sackten herab. Sie machte plötzlich einen deprimierten Eindruck. »Oh.«
Sparky lief zu ihr und schnüffelte an ihr. Anya wusste, dass auch er den scharfen Geruch der Magie an ihr wahrnahm. Was war sie? Eine Hexe? Sie wirkte so endlos … durchschnittlich.
»Ich möchte nicht neugierig erscheinen, aber … haben Sie etwas Ungewöhnliches bemerkt, seit Sie hier eingezogen sind?« Anya achtete darauf, in neutralem Ton zu sprechen, keinesfalls anklagend zu klingen. An dieser Frau war nichts von der Bosheit zu spüren, die sie bei Hope wahrgenommen hatte.
Leslie seufzte, verlagerte ihr Gewicht von einem Fuß auf den anderen und krümmte im feuchten Gras die Zehen. Endlich sagte sie: »Möchten Sie nicht auf einen Kaffee mit reinkommen?«
Anya lächelte. »Kaffee wäre toll.«
»Bitte achten Sie nicht auf die Unordnung«, warnte Leslie, als sie durch den Garten gingen und die Haustür öffnete.
Sofort fühlte sich Anya an Bernies Haus erinnert. Es lag nicht nur an den Kisten, die sich an den Wänden stapelten, dem Trockenbaustaub und den Farbdosen. Es lag am Geruch: Jenseits der frischen Farbe und dem nach Tannen duftenden Reinigungsmittel sammelte sich Magie gleich Wollmäusen in den dunklen Ecken des Hauses. Zu Anyas Füßen rümpfte Sparky die Nase und schnaubte, als hätte er Löwenzahnsamen eingeatmet.
Leslie stöpselte in der Küche die Kaffeemaschine ein. Die Schränke waren noch in Arbeit, die Türen ausgehängt, sodass das Innere der mit Geschirr und Lebensmitteldosen vollgestopften Fächer offen sichtbar war. Leslie suchte in einem der Fächer nach Kaffeefiltern.
»Das ist unser Traumhaus«, erzählte sie, als sie den Kaffee dosierte. »Ich meine, noch sieht man nichts davon, aber wir haben jahrelang nach einem Haus gesucht, das wir kaufen wollen.«
»Es heißt, der Markt wäre derzeit vorteilhaft für Käufer.«
»Ja. Deswegen konnten wir uns auch ein Haus leisten. Mein Mann bekommt keinen Kredit. Die Fabrik hat ihn entlassen, und er ist seit sechs Monaten arbeitslos. Mein Job ist zwar sicher, aber trotzdem wollte uns niemand ein Darlehen geben. Am Ende haben wir dann Hilfe bekommen.« Ihre Augen leuchteten auf, als sie das erzählte, und mit einem Mal kam sie Anya furchtbar jung vor. Furchtbar jung und naiv, da sie eine Fremde einfach in ihr Haus einlud.
Die Kaffeemaschine rülpste und blubberte, während sich die Kanne füllte. Sparky schob sich Richtung Arbeitsplatte, und sie bedachte ihn mit einem giftigen Blick. Sogleich schlich er zurück und legte sich zu Anyas Füßen auf den Boden.
Leslie brachte zwei dampfende Becher Kaffee an den Küchentisch. »Zucker oder Sahne?«
»Nein, danke.« Anya nippte an der dampfenden Flüssigkeit. Sie fühlte, wie der Kaffee durch ihre Kehle glitt, doch sie fühlte keine Regung in ihrem Inneren, die andeutete, das ein Geist in der Nähe wäre.
