KAPITEL FÜNF

Im Lokalteil der Morgenzeitung verkündeten dicke Lettern gleich auf der ersten Seite: DFD UNTERSUCHT ANGEBLICHEN FALL VON SPONTANER MENSCHLICHER SELBSTENTZÜNDUNG. Der Artikel befasste sich unter Bezug auf eine unbekannte Quelle mit den grausigen Einzelheiten des Tatorts im Fall Jasper Bernard und warf die Frage auf, wie »hilflos« das DFD diesem Fall gegenüberstehen mochte. Erwähnt wurde auch, dass mit dem Tatort »nicht sachgemäß verfahren« worden und es zu einem Einbruch gekommen sei, womit alle Beweise in diesem Fall fragwürdig geworden seien.

Anya verdrehte die Augen. Mit Sicherheit würde der Herausgeber nun so manchen Leserbrief erhalten, in dem die Inkompetenz des DFD lang und breit dargelegt werden würde. Auf der Suche nach dem nächsten Teil des Artikels blätterte sie um, hielt aber zunächst bei einem anderen Beitrag inne, demzufolge die Detroit Tigers der Stadt im Lauf der Saison Mehrwertsteuereinnahmen in erfreulicher Höhe eingebracht hätten. Und im Detroit Institute of Arts, so wurde doppelseitig und in Farbe verkündet, sollte bald eine Ausstellung über altgriechische Kunst stattfinden, die ihr Interesse weckte. Die Fotos zeigten verblasste Urnen und Amphoren, die mit den Umrissen von Göttern und Tieren geschmückt waren. Einer der Gegenstände wurde als »Büchse der Pandora« bezeichnet. Der mächtige Pithos war mit mythischen Bildern bemalt. Wissenschaftler vermuteten, dass das Gefäß selbst älter war als die Verzierung, was zu Debatten über Echtheit und Herkunft des Artefakts geführt hatte. Einige Experten behaupteten, es handele sich um Pandoras mythischen Krug, andere beharrten darauf, dass dieses Behältnis ursprünglich einem vollkommen anderen Zweck gedient hatte, möglicherweise als Urne. Eine dritte Fraktion nahm an, dass es sich lediglich um ein Stück Alltagskunst handelte, gehauen aus einem ungewöhnlichen Stein.

»Ms Kalinczyk?«

Anya blickte auf und klemmte sich die Zeitung unter den Arm. Der Wartebereich, in dem sie saß, war der Firmenzentrale von GM würdig: Topfpflanzen, moderne, chromverzierte Möbel, Pastell-Aquarell-Kunst. Keine Drucke – Originale. Ein gewaltiger Strauß Stargazer-Lilien erblühte auf dem Kaffeetisch, allerdings hatten sie eigentümlicherweise jeglichen Duft verloren. Die Empfangsdame, die vor ihr stand, war ausgestattet mit einem makellosen Designeranzug und protzte mit fünf Zentimeter langen Fingernägeln mit Airbrushmotiven, die sich offenkundig noch nie beim Tippen hatten bewähren müssen. Das ganze noble Ambiente war bei einer gemeinnützigen Organisation, die in einem unauffälligen Gebäude residierte, in einem Viertel voller Lagerhäuser, in dessen rissigen Bürgersteigen das Unkraut wucherte, vollkommen fehl am Platz. Wunder für die Massen versteckte sich hinter einer hübschen Armutsfassade, doch hinter diesem äußerlich so tristen Horizont verbarg sich ein üppiger Silberstreif. Die Klimaanlage war weit aufgedreht und verpulverte das Geld geradezu durch ihre Lüftungsöffnungen.

»Ja?«, antwortete Anya leicht ungehalten. Sie wartete bereits seit einer Stunde darauf, dass Hope Solomon endlich ihren Kaffee austrank und sich dazu herabließ, Besucher zu empfangen.

»Ms Solomon wird Sie jetzt empfangen.«

»Fantastisch.« Sie erhob sich und folgte der Empfangsdame einen pfirsichfarbenen Korridor hinunter, der mit Vollspektrumlampen beleuchtet wurde, die das Tageslicht simulierten. In diesem Pastellpalast fühlte sich Anya so fehl am Platz wie eine Krähe bei einer Gartenparty.

