KAPITEL SIEBZEHN
Anya erstarrte.
Sie erstarrte genauso wie damals als Kind, als sie aufgeblickt und gesehen hatte, dass der Weihnachtsbaum in Flammen stand. Dann hatte Sparky sie aus dem Haus gezerrt. Ihre Mutter war im Obergeschoss gewesen und hatte es nicht mehr geschafft, den Flammen zu entkommen. Sie war im Feuer gestorben … in dem Feuer, an dem die zwölfjährige Anya die Schuld trug. Sie hatte Schuld auf sich geladen, indem sie sich aus ihrem Kinderzimmer geschlichen hatte, indem sie die verdammte Weihnachtsbaumbeleuchtung eingestöpselt hatte, indem sie in dem behaglichen, sanften Lichtschein mit dem Salamander auf den Beinen eingeschlafen war. Der trockene Christbaum hatte Feuer gefangen – es war das erste Jahr gewesen, in dem sie einen echten Baum gehabt hatten –, ausgelöst durch die kleinen bunten Lämpchen, die pulsierten wie ferne Sterne.
Jetzt stand sie mit geballten Fäusten am Rinnstein, unfähig, sich zu rühren. Nervöser Schluckauf gerann in ihrer Kehle, als sie zuschaute, wie die Flammen aus dem geborstenen Fenster auf der Vorderseite des kleinen Saltbox-Hauses züngelten. Der ausgebrannte Weihnachtsbaum schrumpfte in dem Rauch, der begann, die PVC-Verkleidung abzuschälen und einzudampfen, immer mehr in sich zusammen. Doch diesmal erklangen keine Sirenen in der Ferne, kam niemand zu Hilfe geeilt. Nur das Prasseln und Knistern des Feuers mischte sich mit dem Tröpfeln des schmelzenden Schnees, der auf den Rasen vor dem Haus troff und zum Rinnstein floss.
»Das kann nicht real sein«, flüsterte sie. In dem grellen Flammenschein verschwamm vor ihren Augen alles in einem Durcheinander aus Orangetönen.
Charons Stimme schien weit hinter ihr zu ertönen: »Es ist real. Auf dieser Ebene ist es real. Es findet immer wieder und wieder statt, weil du dich daran erinnerst.«
Ihre Erstarrung löste sich, und ihre Feuerwehrinstinkte erwachten. Anya rannte zur Vordertür und riss das Fliegengitter auf. Die Holztür dahinter war fest verschlossen. Sie trat so fest sie konnte auf Höhe des Schlosses, dem schwächsten Punkt, gegen die Tür. In der Stille klang der Aufprall ohrenbetäubend wie ein Schuss, der durch ihren Helm hallte.
Krach.
Krach.
Krach.
Endlich lockerte ihr gepanzerter Fuß das Schloss. Ein weiterer Tritt brach es endgültig auf. Sie stolperte gegen die Tür und sackte am Rahmen herab. Sparky stürmte an ihr vorbei und rannte über den rostfarbenen Zottelteppich auf das Feuer zu.
»Sparky!«, schrie sie.
Der Salamander tauchte in die Flammen ein, und Anyas Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie nahm die Verfolgung auf, hatte aber noch keine zwei Schritte getan, als er schon wieder aus der Flammenhölle rund um den ausgebrannten Christbaum herauskam und einen kleinen Körper am Kragen hinter sich herzerrte.
Es war Anya selbst. Anya, das Kind, klein zusammengerollt, die Fäuste vor dem Gesicht. Sie erkannte den Wonder-Woman-Schlafanzug. Sparky schleppte sie mit dem gefleckten Hinterteil voran an der gepanzerten, erwachsenen Anya vorbei, zerrte das Kind hinaus in den kalten Schnee auf dem Rasen.
Es war genau so, wie sie es in Erinnerung behalten hatte. Sparky rettete sie. In dieser Parallelwelt lief alles exakt so ab, wie es in der realen Welt geschehen war, die sie gekannt hatte.
Rauch schlug über ihr zusammen, und Anyas Augen tränten und brannten. Ihr Blick huschte die Treppe hinauf. Dieses Mal musste es nicht so weiterlaufen, wie es in der Vergangenheit geschehen war.