»Ich schätze, unsere finanziellen Verhältnisse interessieren sie nicht die Bohne.« Leslie lächelte verlegen in ihren Becher. »Sie fragten, ob hier seltsame Dinge geschehen wären.«
Anya nickte. »Erzählen Sie.«
Leslie deutete auf den Fliesenspiegel hinter der Arbeitsplatte, streckte die Hand aus und schob einen Karton zur Seite. Von der Steckdose in der Wand breitete sich ein kohlschwarzer Fleck aus. »Wir hatten einige sonderbare Brände. Kleine Brände: der Toaster, die Fußleistenheizung, eine Herdflamme.«
Anya musterte sie aufmerksam. »Was, denken Sie, hat diese Brände ausgelöst?«
Sie schüttelte den Kopf. »Erst dachten wir, irgendwas wäre mit der Elektroinstallation nicht in Ordnung. Wir hatten das Haus von einem Gutachter prüfen lassen, ehe wir es kauften. Er hat keine Schäden festgestellt. Aber jetzt … ich weiß auch nicht.«
Leslie beugte sich vor. »Ich habe ständig diese Träume. Träume, dass etwas Schlimmes passieren wird. Dass jemand in unserem Haus ist. Nachts höre ich Stimmen, die zu mir sprechen, aber ich kann ihnen nicht antworten.« Sie starrte zu Boden und lief rot an. »Ich schwöre, ich bin nicht verrückt.«
Anya berührte sacht ihren Handrücken. »Ich bin auch nicht allwissend, Leslie, aber ich kann Ihnen versprechen, ich werde versuchen, Ihnen zu helfen. Es gibt da jemanden, den ich bitten könnte, uns zu erklären, was diese Träume zu bedeuten haben.«
»Na, das ist doch mal interessant.«
Ciro fuhr sich mit den Fingern durch den Stoppelbart. Er hatte aufmerksam zugehört, während jeder Angehörige der DAGR ihm seine Erinnerungen an den Verlauf der Ereignisse geschildert hatte, und ihnen über die Schulter geschaut, als sie ihre Beweise sortierten. Sonnenlicht drang durch die Fensterladen des Devil’s Bathtub, breite Strahlen, die den Staub einfingen, der in der Luft schwebte. Brian saß mit Max in einer Nische und erklärte ihm, wie er die Videoeigenschaften auf den drei Laptops, die er aufgebaut hatte, aufwerten konnte. Katie machte Kopien von den Audioaufnahmen. Anya und Jules ordneten die handschriftlichen Notizen. Niemand war nach Hause gefahren, um sich schlafen zu legen, alle hatten so schnell wie möglich das Beweismaterial sichten wollen, auch wenn Max’ Kopf immer wieder herabsank, um gleich darauf im Erwachen ruckartig hochgerissen zu werden.
»Die Nachbarin ist der Geist. Sie muss es sein«, beharrte Anya.
Jules verschränkte die Arme vor der breiten Brust. »Das ist einfach unmöglich. Sie lebt doch noch.«
Ciro reckte einen Finger hoch. »Und doch könnte sie die Erscheinung sein, die ihr in dem Haus gesehen habt.«
Katie zog fragend eine Braue hoch. »Astralprojektion?«
»Ja.«
Anya runzelte die Stirn. »Ich dachte, so etwas bringen nur Yogis zustande und Leute, die in hübschen Parks meditieren, während sie sich dem Nirwana nähern. Na ja, die und Bernie.«
Ciro breitete die Hände aus. »Vieles davon ist dummes Zeug, um ehrlich zu sein. Zu viel LSD oder die richtigen Pilze können so ziemlich jeden dazu bringen zu glauben, er sei auf außerkörperliche Weise durch die Welt gereist.«
»Und welche Pilze sind die richtigen?«, fragte Max.
»Jedenfalls nicht die, die hier in der Gegend wachsen«, gab Ciro gelassen zurück. »Astralreisen erlauben es Einzelnen, eine Parallelebene der Existenz zu erobern. Diese Ebene überschneidet sich an einigen Stellen mit unserer physischen Welt, sie ermöglicht es den Astralreisenden jedoch auch, in andere, nichtphysische Gefilde aufzusteigen. Gefilde wie das Jenseits.«
»Hast du schon mal einen Ausflug ins Jenseits gemacht?«, fragte Max.
»Nein. Ich hab es nie getan und auch nie den Wunsch danach verspürt. Bernie ist gelegentlich hingegangen, irgendwann vor langer Zeit. Nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, ist das ein sehr gefährlicher Ort. Wie in der physischen Welt gibt es auch dort positive und negative Kräfte. Aber auf astralen Ebenen werden diese Kräfte nicht durch Gesetze und Regeln in Schach gehalten. Bist du schwach, wirst du leicht von negativen Wesenheiten verdorben.«
»Was meinst du? War Leslie dort? Hat sie dergleichen ebenfalls versucht?«, fragte Anya.