Die Empfangsdame öffnete eine Tür und bedeutete Anya einzutreten. Anyas Schuhe versanken in dem dichten weißen Teppichboden. Von oben strömte blendend helles Sonnenlicht in den Raum. Als ihre Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, musterte Anya eingehend die kleine blonde Frau hinter dem gläsernen Schreibtisch. Sie trug einen rosafarbenen Hosenanzug.

»Ms Kalinczyk.« Die Frau erhob sich, streckte ihr eine Hand entgegen, an der goldene Armreifen klimperten, und schenkte ihr ein warmes Lächeln. »Ich bin Hope Solomon.«

»Ich freue mich, Sie kennenzulernen.« Anya ergriff die Hand. Sie fühlte sich so kalt an wie die einer Leiche.

Und sie roch nach Magie. Nein, sie stank geradezu nach säuerlicher, finsterer Magie, so intensiv, wie manche andere Frauen das Odeur eines billigen Parfüms verströmten. Es war nicht der angenehme weißmagische Kräutergeruch, von dem Katie umgeben war. Es war der metallische Gestank von Ozon, ein Geruch, wie er nach einem Blitzschlag häufig in der Luft lag. Und alle Chanel-Vorräte auf Erden vermochten ihn nicht zu übertünchen.

Hopes blaue Augen verengten sich kaum merklich, als sie Anyas Hand ergriff. Für einen Augenblick huschte ihr Blick zu dem Salamanderreif um Anyas Hals, und Anya fühlte, wie sich der Reif erhitzte, als Sparky sich in ihm regte. Hope ließ Anyas Hand ein wenig zu schnell los; Anya fragte sich, was die Frau gespürt haben mochte. Konnte sie die Verbrennungsrückstände einer Laterne an ihr wittern?

Hope nickte und zog sich hinter ihren Schreibtisch zurück. Anya betrachtete interessiert die gläserne Phiole, die sie als Anhänger an einer Halskette trug. Sie schien aus schlichtem, undurchsichtigem Glas zu bestehen, verströmte aber den beißenden Gestank der Magie. Die Frau setzte sich und bot Anya mit einer Geste den Lehnsessel vor dem Schreibtisch an, womit dieser zu einer Barriere aus Chrom und Glas zwischen den Frauen wurde. »Man sagte mir, Sie stellen Ermittlungen an.« Hopes Stimme erklang unverändert in dem kontrollierten Gurrton, den Anya im Fernsehen gehört hatte.

»Ja.« Anya setzte sich und fühlte, wie Sparky um ihren Hals tänzelte. Eine Zunge schoss in ihr Haar. »Ein Schriftstück von Ihnen wurde im Haus von Jasper Bernard gefunden.« Sie wollte vorerst nicht zu viel verraten. Sie wollte, dass Hope sich fragte, welcher Art das Material sein mochte, das sie in ihrem Besitz hatte. Anya hatte nichts zu gewinnen, wenn sie verriet, dass es lediglich um den Fetzen eines Umschlags und die Ecke eines Schecks ging.

»Der Name sagt mir nichts. Benötigt Mr Bernard Hilfe?«

»Er ist tot.« Anya ließ Hope nicht aus den Augen. Hope zeigte keine Reaktion auf diese Neuigkeit. Weil es für sie keine war. Vielleicht hatte sie ja darüber in der Zeitung gelesen. Oder sie hatte es schon vorher gewusst.

In einem Ausdruck der Anteilnahme legte Hope die Finger an das Kinn. »Oje!«

Anya kaufte ihr die Betroffenheit nicht ab. »Bernards Kontenüberprüfung ergab, dass er in den letzten fünf Jahren mehrere Schecks von Ihnen erhalten hat, deren Höhe zwischen fünfhundert und zehntausend Dollar lag.«

»Ich kann mit unserer Buchhaltung Rücksprache halten und fragen, was die darüber wissen. Bedauerlicherweise kann ich mich nicht an jede einzelne Finanztransaktion erinnern. Dafür ist unsere Organisation viel zu groß.« Ihre Finger zeichneten ihr Büro und die Welt drumherum nach. »Ich bin überzeugt, das können Sie verstehen.«

Anya fühlte, wie sich Sparky von ihrem Hals löste und zu Boden sprang. Der Salamander tapste über den dicken Teppich und schritt das Büro ab. Seine Zunge zuckte über die Bücherregale, in denen ein Breitwandfernseher stand, und über die Topfpflanzen, ehe er sich auf die Hinterbeine stellte, um den Schnickschnack in den Fächern zu untersuchen.