»Mom!«, schrie sie.
Sie stolperte die Stufen hinauf, fühlte die Hitze des Feuers, das sich unter der Treppe ausbreitete, sah, wie die Tapete an der Wohnzimmerwand verkohlte und sich zusammenzog. Der Sauerstoffmangel vernebelte ihren Blick; Rauch wogte die Stufen herauf, bis sie nur noch von vollkommener Schwärze umgeben war.
Während unter ihr das Feuer toste, hörte sie plötzlich Stimmen:
»Du kannst sie nicht haben!« Es war die Stimme ihrer Mutter, die zornig durch die Finsternis drang.
Anya tastete sich auf Händen und Knien den Korridor entlang, bemüht, unter dem Rauch zu bleiben. Das Schlafzimmer ihrer Mutter war am anderen Ende des Flurs. Ihre gepanzerten Fingerspitzen krallten sich in den Zottelteppich, der bereits zu schmelzen begann, und sie schmeckte Ruß in der eigenen Kehle.
»Sie gehört mir.« Die Stimme, die ihrer Mutter antwortete, hatte Anya noch nie gehört. Sie klang eher wie ein dumpfes Zischen als wie die Stimme eines menschlichen Wesens.
Anya legte die Hände an die geschlossene Schlafzimmertür. Der Rauch würde, das war ihr bewusst, den Raum fluten, wenn sie die Tür öffnete. Dennoch griff sie nach dem Messingtürknauf und nahm sogar durch ihre Rüstung die knisternde Hitze wahr. Sie drehte ihn, stürzte in einer Rauchwolke in das Zimmer und schlug die Tür hinter sich zu.
»Mom!«, rief Anya.
Ihre Mutter stand barfuß und mit geballten Fäusten in ihrem Nachthemd da. Ihr langes Haar umwehte sie in der aufsteigenden heißen Luft. Nun drehte sie sich um, und ihr Gesicht war eine Maske des Zorns und der Furcht.
»Verschwinde hier, Anya!«, brüllte sie.
Hustend sah Anya an ihr vorbei zu der schrecklichen Kreatur, die vor dem Kleiderschrank stand. Sie erkannte die Konturen eines Mannes, aber da war kein Körper. Die Gestalt bestand nur aus flammenden Umrissen. Vor ihr brachte die Hitze die Luft zum Flimmern, hinter ihr schmolz die Plastikjalousie vor dem Fenster. Ein gläserner Parfümflakon auf dem Toilettentisch ihrer Mutter zerplatzte unter der Einwirkung der Hitze, als wäre auf ihn geschossen worden.
Die Gestalt zeigte mit einem Finger auf Anya. Und sie sprach. Doch die Laute waren nicht mehr als das Zischen und Brodeln eines Feuers, verzerrt zu einer menschlichen Stimme. »Ihretwegen bin ich hier. Sie ist eine der meinen.«
»Nein.« Anyas Mutter stand zwischen ihr und der Gestalt.
»Du kannst sie nicht von mir fernhalten.«
»Ich habe sie zwölf Jahre von dir ferngehalten. Ich werde es auch noch eine weitere Nacht tun.«
Anya griff nach der Hand ihrer Mutter, und als sie an ihr herabblickte, erkannte sie, dass der Saum des Polyesternachthemds Feuer gefangen hatte. »Mom, wir müssen hier raus. Sofort!«
Die Flammenkreatur knurrte und fauchte. »Das ist nicht Teil unserer Abmachung.«
Anyas Mutter wandte sich der lodernden Gestalt zu. »Was kann ich dir bieten, damit du mir einen Aufschub gewährst? Damit du Gnade walten lässt?«
Die Kreatur schüttelte den Kopf. »Keine Gnade. Aber einen Aufschub kann ich dir gewähren.«
Tränen rannen über die Wangen ihrer Mutter. »Was willst du?«
»Ich werde dich mitnehmen.«
Anya zog an der Hand ihrer Mutter, aber es schien, als hätte Mom Wurzeln geschlagen wie ein Baum. Sie drehte sich um und umfasste Anyas Gesicht mit den Händen. Ihre Tränen verdampften zischend in der unfassbaren Hitze. Auf einer abstrakten Ebene wusste Anya, dass kein Mensch das überleben konnte.