»Basierend auf dem, was du erzählt hast, nehme ich an, dass sie nicht die Absicht dazu hatte. Manche Leute bewegen sich mittels Willenskraft oder auch versehentlich in astrale Ebenen, während sie träumen. Du hast gesagt, sie wäre dir wie eine Schlafwandlerin vorgekommen, also gehe ich davon aus, dass es unabsichtlich passiert ist.«
»Nach allem, was wir bisher wissen, könnte sie über Jahre all ihre Nachbarn auf diese Weise heimgesucht haben«, bemerkte Katie.
»Wahrscheinlich«, sagte Brian, während er auf einer Tastatur herumhackte. »Ich bin dabei, die bekannten früheren Anschriften von Leslie Carpenter herauszusuchen und mit gemeldeten Spukerscheinungen in der regionalen Datenbank abzugleichen.«
Anya blinzelte verwirrt. »Was für eine regionale Datenbank?«
»Ich hab Berichte über paranormale Aktivitäten gesammelt und Querverweise zu Zeitraum und Ort angelegt. Zeitungsberichte, aktuelle Informationen anderer Geisterjägergruppen und so weiter. Der Datenbestand ist noch nicht annähernd vollständig, aber er könnte, wenn er es einmal ist, eine große Hilfe sein.«
Jules verdrehte die Augen. »Schläfst du eigentlich nie?«
Brian hob seinen Energydrink hoch und schüttelte ihn. »Frevler schlafen nicht.«
»Lass bloß meinen Namen da raus.« Anya ging in die Knie und kraulte Sparky, der im Sonnenschein schnarchte, den Bauch.
Brian fuhr fort: »Ich hab einen Treffer. Es gab Berichte über Spukerscheinungen in dem Apartmentgebäude, in dem sie früher gewohnt hat. Keine Details, abgesehen davon, dass zwei Bewohner ausgezogen sind.«
»Wenn sie das schon ihr Leben lang tut, was sollen wir dann tun?«, murmelte Jules.
»Ich glaube nicht, dass wir wirklich etwas tun können«, sagte Katie. »Wahrscheinlich geht das schon jahrelang so, und sie tut ja niemandem weh.«
»Sie ängstigt kleine Kinder, bis sie Rotz und Wasser heulen.«
»Die Welt ist voller beängstigender Dinge. Sie werden schon damit fertig.«
»Das sollten Sie aber gar nicht müssen.«
»Sie ist unschuldig. Sie kann nichts dafür.«
»Hey.« Brian schaltete zwischen zwei Monitoren hin und her. »Ich hab da etwas Interessantes in den öffentlich zugänglichen Behördendaten über Leslie Carpenter. Ratet mal, wer Hypothekengläubiger für ihr Haus ist.«
Anya zuckte mit den Schultern. »Überrasch uns.«
»Wunder für die Massen.«
»Hope Solomons Organisation.« Anya blinzelte ein wenig, während sie die Information verdaute. Ihre Gedanken rasten, als sie versuchte, ihr Bild von Leslie Carpenter zu justieren. War die Frau ein Opfer, oder stand sie mit Hope und ihren finsteren Geschäften im Bunde?
»Vielleicht ist sie nicht ganz so unschuldig, wie ihr gedacht habt«, grollte Jules.
Anya hob beschwörend eine Hand. »Das wissen wir noch nicht. Hope hat so einige seltsame Tricks im Ärmel. Ich war gestern in ihrem Büro und hab versehentlich-absichtlich einen Geist freigelassen, den sie in einem Gefäß auf ihrem Schreibtisch gefangen hielt.«
»Was für ein Gefäß?«, fragte Ciro.
»So was wie das hier.« Aus ihrer Handtasche zog Anya den Beweismittelbeutel mit den Fragmenten der Flasche hervor, die sie in Bernies Haus gefunden hatte.
Sie reichte ihn Ciro. Er öffnete den wiederverschließbaren Beutel mit zitternden Fingern. Im Licht der Morgensonne glitzerten Glas und Kristalle wie Kandiszucker.