»Ich wäre erfreut, wenn Sie mir die Unterlagen zukommen ließen«, sagte Anya milde. Sie hatte wenig Lust, Zwangsmaßnahmen zu ergreifen, aber sie würde es tun, sollte sie die gewünschten Informationen nicht in Kürze erhalten. »Vielleicht würde es mir helfen, mehr über Mr Bernard zu erfahren, wenn Sie mir erklären könnten, was genau Ihre Organisation tut.«

Scheinbar mühelos schlüpfte Hope in die Haut eines PR-Profis und war sodann ganz die Sonnenscheinpersönlichkeit aus ihrer Fernsehsendung. »Wunder für die Massen engagiert sich im Dienst von Detroit und Umgebung, indem die Organisation verdienten Bürgern Wünsche erfüllt. Wir bieten Schulungen an, die es den Menschen ermöglichen, ihre Ziele mit dem Universum in Einklang zu bringen und den Lohn dafür zu ernten.«

»Dann ist das hier so etwas wie eine Kirche?«

»Nein. Wir ordnen uns nicht als Kirche ein.«

Anya sah sich in dem gut ausgestatteten Raum um. Sparky bummelte zurück in die Mitte des Raums und schnüffelte an Hopes Schreibtisch. »Ich fürchte, ich verstehe noch immer nicht, was genau Sie verkaufen.«

»Wir sind eine gemeinnützige Organisation gemäß den Gesetzen dieses Staates hinsichtlich wohltätiger und bildungsorientierter Maßnahmen.« Hopes Lippen spannten sich. »Wir bieten Seminare zur Selbstverwirklichung an, um den Menschen zu helfen, ihrer wahren Bestimmung zu folgen.«

»Wie viel kosten die Seminare?« Anya lehnte sich in dem Sessel zurück.

»Wir arbeiten mit einer Gebührenstaffel. Den Mitgliedern wird ein Betrag basierend auf ihrer Zahlungsfähigkeit in Rechnung gestellt.«

»Nun denn …« Anya beugte sich vor. »Erzählen Sie mir von den Wundern.« Sparky reckte den Kopf vor, um an dem Telefon auf dem Schreibtisch zu schnüffeln. Das Gerät rülpste einen Piepton hervor, und Hope zuckte erschrocken zusammen.

Sparky richtete sich weiter auf, um an dem Kartenhalter auf dem Schreibtisch zu riechen. »Unsere Referenzen sind beeindruckend. Zwar können wir keine Wunder garantieren, doch unsere Statistik deckt die gesamte Erfolgsskala ab – von geheilten Krebspatienten im Endstadium bis zu zwei Lottogewinnern. Unsere Seminare haben es den Menschen gestattet, die Macht ihrer eigenen Wünsche zu bündeln, um einen neuen Job zu finden, ihre Ehe zu retten oder ihre Kinder von Drogen wegzubringen. Das Wünschen ist ein machtvoller Prozess. Wir sind ganz einfach dafür da, diesen Prozess zu unterstützen.«

Sparky krabbelte halb auf den Schreibtisch, um an dem Kartenhalter zu lecken. Gleich darauf verzog er das Gesicht und widmete sich der mit einem umlaufenden Kirschblütenzweig verzierten und mit einem Porzellanstopfen geschlossenen, rotbraunen Cloisonnévase. Sie sah sehr alt aus; die Emaille war an mehreren Stellen rissig. Sparky schlug nach der Vase, war aber nicht imstande, das Ding in Bewegung zu versetzen. Schließlich drehte er den Kopf hierhin und dorthin, um es genauer in Augenschein zu nehmen, dabei wirkte er äußerst fasziniert.

»Ich wüsste es zu schätzen, wenn Ihre Buchhaltung mir auch eine Kopie Ihres jährlichen Geschäftsberichts zukommen ließe«, murmelte Anya.

»Unsere Finanzen unterstehen nicht der Kontrolle durch das Detroit Fire Department.« Hopes Haut wirkte nun so gespannt, als wäre sie kurz davor aufzuplatzen wie einst die Emaille an der rotbraunen Vase.