»Du musst mich gehen lassen«, sagte ihre Mutter. Ihre Züge flimmerten vor Anyas Augen.
»Nein, das werde ich nicht tun.« Sie umklammerte die Unterarme ihrer Mutter mit ihren gepanzerten Händen. »Nicht noch einmal.«
»Es ist nicht deine Schuld. Nichts von all dem ist deine Schuld.« Der Blick ihrer Mutter huschte zu der Kreatur, über der sich die Decke schwarz färbte. »Es ist meine.«
»Wir müssen verdammt noch mal hier raus!«, brüllte Anya.
Ihre Mutter schüttelte den Kopf, und ihr Haar flog auf. »Nein. Eine von uns muss bleiben. Eine von uns muss bei deinem Vater bleiben.«
Anya gaffte das Monster an. Ihr Verstand weigerte sich zu verstehen, weigerte sich, den Vorgängen weiter zu folgen.
Sie ergriff den Arm ihrer Mutter, in der Absicht, sie sich über die Schulter zu werfen und hinauszutragen. Aber die schauerliche Männergestalt schleuderte ihr eine Wand aus Feuer entgegen, die sie quer über das Bett in die hintere Ecke des Raumes warf. Gipskarton brach in ihrem Rücken, und Anya hatte Mühe, Luft zu holen.
Mit tränenden Augen kroch sie über das Bett. Sie konnte nicht mehr als ein Fiepen von sich geben, konnte nichts mehr sagen, als ihre Mutter mit gesenktem Haupt auf die Kreatur zuging. Und die zog ihre Mutter in ihre flammende Umarmung. Anya roch brennendes Fleisch und versengte Haare. Für einen Moment sah ihre Mutter unendlich schön aus. Ihr Haar ging in Flammen auf und umrahmte sie wie einen Engel. Feuer senkte sich wie ein Vorhang über ihren Körper, loderte hinauf bis zur Decke und fraß sich halb durch einen Dachsparren, der mit einem lauten Donnern herabstürzte.
Der Boden barst. In eine brennende Tagesdecke gewickelt, bewegte sich Anya auf das entstandene Loch zu. Der schwelende Stoff um ihren Körper zerfiel, und sie stürzte durch die ruinierte Zimmerdecke und hinab in das Inferno des Erdgeschosses.
Flammen umgaben sie, spülten wie Wogen über sie hinweg. Es war, als läge sie an einem tropischen Strand im flachen Wasser und fühlte die von der Sonne erhitzten Wellen über sich hinwegfluten. Sengend drang es in ihre Lunge und sie konnte es knistern und prasseln hören.
Intellektuell verstand sie, dass sie das nicht überleben konnte. Kein Mensch konnte so etwas überleben. Aber obgleich sie die Hitze durch ihren Leib rasen spürte, erlitt sie keine Verbrennungen.
Und wenn sie keine Verbrennungen erlitt, dann würde sie auch überleben. Ihr würde es nicht so ergehen wie ihrer Mutter.
Sie wischte die Gipskartonbruchstücke beiseite, schob einen brennenden Balken von ihren Beinen, mühte sich auf die Füße und sah fasziniert zu, wie das Feuer sich an ihre Rüstung schmiegte und an ihren Stulpen herabraste. Der Anblick erinnerte sie daran, wie sie in der Highschool Alkohol verschüttet und mit einem Bunsenbrenner angezündet hatte, um zu sehen, wie er auf dem beinahe unzerstörbaren Steinboden verbrannte. Das strahlende Licht brodelte wie etwas Lebendiges, aber es zerstörte sie nicht.
Sie atmete es ein, fühlte, wie es über ihre Kehle rann. Ganz ähnlich dem Moment, in dem sie Geister verschlang, das gleiche Brennen und Stechen, als würde man Absinth trinken.
Irgendwo in der Ferne glaubte sie die Stimme des Feuers lachen zu hören.
Die Stimme der Kreatur, die ihr Vater war.