»Oh«, sagte er, während er die Bruchstücke durch seine Brillengläser musterte. »Das ist ungewöhnlich.«
»Was ist das?«
»Eine Geisterfalle.« Ciro konzentrierte sich nun ganz auf Anya. »Lass es mich erklären. Ist dir das Konzept der Hexenkugel bekannt?«
Anya schüttelte den Kopf, aber Katie meldete sich umgehend zu Wort. »Das sind Kugeln aus geblasenem Glas. In der Glasoberfläche sind Fäden eingeschlossen. Manchmal nimmt man auch antike Schwimmer. Sie werden in der Sonne zugewandten Fenstern aufgehängt. Die Theorie besagt, dass böse Geister die Fasern zählen müssen, ehe sie ins Haus kommen können, und dass sie dann in den Kugeln festsitzen.«
»Wie böse Träume in einem Traumfänger.« Anya stellte sich den kreisrunden Reifen mit dem eingearbeiteten Geflecht vor, verziert mit Federn und Perlen. »Schlimme Träume bleiben in dem Netz hängen, die guten passieren es durch das Loch in der Mitte.«
»Genau. Nur, dass aus einer Hexenkugel nichts wieder herauskommt.«
»Und das Geistergefäß funktioniert ganz ähnlich«, erklärte Ciro. »Nur sind diese Behältnisse noch viel machtvoller. Ein Geist muss alle Facetten des Quarzes zählen, um zu entkommen. Der Quarz dient dabei zugleich der Isolierung oder dem Schutz des Geistes. Man nennt sie auch Hexenflaschen, Dschinnflaschen, Reliquienbehälter … du verstehst schon. Ein versierter Zauberer könnte die Flasche dazu benutzen, den Geist, der in ihrem Inneren gefangen ist, zu kontrollieren.«
»Wie werden sie hergestellt?«, fragte Anya. »Ich kann mir vorstellen, wie man einen Traumfänger anfertigt oder eine Glaskugel bläst, um eine Hexenkugel herzustellen, aber die Forensiker sagen, dass es die kristalline Struktur eigentlich gar nicht geben dürfte.«
Ciro lächelte bitter. »Das ist alte Magie. Sehr alte. Sie geht auf eine Zeit zurück, noch vor Scheherazade und Tausendundeine Nacht. Eine Theorie besagt, dass die Drusen, die man in der Natur finden kann, Gefäße sind, die Erdgeister enthalten. Werden die Drusen dann aufgebrochen, so sind die Geister frei und können auf Erden wandeln.« Er kniff die Augen zusammen. »Wo hast du das her?«
»Aus Bernies Haus.«
Ciro seufzte. »Bernie könnte den Zauber bei einer seiner Reisen kennengelernt haben. Das würde zu ihm passen.«
»Wenn Hope ihm Geld gegeben hat, dann wette ich, das Geld war für diese Flaschen.«
»Ich verstehe nicht, was sie damit will«, sagte Jules. »Die meisten Leute tun alles, um Geister loszuwerden.« Seine Miene zeigte kein Anzeichen von Besorgnis; das Schicksal der Geister in diesen Gefäßen schien ihm nicht sonderlich nahezugehen.
»Diese Geister waren einmal Menschen, Jules«, sagte Anya. »Sie verdienen es, mit etwas Respekt behandelt zu werden.«
Jules zuckte mit den Schultern. »Das aus dem Munde des Geisterexekutors. Du entscheidest, welche Geister es verdient haben, ausgelöscht zu werden. Verstehe ich das richtig?«
Anya biss sich auf die Lippe und wandte sich ab. Er hatte den Nagel auf den Kopf getroffen.
Ciro packte ihren Ärmel, und seine Hand zitterte. »Sei ganz besonders vorsichtig, Anya. Wenn Hope Geister gefangen hält, dann ist nicht einschätzbar, wie viele sie hat und was sie mit ihnen anstellt.«
Nach einem langen Tag, den sie damit verbracht hatte, die Beweise der DAGR in dem Astralprojektionsfall zu sichten, wollte Anya weiter nichts mehr als in ihr Bett kriechen.
Nun ja, vielleicht gab es doch etwas, was sie noch mehr wollte …
Brian steuerte den Van in die Auffahrt zu Anyas Haus. Dann wartete er, und seine Finger verweilten zögernd an dem Schlüssel im Zündschloss. Das Licht der untergehenden Sonne strömte in den Wagen und malte lange Schatten auf die Garage. Die Sonne war so hell, sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht erkennen, nur das Glitzern des Schlüssels in seiner Hand.