»Dies ist ein gemeinnütziger Verein. Ich bekomme die Daten von Ihnen oder ich bekomme sie mit behördlicher Anordnung vom Finanzamt«, sagte Anya und faltete geziert die Hände im Schoß. »Und es ist nicht an Ihnen, über das Ausmaß der Ermittlungen zu befinden.« Sie mochte vielleicht nicht in der Lage sein zu verhindern, dass Hope verzweifelte Menschen um ihr Geld brachte, aber sie konnte ihr definitiv das Leben ein bisschen schwer machen. Aus dem Augenwinkel sah sie, wie Sparky nach dem Stopfen der Vase schlug. Sie glaubte ein Klopfen aus dem Inneren zu hören wie von einem pickenden Vogel.

Hope erhob sich abrupt. »Ich fürchte, ich habe noch einen anderen Termin. Meine Buchhaltung wird sich mit Ihnen in Verbindung setzen und Ihnen die Informationen zukommen lassen, die Sie legal beanspruchen können.«

»Danke für Ihre Mitarbeit.« Anya musterte Sparky, der immer noch hartnäckig an der rotbraunen Vase herumfummelte.

Sie griff über den Schreibtisch, um Hope die Hand zu schütteln, und gestattete sich im Zuge dessen, mit dem Saum ihres Mantels die Emailleoberfläche zu streifen und die Vase umzustoßen. Das Gefäß kippte auf die Seite und rollte über den Schreibtisch. Hope stürzte hinterher, aber zu spät. Der Stopfen löste sich rasselnd, und heraus toste ein Geist in einer Explosion kalter Luft. In einem Strudel weißen Äthers raste er zu dem Oberlicht hinauf und verschwand.

Bemüht, ihren Schrecken zu verbergen, bückte sich Anya, um den Stopfen vom Boden aufzuheben. Ihre Finger streiften die scharfkantige Innenseite, die ihr entgegenglitzerte wie eine Druse. Genau wie das Innere der Flasche, die Anya in Bernies Kamin gefunden hatte.

Anya legte den Stopfen vorsichtig zurück auf den Schreibtisch, die funkelnde Seite nach oben gewandt. Hope riss die Vase an sich und schlang die Arme darum wie ein Kind, das ein Glas voller Glühwürmchen an sich drückte. Ihre Miene spiegelte kaum unterdrückten Zorn wider.

»Ich hoffe, ich habe Ihre … Antiquität nicht beschädigt«, sagte Anya milde.

Hopes Züge entspannten sich wieder, und sie stellte die Vase zurück auf den Tisch. »Nichts passiert.« Ihr Blick aus den zusammengekniffenen Augen streifte über Anya hinweg, und Anya wurde klar, dass Hope sehr wohl gewusst hatte, was in der Vase gewesen war. Nun, da der Geist fort war, fühlte Anya, wie Sparky über ihren Ärmel zurück zu ihrem Hals kletterte. Und sie stellte fest, dass Hopes Augen ihm folgten. Sie sah ihn.

»Da wir gerade von Antiquitäten sprechen, Ms Kalinczyk … Das ist ein interessanter Halsreif.«

Anyas Hand ging instinktiv zu dem Schmuckstück. Es war so sehr ein Teil von ihr, dass sie bisweilen glaubte, es wäre den Blicken anderer Menschen ebenso verborgen wie Sparky. »Danke.«

Hope beäugte den Reif wie ein Gemmologe einen Diamanten, und die Drohung in ihren nächsten Worten wog schwer. »Solch ein wertvolles Stück würde ich stets genau im Auge behalten. Derlei Kostbarkeiten verschwinden nur allzu leicht.«

Anya kniff die Augen zusammen, aber ihre Finger umfassten weiter den Halsreif, selbst dann noch, als sie das Gebäude verließ und zurück in den Sonnenschein trat, der es doch nicht schaffte, die von Hope ausgehende Kälte zu vertreiben.

Das Detroiter Kriminallabor war jahrelang geschlossen gewesen, nachdem eine Kontrolle einen grob fahrlässigen Umgang mit Beweisen ergeben hatte. Zwar war das Labor kürzlich wieder in Betrieb genommen worden, doch der Schatten seines ehemaligen Rufs lastete noch immer auf ihm. Die neu angeworbenen Mitarbeiter reagierten empfindlich und gereizt auf Kritik, waren aber zugleich wild entschlossen, ihr Können unter Beweis zu stellen.