Das Feuer toste um sie herum und verzehrte das Haus. Die Gebeine der Treppe zerfielen, und die verbliebenen Sparren knarrten über ihrem Kopf. Anya stieg über die Überreste des Weihnachtsbaums hinweg, vorbei an den geschwärzten Mauersteinen des Kamins und den Resten der Weihnachtssocken, die am Sims gehangen und wie Marshmallows gebrannt hatten, um schließlich auf dem Flammenteppich zu schmelzen. Sie trat über die Splitter der Glasscheibe des vorderen Fensters und hinaus in die kalte Nacht.
Das Feuer hatte den Schnee im Vorgarten geschmolzen. Anya drehte sich um, und starrte das brennende Haus in all seiner schrecklichen Pracht an, den Rauch, der die Sicht auf die Sterne verdeckte. Der Temperaturschock schlug sich in einem feuchten Film auf ihrer Rüstung nieder und ließ die Schweißtropfen an ihren Brauen blitzartig zu Eis erstarren.
In der Auffahrt warteten Sparky und Charon auf sie. Sparky stand über der Gestalt ihres jüngeren Ichs. Die kleine Anya war zu einem Häufchen zusammengerollt und hatte beide Arme um den Hals des Salamanders geschlungen. Charon stand neben den beiden, rauchte eine Zigarette und sah zu, wie das Haus niederbrannte.
Anya ging die Auffahrt hinunter zu Charon. Dampf stieg von ihrer Rüstung auf, und unter ihren Füßen schmolz der verbliebene Schnee, als sie auf ihn zutrat und ihm mit der geschlossenen Faust ins Gesicht schlug. Als ihre Faust auftraf und die Rüstung seine Wange berührte, konnte sie ein Zischen hören. Halb hatte sie erwartet, dass ihre Hand einfach durch ihn hindurchfahren würde, so wie sie es in der physischen Welt getan hätte. Zu ihrem Entzücken fühlte sich der Aufprall jedoch genauso an wie ein Schlag auf echtes Fleisch. Charon hatte recht; Mythen und Geister waren hier robuster. Erfreulich robust sogar.
Charon stürzte wie ein Sack voller Ziegelsteine in den Schnee und ließ seine Zigarette fallen.
Anya stand dampfend über ihm und starrte wütend auf ihn herab. »Warum zum Teufel hast du mich hierhergebracht?«
Charon legte eine Hand auf die rote Brandwunde an seinem Kinn.
»Warum hast du mich hergebracht, obwohl ich ohnehin nichts ändern kann?«, brüllte Anya ihn an. »Warum hast du mich hergebracht, obwohl ich sie nicht retten konnte?«
Charon setzte sich auf. »Du hast sie nie retten können. Aber es gab einige Dinge, die du wissen musstest …«
»Zum Teufel mit dir, Charon. Und mit dem Kahn oder dem Zug oder was immer du gerade vorziehst.« Anya drehte sich zu Sparky um und kniete sich vor dem Kind, das den Salamander fest umschlungen hielt, in den Schnee.
»Hey.« Sie fürchtete sich davor, das Kind zu berühren, fürchtete sich, es zu verbrennen. Aber ihr jüngeres Ich schaute sie über Sparkys Kopf hinweg mit ernstem Blick an. »Es tut mir leid, dass … Es tut mir leid, dass ich sie nicht retten konnte.« Anya hatte einen Kloß im Hals und konnte nicht verhindern, dass Tränen auf ihrer Wange verdampften.
Das Kind löste sich von Sparky und trat barfuß vor Anya in den Schnee. Aus tränenverhangenen Augen erkannte Anya, dass das Kind keine Spuren im Schnee hinterließ.
»Das solltest du auch nicht. Du solltest dich selbst retten.« Das Mädchen öffnete die Arme, um Anya zu umarmen … und schwand wie Eis in einem heißen Ofen.
Anya schniefte. Ihre Tränen tüpfelten den Boden und brannten sich durch den Schnee. Sparky watschelte zu ihr und leckte ihr das Gesicht ab. Wie damals, als sie ein Kind gewesen war, schlang sie die Arme um seinen Hals und schluchzte.
Etwas plumpste mit einem zischenden Geräusch zu Boden.