»Willst du mit reinkommen?«, fragte sie, wobei sich ein vage schüchterner Ton in ihrer Stimme bemerkbar machte.
Er zog den Schlüssel ab. »Okay.«
Er folgte ihr in dem blendenden Sonnenschein zur Tür. Anya schirmte die Augen ab, während sie aufschloss, und fühlte, wie die Strahlen auf ihrer Wange brannten. Rote Sonnenschatten tüpfelten ihr Sichtfeld, als sie in den kühleren Schatten des Hauses trat.
»Hey.« Er ergriff ihre Hand, als die Tür hinter ihm ins Schloss fiel.
Sie fühlte, wie seine Lippen die ihren in der glühenden Dunkelheit streiften. Als sie emporgriff, um seine Wange zu berühren, war die noch immer sonnengewärmt. Und auch sein Kuss war warm, ganz anders als die kalten Geister, die sie verschlang. Er fühlte sich solide an. Echt.
Anya drängte sich an ihn, gierte nach seiner Wärme. Brian wich zurück, bis er mit dem Rücken an der Tür lehnte, aber er zog sie mit sich. Seine Finger wühlten sich in ihr Haar, und er versengte ihre Lippen mit einem Kuss, so heiß, dass sie ihn bis in die Fußsohlen spürte.
Ihr Verlangen blendete für diesen einen Moment die Furcht aus, die sie vor der Nähe zu einem anderen menschlichen Wesen empfand. Sie wollte diesen Moment auskosten. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um erst das eine, dann das andere geschlossene Auge zu küssen, und sie hörte, wie sich sein Atem in der Kehle verfing, als ihre Finger in seine Jacke glitten und über seine Brust wanderten.
Der Salamanderreif an ihrem Hals regte sich.
Nicht jetzt, dachte sie nachdrücklich.
Sie ergriff Brians Hand und führte ihn den Flur hinunter. Mit der freien Hand löste sie den Salamanderreif von ihrem Hals. Sie hatte ihn noch nie abgenommen, aber nun warf sie den zappelnden Reif auf den Toilettentisch im Badezimmer, wo er mit einem lauten Klimpern landete.
»Du …«, setzte Brian an.
Sie legte einen Finger auf seine Lippen und zog ihn in das dunkle Schlafzimmer. Rotes Licht sickerte durch die Fensterläden und malte Streifen von Sonnenschein und Schatten auf Anyas Bett. Gegenüber dem Bett stand Sparkys Hundekorb, den er nie benutzte, umgeben von seinen Spielsachen. Für einen Augenblick fühlte sie sich schuldig. Sie wandte sich von dem Anblick ab und schlang die Arme um Brians Hals.
An der Wand hielt das finstere Porträt von Anya über die Schulter hinweg Wache, während die echte Anya Brian in den kunstvollen magischen Kreis auf dem Boden des Schlafzimmers hineinzog. Der Kreis war unvollendet. Von Süden bis Südosten war er offen. Anya schloss die Lücke, in dem sie den Gürtel ihres Morgenrocks mit den Füßen zurechtschob. Einmal geschlossen, würde dieser Kreis alle magischen Kreaturen fernhalten. Sogar Salamander. Sie hatte nicht die Absicht, Brian zu erzählen, woher sie diesen kleinen Trick kannte und dass er ihr von dem Mann beigebracht worden war, der das Porträt der Ischtar gemalt hatte.
Brian legte die nackten Hände um ihre bloße Kehle. Sie schwelgte in dem Gefühl seiner Finger auf ihrer Haut, als diese sie liebevoll auszogen. Anya schaffte es eher unbeholfen, ihm das Hemd über den Kopf zu ziehen, und war sofort gebannt von Brians kraftvoller Bauchmuskulatur. Das war nicht der Körper eines Programmierers; er hatte die sehnige Gestalt eines Soldaten. Fasziniert strich sie mit der Hand über seine Leibesmitte, ertastete die Muskeln und mit ihnen jedes kleine Zucken.