Das Kriminallabor, das in den oberen Stockwerken des Polizeihauptquartiers in einem Gebäude aus den 1920ern nördlich von Greektown untergebracht war, wirkte wie ein metallisch schimmernder Anachronismus. Computermonitore verströmten ihr Licht über Edelstahltische, auf denen versiegelte und beschriftete Beweismittelbeutel lagen. Auf den einzelnen Arbeitsplätzen standen fein säuberlich geordnet Mikroskope, Probengläser und Klebebandrollen. Das Licht der Leuchtstoffröhren an der Decke fiel auf gelbe Metallschränke, die geheimnisvolle Werkzeuge zur Durchführung von DNS-Analysen, Fasernuntersuchungen und ballistischen Tests enthielten.

Sparky fand die Gerätschaften unwiderstehlich, weshalb Anya ihre Besuche im Labor auf kurze Stippvisiten beschränkte. Noch während sie durch die Glastür trat, konnte sie fühlen, wie sich der Salamander an ihrem Hals regte.

»Lieutenant Kalinczyk.« Jenna Bentham, die Schichtleiterin, kam mit einem Klemmbrett in der Hand auf sie zu. Ihr weißer Kittel war perfekt gebügelt, ihre Zöpfe gestreng aus dem Gesicht gebunden. Anya sah die dicken Akten, die sich hinter ihr auf dem Schreibtisch stapelten. Trotz aller Bemühungen der Mitarbeiter hatte das Labor Arbeitsrückstände zu beklagen, doch was immer Gina den Leuten erzählt hatte, sie hatten Anyas Fall offenkundig Priorität eingeräumt.

»Was haben Sie für mich?«

»Etwas recht Interessantes. Soll ich mit dem üblichen Zeug anfangen und mich zu dem eher ungewöhnlichen vorarbeiten?«

»Gern.« Anya fühlte, wie Sparky ihren Rücken hinunterkroch. Unten angelangt, tapste er zu einem Tresen und erklomm einen Hocker. Sogleich fing er an, mit den Knöpfen einer Kochplatte herumzuspielen. Derzeit kochten auf der Platte keinerlei Beweise in Bechergläsern vor sich hin. In der Annahme, dass hier keine größeren Katastrophen zu erwarten waren, ließ Anya Sparky gewähren und widmete sich Jenna und ihren Laborergebnissen.

»Sprechen wir über die Überreste. Die Asche und die Gewebeproben, die uns vom Gerichtsmedizinischen Institut geschickt wurden, sind chemisch unauffällig. Gaschromatographie und Massenspektrometer haben keine der üblichen entflammbaren Substanzen in den Überresten des Opfers oder den Fasern des Sofas, die Sie uns geschickt haben, aufgedeckt. Keine chemischen Rückstände von Benzin, Kerosin oder dergleichen.«

»Wie steht es mit Brandbeschleunigern, die bei hohen Temperaturen abbrennen? Ich meine das eher exotische Zeug wie Feuerwerkskomponenten, Dünger, Thermitmischungen?« Anya hatte immer noch einen Funken Hoffnung, eine konventionelle Erklärung für das Geschehen zu finden.

Jenna runzelte die Stirn. »Wir hatten, offen gestanden, so etwas erwartet … aber es wurden keine Hochtemperatur-Brandbeschleuniger gefunden. Außerdem würden die auch nicht zum Tatort passen. Stoffe, die über zweitausend Grad erzeugen können, hätten den Raum stärker in Mitleidenschaft gezogen. Nein, der tatsächlich entstandene Schaden stützt diese Theorie nicht.«

»Also müssen wir davon ausgehen, dass die Leiche über längere Zeit bei niedrigerer Temperatur vor sich hin geschmort hat?« Anya legte die Stirn in Falten, denn das wiederum passte nicht zum zeitlichen Ablauf.

»Mehr haben wir nicht zu bieten.« Jenna blätterte in den Papieren auf ihrem Klemmbrett. »Da gibt es nur noch eine ungewöhnliche Entdeckung, und zwar Rückstände von Siliziumdioxid auf seinen Pantoffeln«.