Erst jetzt erinnerte sie sich an die Eier. Voller Panik tastete sie an ihrer Taille nach dem Gurt. Sie wusste, die Eier mussten warmgehalten werden, aber Jesus Christus … hatte das Feuer, in das sie so unbedacht hineingerannt war, die Kleinen womöglich getötet? Hatte sie Sparkys Eier hart gekocht?
Das Ei, das herabgefallen war, rollte durch den Schnee und brach auf. Eine winzige, davon abgesehen aber vollkommene Kopie von Sparky kletterte heraus. Verblüfft legte Anya die Hand flach auf den Boden, und der Minisalamander kletterte in ihre Handfläche. Er blinzelte sie an und legte den Kopf schief. Er war von den kugelrunden Augen bis zu den Flecken am Bauch eine perfekte Kopie ihres ständigen Begleiters.
Nun fielen auch die anderen Eier in den Schnee. Nacheinander brachen die glasartigen Schalen auf, und schon bald watschelten mehr und mehr orangefarbene Molche durch den Schnee und kratzten sich mit den Hinterpfoten am Kopf. Sparky stand über ihnen, leckte sie und machte einen Wirbel wie ein Huhn mit einem Gelege voller Küken.
Anya zählte. Alle einundfünfzig Molche waren bereit zum Schlüpfen. Anya zupfte Schalenstücke von ihren jungen Rücken. Ein Ei, das sich als besonders zäh erwies, schlug sie vorsichtig am Rinnstein an, um seinen Insassen zu befreien.
Charon blieb im Hintergrund und beobachtete sie. Anya musterte ihn finster, und ihr fiel auf, dass die Brandwunde, die sie in seinem Gesicht hinterlassen hatte, verschwunden war. Sie hatte ihn hart genug getroffen, um ihm den Kiefer zu brechen. Er sollte seine Zähne in die Einfahrt spucken und nicht herumstehen und sie mit einem spöttischen Ausdruck gelangweilter Überlegenheit beobachten.
Er zuckte mit den Schultern. »Ich hab ein Bad im Styx genommen. Wie Achilleus. Danach ist man beinahe unverwundbar.«
Salamander kletterten an ihrer Rüstung empor und in ihren Schoß. Während sie die kleinen Wesen beobachtete, schienen sie zu flackern und größer zu werden. Anya nahm an, dass sie Sparkys gestaltwandlerische Fähigkeiten ebenfalls geerbt hatten.
In ihre Erleichterung darüber, dass sie sicher und gesund geschlüpft waren, mischte sich ein neuer Schrecken.
»Was mache ich jetzt mit ihnen?«, ächzte sie.
Charon zog eine neue Zigarette aus der Tasche. »Für mich sieht’s so aus, als hättest du jetzt eine ganze Armee Salamander. Was du auch brauchen wirst, um Hope das Handwerk zu legen.«
»Aber das sind … es sind noch Babys«, knurrte Anya, während sie zusah, wie die Jungtiere durch den Schnee purzelten und im hellen Lichtschein des brennenden Hauses ihre Schwänze jagten. Sie waren so unschuldig wie das Kind, das sie einst war. Und sie würde sie nicht in einen Krieg führen. »Das sind keine Waffen.«
»Es sind Salamander.« Charon blies Rauch in den Himmel. »Es sind Furcht erregende, elementare Kreaturen. Keine Kinder.«
Ein Molch watschelte schwanzwedelnd Anyas Arm hinauf. Ja, wirklich Furcht erregend. »Sie sind nichts dergleichen, Charon. Sie sind zu klein, um sich selbst zu schützen.«
»Ich wäre da nicht so sicher.« Charon kniff die Augen zusammen und deutete auf eine Gestalt, die über den Fahrweg schlurfte. »Pass auf.«
Ein Geist trieb über die Straße wie eine Plastiktüte im Wind. Es war der Geist eines Mannes in einem langen Polizeimantel und einem scharf geschnittenen, steifen Hut, wie ihn die Polizisten in den 1940ern getragen hatten. Anya nahm an, dass der Schutzmann schlicht und einfach auch auf dieser Ebene seine Runden machte und bei Dunkelheit durch die Straßen patrouillierte. Dabei ließ er seinen Schlagstock kreisen. Seine Füße hinterließen keine Spuren im Schnee.