Ihre Bluse rutschte über ihren Rücken, und die Knöpfe fühlten sich auf ihrer Haut so heiß an wie Münzen auf sonnengeflutetem Asphalt. Reflexartig zuckten ihre Hände hoch, um die Narben auf ihren Brüsten zu verdecken, aber er schob sie weg, und seine Finger und Lippen erkundeten jede Rille, jede Delle.
In einem Gewirr aus Kleidungsstücken fielen sie auf das Bett. Anya grollte verärgert, als sie sich als unfähig erwies, den sturen Knopf an Brians Jeans zu lösen, bis sie es beim dritten Versuch dann doch schaffte, nachdem Brian sich auf den Rücken gedreht hatte und sie rittlings auf ihm hockte.
»Du«, flüsterte er und umfasste mit beiden Händen ihr Gesicht. Nie zuvor hatte Anya ein einzelnes, ganz gewöhnliches Wort gehört, das zugleich so unendlich liebevoll und eindringlich geklungen hatte.
Er drehte sich mit ihr und breitete all diese prachtvolle Hitze über ihrem Körper aus. Sie umschlang ihn. Ein Sonnenstrahl huschte über Anyas Augen und blendete sie, als er sich in ihr regte.
In der flirrenden Hitze der untergehenden Sonne vergaß Anya alles. Sich selbst, die spontane menschliche Selbstentzündung, die DAGR. Sie vergaß sogar den Salamander, den sie aus dem Kreis ausgesperrt hatte.
Sie vergaß alles bis auf: »Du.«
Die Sonne schwand aus dem Tag, und Anyas Kopf lag im grauen Dämmerlicht der Nacht auf Brians Brust. Der regelmäßige Schlag seines Herzens war beruhigend und gerade laut genug, um Sparkys Tapsen jenseits des magischen Kreises zu übertönen. Dann und wann tauchte seine Schnauze in Sichthöhe auf, wenn er sich winselnd auf die Hinterbeine erhob. Gelegentlich, wenn Sparky den Leuchtfreund betatschte, eines der wenigen Spielzeuge, die auf Resonanz gestoßen waren, sah sie auch Licht in der Nähe des Hundekorbs aufflackern, den sie in einer Ecke des Raums untergebracht hatte. Anya tat ihr Bestes, um ihn zu ignorieren, und presste das Ohr noch etwas fester an Brians Brust.
Das Licht der Straßenlaternen sickerte durch die Fensterläden herein und fiel auf das Ischtar-Gemälde an der Wand. Das in die Farbe gemischte mineralische Pulver funkelte in der Düsternis wie der Quarz in Bernies Geisterfalle. Wie sie dem Betrachter auf dem Bildnis entgegenblickte – kühl, distanziert, machtvoll –, wurde sie wieder einmal daran erinnert, wer sie nicht sein wollte. Aber sie fühlte sich jetzt auch nicht wie Ischtar. Sie fühlte sich warm und sicher.
Brians Finger erkundeten ihren nackten Hals. »Ich hab dich noch nie ohne diesen Reif gesehen.«
Anya zog das Laken unters Kinn. »Ich hab ihn getragen, solange ich mich erinnern kann.«
»Und deine Mom hat ihn dir gegeben? Sie hat dir Sparky gegeben?«
»Sozusagen.« Sie biss sich auf die Lippe und überlegte, wie viel sie ihm erzählen sollte. Irgendwie schien es hier, in der Dunkelheit, einfacher, sich ihm zu offenbaren, denn hier sah sie ihm nicht in die Augen. Sie konnte aus ihrer Position nun nicht einmal mehr das Ischtar-Gemälde sehen, diese Repräsentation ihrer dunklen Seite. Anya hörte, wie Sparky vom Schlafzimmer ins Badezimmer und wieder zurück tapste, eine nervöse Patrouille, bei der seine Klauen auf dem Boden tickten wie eine Uhr. Es war an der Zeit, Brian die Wahrheit zu sagen.
Und doch fürchtete ein Teil von ihr noch immer, zurückgewiesen zu werden, und es dauerte ein paar Minuten, bis sie das Beben ihrer Stimme unter Kontrolle hatte. »Als ich zwölf war, ist unser Haus abgebrannt. Es war meine Schuld … ich hab mich runtergeschlichen, um die Christbaumbeleuchtung wieder einzustöpseln, und bin davor eingeschlafen. Als ich aufwachte …« Ihre Stimme brach, und Brian streichelte ihr Haar.