»Siliziumdioxid? Quarzkristall?«

»Das ist kein Abfallprodukt irgendeines Verbrennungsprozesses. Die Partikel sind sehr klein, weniger als einen Millimeter lang.« Jenna lugte durch ihre Brillengläser. »Hätten wir es hier mit einem Hochtemperaturfall zu tun, dann wäre mit glasartigen, türkisfarbenen Überresten zu rechnen, die an natürliche Minerale erinnern, wie beispielsweise, wenn ein Flugzeug auf einer Betonstartbahn in Flammen aufgeht. Strukturell ist das ähnlich. Aber hier liegt keine solche Situation vor.«

Anya schüttelte den Kopf. »Ich verstehe einfach nicht, wie das möglich ist.«

Jenna musterte sie scharf. »Ich habe die Ergebnisse persönlich überprüft.«

Anya reckte die Hände hoch. »Hören Sie, ich stelle Ihre Arbeit nicht in Frage. Ganz und gar nicht. Diese ganze Untersuchung ist irgendwie … eigenartig. Die einzelnen Teile passen einfach nicht zusammen … naturwissenschaftlich betrachtet.« Von den weniger naturwissenschaftlichen Puzzlestücken gar nicht zu reden.

Jenna zuckte mit den Schultern. »Ich überlasse es Ihnen, die Signifikanz unserer Ergebnisse zu bestimmen und sie zu interpretieren. Sie sind die Ermittlerin.«

Anya sah sie fragend an. »Sie sagten, sie fangen mit den am wenigsten ungewöhnlichen Ergebnissen an und arbeiten sich zu den wirklich ungewöhnlichen voran.«

»Ja. Wir haben die Fragmente der Flasche untersucht, die am Tatort gesichert wurde.« Jenna hielt einen Plastikbeutel mit den Flaschenscherben hoch. »Siliziumdioxid – Quarz – daraus bestehen die Kristalle im Inneren der Flasche. Aber die Struktur ist sonderbar. In der Natur bildet sich eine Druse in Sedimentgestein oder Magmatiten. Gelöste Silikate lagern sich schichtweise in einer Geode ab, bis sich eine Druse gebildet hat. Wie dem auch sei, diese Silikate sind in Form eines kristallinen Gitterwerks mit dem Glas verbunden. Das Glas ist aber nicht älter als fünfzig Jahre – eine Weinflasche, der Markierung am Boden nach zu schließen. Es ist vollkommen unmöglich, dass sich in dieser Umgebung während eines so kurzen Zeitraums eine Druse bildet.«

Sie reichte Anya die verpackten Scherben. Jenna hatte ihr grob erklärt, wie sich Drusen in natürlicher Umgebung bildeten, aber Anya fragte sich, wie sie wohl in einer unnatürlichen Welt entstehen mochten … und ob in dieser Flasche ein Geist gewesen war, so wie in der rotbraunen Vase auf Hopes Schreibtisch.

»Ist das schon das Sonderbarste, was Sie für mich haben?«

»Nein. Ich platze beinahe vor Kuriositäten.«

Jenna überreichte ihr eine Plastiktüte, in der die Ecke des Briefumschlags und der Fetzen von dem grünen Scheck lagen, die Anya in Bernies Kamin gefunden hatte. »Wir haben einen Teilabdruck darauf gefunden. Sie werden nie erraten, von wem der stammt.«

»Rein spekulativ … von Hope Solomon, der Wundertäterin des späten Fernsehabends?«

»Nein … von Christina Modin, Trickbetrügerin.« Jenna bedeutete Anya, ihr zu einem Computerterminal zu folgen. Dort rief sie das Fahndungsfoto einer lächelnden blonden Frau mit verschmiertem blauen Eyeliner auf. Die Frau sah aus wie eine etwa zwanzig Jahre jüngere Version von Hope. Ihr Strafregister scrollte über den Rand des Bildschirms: Erpressung, Betrug, Scheckbetrug, Fälschungsdelikte.

»Das ist sie. Das ist Hope Solomon.«

Jenna zog die Brauen hoch. »Mag sein. Aber derzeit können wir das nicht beweisen. Christina Modin war in einige wirklich üble Immobilienbetrügereien in Florida verwickelt. Kreditbetrug und so was. Sie hat ihre Zeit abgesessen. Selbst wenn Sie beweisen können, dass Hope und Christina ein und dieselbe Person sind, können Sie sie nicht festnehmen, nur weil sie ein hinterhältiges Weib ist.«

Anya verschränkte die Arme vor der Brust. »Verdammt. Sie sind wirklich gut.«

Jenna unterdrückte ein Lächeln, aber Anya sah, dass sie insgeheim strahlte. »Eine letzte Sache noch … In dem Ruß rund um den Kamin waren latente Abdrücke. Die haben uns prachtvolle Fingerabdrücke geliefert, wie aus dem Lehrbuch.« Jenna schlug einen Ordner auf und zeigte Anya eine Seite mit Fingerabdrücken, die mit Hilfe von Klebeband auf dem Papier fixiert worden waren.