Die Köpfe der Salamander ruckten hoch und drehten sich zu dem Geist um wie Sonnenblumen, die der Sonne folgten. Zungen schossen hervor, und die Salamander wuselten zum Rinnstein und beobachteten den Mann. Tschirpen hallte durch die Salamandermenge. Sparky stand hinter ihnen und starrte den Schutzmann aus seinen schwarzen Kugelaugen an. Die Haare in Anyas Nacken richteten sich auf.
Der geisterhafte Schutzmann sah das Feuer hinter ihnen und hielt inne. Er hob seine Trillerpfeife mit einer Hand, die in einem weißen Handschuh steckte, an die Lippen. Ein schriller Pfiff hallte über den Schnee und den Rauch hinweg, ein Pfiff, der Hilfe herbeiholen sollte …
Die Salamander schwärmten aus. Huschten vom Bordstein auf die Straße und stürzten sich in einer brodelnden Masse aus Beinen und Schwänzen auf ihn. Ihre Kiefer öffneten und schlossen sich, und sie zerrissen den Geist mit winzigen Zähnen und Klauen, die sich aus ihren Zehen geschoben hatten.
Anya rannte zu dem Geist, doch Charon stellte sich ihr in den Weg und hielt sie an den Armen fest. Sie wehrte sich, aber er war überraschend stark und hielt sie unerbittlich an den Handgelenken. Voller Entsetzen sah sie zu, wie die Salamander den hilflosen Geist zerfetzten. Es war beinahe, als sähe sie einen Dokumentarfilm über Ameisen, die einen geisterhaften Käfer zerlegten. Der Polizist blies in seine Pfeife, immer und immer wieder, bis das Geräusch erstickt klang, abgehackt und schließlich verstummte. Immer noch rissen die kleinen Salamander ektoplasmische Fetzen aus ihm heraus und fraßen sich voll wie Hunde, die ein Tier erlegt hatten. Und vom Bordstein aus sah Sparky ihnen voller Stolz zu.
»Was tun die da?«, brüllte Anya.
»Sie essen.«
»Aber Salamander essen doch nicht …«
»Salamander brauchen wie alle Elementargeister Energie, um zu überleben. Sparky bekommt, was er braucht, von den elektrischen Geräten in deiner physischen Welt, von den Geistern, die er dann und wann beißen darf, und von dir.«
Sie runzelte die Stirn. »Was soll das heißen, von mir?«
»Laternen geben eine erstaunliche Menge an Energie ab. Das lockt Salamander an. Wahrscheinlich schleckt er an deiner Aura, wenn du schläfst.«
Anya versuchte, die unangenehme Vorstellung, ein Salamandersnack zu sein, abzuschütteln, als sich ein kleiner Molch aus der Masse löste. Er watschelte träge in den Vorgarten, stöhnte und legte sich auf den Rücken, präsentierte, alle viere von sich gestreckt, den aufgedunsenen Bauch. Seit er angefangen hatte, den glücklosen Schutzmann zu fressen, war er um etliche Zentimeter gewachsen, und sein Bauch war so aufgetrieben, als hätte er einen Golfball verschluckt. Sparky leckte ihn anerkennend.
Charon ließ Anya los, aber sie blieb wie angewurzelt stehen und starrte die Salamander an, die die zerfetzten Überreste des Geistes hinunterschlangen. Was jetzt noch von ihm übrig war, sah aus wie Pappmaché, ein weicher, ektoplasmischer Brei, der rasch an Glanz verlor wie ein zerdrückter Leuchtkäfer. Schnorchelnde, nasale Laute erklangen über dem Schlachtfeld, als die Salamander sich das Ektoplasma von den Schnäuzchen leckten.
»Oh mein Gott«, keuchte Anya.
Charon grinste spöttisch. »Schätze, deine Kinder sind bereit, in den Krieg zu ziehen.«
Ein Salamanderbaby rannte vergnügt von den Überresten fort und über Anyas Fuß. Sein gefleckter Schwanz war freudig hochgereckt, und es huschte trällernd und mit leuchtenden Glibberresten auf dem Gesicht davon.