»Als ich aufwachte, stand das Zimmer in Flammen. Durch den Sauerstoffmangel wurde das Feuer ins Obergeschoss gesogen, wo meine Mutter schlief. Sie hatte keine Chance.«
Anya biss sich auf die Lippe und lauschte Brians beschleunigtem Herzschlag, versuchte, das Urteil herauszuhören, das sich dahinter verbergen musste.
»Das war nicht deine Schuld«, murmelte er schließlich nah an ihrem Kopf.
»Das hat der Priester auch gesagt. ›Nicht meine Schuld.‹ Aber es hat sich für mich anders angefühlt. Und das tut es noch.« Anya rieb sich die Nase, die plötzlich lief. »Der Reif – Sparky – ist alles, was mir aus diesem Leben geblieben ist.«
»Du bist mit ihm aufgewachsen?«
»Ja. Er war immer da. Ich weiß nicht, wo meine Mom ihn herhatte. Sie hat mir erzählt, er hätte zusammengerollt in meinem Kinderbett geschlafen. Er war mir immer … ein Beschützer. In der Nacht des Feuers hat er mich aus dem Haus gezerrt.« Anya blinzelte gegen ihre verschwommene Sicht an und fühlte sich schlecht, weil sie den Salamander aus dem Bett vertrieben hatte. Sie hob den Kopf und lauschte. Sparky wanderte nicht mehr umher. Zweifellos lag er schmollend in irgendeiner Ecke des Hauses und überlegte, welche Kabel er annagen sollte. Anya hatte nicht daran gedacht, sich einen magischen Kreis um den neuen Fernseher ziehen zu lassen, aber nun zog sie es in Erwägung.
»Er hat Glück, dass er dich hat.«
Anya setzte eine nachdenkliche Miene auf. Der Salamander war untrennbar mit ihr verwoben. Selbst wenn sie wollte, sie könnte sich niemals ganz von ihm lösen.
Aber in dieser einen Nacht genoss sie die Stille und die kühle Luft auf der bloßen Haut ihres Halses, während sie schlief.
Im grauen Licht der Morgendämmerung erwachte sie, schlängelte sich aus Brians Armen und trottete ins Badezimmer. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrem Körper aus, und sie schnappte sich den Morgenmantel, der an einem Haken im Badezimmer hing.
Sie schaltete das Licht an, griff nach dem Salamanderreif auf dem Tischchen und legte ihn um ihren Hals. Aber er fühlte sich kalt an, leer. Panik machte sich in ihrem Bauch breit.
»Sparky?«, flüsterte sie.
Ein leises Tschirpen erscholl aus der Badewanne hinter dem mit Cartoon-Gummienten verzierten Duschvorhang. Anya zog den Kunststoffvorhang zur Seite und keuchte auf.
Das Innere der Badewanne war von einem kristallinen Belag überzogen wie das Innere einer Druse. Der Salamander lag mitten in der Wanne, zusammengerollt um etwas, das aussah wie ein Haufen Murmeln. Müde blickte er zu ihr empor und trillerte.
Anya ging neben der Wanne in die Knie und streckte die Hand aus, um ihn zu streicheln. »Was ist passiert? Geht’s dir gut?«
Der Salamander leckte ihr Handgelenk und ließ den Kopf wieder auf die Murmeln sinken. Anya streichelte seine Körperseite. Die Haut über seinen Rippen fühlte sich schlabbrig an.
Vorsichtig ergriff sie eine der Murmeln. Sie erinnerte an die gläsernen Katzenaugenkugeln, mit denen sie als Kind gespielt hatte. Aber sie war warm und rau wie die Oberfläche eines Steins. Anya hielt sie ins Licht der Badezimmerlampe und sah, wie es durch die geriffelte Oberfläche drang.
Beinahe hätte sie die kleine Kugel fallen lassen, als sie darin einen winzigen Salamander entdeckte, zusammengerollt zu einer fötalen Haltung.
»Oh, Sparky, was hast du getan?«