»Hübsch«, stimmte Anya zu. Das waren die Abdrücke, die gesichert worden waren, nachdem man Bernies Haus auf den Kopf gestellt hatte. »Stammen irgendwelche der Abdrücke von Bernie?«

»Einige konnten wir ihm mit Hilfe seiner Militärakte zuordnen. Aber wir haben noch fünf andere Sätze gefunden, die nicht von ihm sind.«

»Nachbarn? Angehörige?«

Sie schüttelte den Kopf. »Ein Satz passt zu keiner Person, die in der Datenbank des National Crime Information Center gespeichert ist. Die anderen vier stammen von einer ehemaligen Kellnerin, einem Postamtsvorsteher im Ruhestand, einem Landschaftsarchitekten und einem Collegestudenten von der Michigan State.«

»Toll. Haben Sie eine Liste der Namen?«

»Ja, habe ich, aber die wird Ihnen nicht helfen. Diese Leute sind alle tot.«

Anya blinzelte. »Tot? Sie meinen … kürzlich verstorben?«

»Der Postamtsvorsteher ist seit zwanzig Jahren tot. Der Junge aus dem College seit zwei. Die Kellnerin ist vor vier Jahren gestorben, der Landschaftsarchitekt vor zehn.«

Anyas Gedanken überschlugen sich. Was zum Teufel hatten diese toten Leute in Bernies Haus zu suchen gehabt? Bernie hatte seinen Haushalt beschissen geführt, aber dass dort bis zu zwanzig Jahre alte latente Abdrücke zu finden waren, klang sehr unwahrscheinlich.

»Können Sie mir sagen, wie frisch die Abdrücke sind?«

»Diese Frage habe ich erwartet. Wir schätzen den Ruß, in dem sie eingebettet waren, auf ein Alter von maximal sechs Monaten.«

Anya nagte an ihrer Lippe. Tote Leute hinterließen Fingerabdrücke in Bernies Haus? Sie wusste, dass Geister die physische Welt manchmal beeinflussen konnten, aber sie hatte noch nie gehört, dass sie Fingerabdrücke hinterließen. Auf was für einem bizarren Mist hatte Bernie sich da nur eingelassen?«

Jenna musterte sie lächelnd. »Sie bekommen immer die interessantesten Fälle, nicht wahr?«

Anya klappte den Mund auf, um ihr zu antworten, als sie Brandgeruch wahrnahm.

Sie wirbelte herum und sah, dass Sparky vergnügt auf dem Tresen vor der Kochplatte hockte und seinen runden Bauch an einer dreißig Zentimeter hohen gelben Flamme wärmte, die aus dem Gerät hervorloderte. Sie stürzte zu der Kochplatte und zog den Stecker.

Aber es war zu spät. Die Rauchmelder an der Decke heulten los, und das Sprinklersystem wurde aktiviert.

Jenna kreischte und versuchte, ihre Proben mit einem Aktendeckel zu schützen. Anya rannte in den Korridor, um den Hauptschalter zu suchen. Als sie schließlich das Nottelefon erreicht und den Sicherheitsdienst überzeugt hatte, den Sprinkler abzuschalten, waren die Leute bereits aus dem Haus und auf den Bürgersteig geflüchtet. Das Labor war eine klitschnasse Ruine. Pfützen zierten den Fliesenboden, Reagenzgläser hatten sich mit Wasser gefüllt, und ein Elektronenmikroskop stand in einer Wasserlache. Papiere und durchnässte Beweismittelbeutel klebten auf Tischen und Arbeitsplätzen.

Und mitten drin hockte Jenna auf einem Hocker, die Hände vors Gesicht geschlagen. »Nie und nimmer kriegen wir unsere Zulassung zurück«, schluchzte sie verzweifelt.

Alles, was Anya tun konnte, war, ihr die Schulter zu tätscheln. Sparky, der ihr Hosenbein emporkletterte und über ihre Schulter glitt, ignorierte sie. Der Salamander leckte in der Hoffnung, ihm würde vergeben, zaghaft das Wasser von Anyas Ohr. Sie reagierte nicht.

Er hatte richtig großen Mist gebaut, und er wusste es.

Der Übeltäter rollte sich um ihren Hals und verschmolz mit dem Reif, den Kopf schützend in den Pfoten geborgen.