KAPITEL SECHS

Anya erzählte den DAGR nichts von Sparkys Untat im Labor. Und so verfolgte sie die Abendnachrichten einigermaßen teilnahmslos, als diese von einem Unfall im Detroiter Kriminallabor berichteten, bei dem die Beweise von mehr als dreißig schwebenden Untersuchungen zerstört worden waren. Die Medien hatten sich auf die Story gestürzt und schlachteten sie aus, während einige hohe Tiere der Stadt lautstark die angebliche Inkompetenz des Labors verdammten und eine neuerliche Überprüfung der Einrichtung forderten. Anya wurde immer kleiner auf ihrem Sitz, während die News über den Fernsehschirm flimmerte, der im Devil’s Bathtub über dem Tresen hing. Sparky klammerte sich an ihren Hals und blickte nicht einmal auf.

Jules zeigte mit dem Daumen über die Schulter auf das Fernsehgerät. »Hat dir das einen deiner Fälle vermasselt?«

»Wahrscheinlich«, sagte sie. Die meisten Beweise in ihrem Fall einer spontanen menschlichen Selbstentzündung waren beeinträchtigt worden, und niemand konnte sagen, ob das, was übrig war, vor Gericht standhalten würde. Aber sie würde Jules bestimmt nicht erzählen, dass Sparky dabei seine Pfoten im Spiel gehabt hatte.

Jules lehnte sich an den Tresen. »Das ist eine Affenschande. Man sollte annehmen, dass eine Stadt dieser Größe imstande sein sollte, ein paar kompetente Mitarbeiter zu finden.«

Anya starrte auf den Tresen und lauschte dem Eis, das krachend in ihrer Diätcola barst. »Das sind äußerst kompetente Leute, Jules. Manchmal hat man eben Pech. So was passiert.«

Jules schnaubte verächtlich. »Pech ist nicht unausweichlich, sondern das Resultat von zu viel Gedankenlosigkeit.«

»Ich glaube nicht, dass sich dort jemand gedankenlos verhalten hat, Jules.« Aber sie glaubte ihren eigenen Worten nicht. Sie allein war sorglos gewesen und hatte Sparky nicht im Auge behalten. Und Sparky hatte einfach das getan, was er immer tat: Er war seiner Elementargeistnase gefolgt … und sie hatte nicht auf ihn geachtet. Es war unterm Strich nicht sein Verschulden, sondern ihres.

»Den Nachrichten zufolge hat es dort gebrannt. Du hast selbst gesagt, dass neunzig Prozent aller Brände auf menschliche Dummheit zurückzuführen sind.«

Anya biss die Zähne zusammen. Damit hatte er beinahe zu sehr ins Schwarze getroffen. »Solange du noch kein Feuer überstehen musstest, Jules, solltest du auch kein Urteil fällen«, blaffte sie ihn an.

»Hört auf, ihr zwei«, sagte Brian. Auf seinen muskulösen Armen trug er zwei Sporttaschen, in denen irgendwelche Ausrüstungsgegenstände klimperten, und über seiner Schulter lag ein orangefarbenes Seil. »Es wird Zeit, dass wir uns auf den Weg machen.«

Anya blieb zurück, als Jules, Max und Katie zur Tür hinausgingen. Ciros Rollstuhlräder quietschten leise auf dem Boden; er streckte den Arm aus und tätschelte ihre Hand. Er trug einen Pyjama. Ciro begleitete sie nur noch selten bei ihren Einsätzen. Zu oft ging ihm allzu schnell die Luft aus. Er verließ das Devil’s Bathtub kaum noch. Max versorgte ihn mit Lebensmitteln, und er hatte hier alles, was er brauchte. Aus dem Obergeschoss hörte Anya die Jazzklänge von einer alten Platte. Dazu trällerte eine Stimme wie ein Kanarienvogel. Anya wusste, dass der Gesang nicht von der Platte stammte; Ciro war hier nie allein. Mit der Bar hatte er den Geist von Renee, einer Zwanziger-Jahre-Schönheit, gekauft, und Renee tat, was sie konnte, um auf den alten Mann aufzupassen. Sie war einer der wenigen Geister, die es tatsächlich genossen, gesehen und gehört zu werden.

»Lass dich von Jules nicht verrückt machen.«

»Wir sind wie Öl und Wasser, Ciro. Ich versuche, ihm nicht in die Quere zu kommen, aber …« Sie zuckte mit den Schultern. »Ich weiß nicht, wie lange das noch gutgehen kann.«

Nun hatte sie es doch zugegeben. Sie hatte schon einmal versucht, sich von den DAGR zu trennen, war aber zurückgekommen. Die Stadt brauchte die DAGR, und die DAGR brauchten sie. Aber sie alle wussten, dass Ciro der Kitt war, der die Gruppe zusammenhielt.

Um Ciros rheumatische Augen bildeten sich noch mehr Falten als üblich. »Kindchen, ich hab noch ganz viel Zeit übrig.«

»Das meinte ich nicht.« Sie atmete hörbar aus. »Ich meinte, Jules und ich … die Streitereien.«

»Jules ist ein guter Mensch.«

»Ja, das ist er.« Dieser Punkt war unbestritten. Jules meinte es gut. »Aber ich habe das Gefühl, er hält stur an einem Schubladendenken fest, in dem alles nur gut oder böse, richtig oder falsch ist. Für mich aber gibt es draußen eine Menge Graustufen, die er einfach nicht anerkennen will.«

»Ihr zwei solltet eure Differenzen wenigstens so lange beiseiteschieben, bis die Arbeit getan ist.« Ciro drückte ihre Hand. »Bitte.«

Sie konnte dem alten Mann nichts abschlagen, also erwiderte sie die Geste. »Ich werde es versuchen.«

»Gut. Und jetzt geh mit den anderen.« Ciro sah nach oben, wo noch immer die überirdische Stimme trällerte. »Ich hab eine Verabredung mit einem Engel.« Er zwinkerte ihr zu, strich die Aufschläge seines Pyjamaoberteils glatt und rollte zurück zu dem Fahrstuhl hinter der Theke.

Anya zog ihren Mantel an und ging lächelnd zur Vordertür. In seiner Jugend, so dachte sie, musste Ciro ein richtiger Aufreißer gewesen sein. Sie wartete auf das Knarren, das verriet, dass sich die Fahrstuhltür geschlossen hatte, und rief nach oben:

»Renee?«

Ein wunderschönes Gesicht, umrahmt von einem Bob glänzendes Haares, lugte durch die Decke herab, als würde eine Frau den Kopf ins Wasser halten, um auf den Grund zu schauen. Dichte Wimpern umrahmten Rehaugen, die Kleopatra zur Ehre gereicht hätten, und eine geisterhafte Perlenkette baumelte von ihrem Hals herab. »Hi, Baby.«

»Wie geht es Ciro?« Renee, das wusste Anya, würde ihr die Wahrheit sagen.

Die makellose Haut des Geistes legte sich über den nachgezogenen Brauen in Falten. »Er ist schwach. Schwächer, als ich es erleben möchte. Schwächer, als er zugeben würde.«

Schatten der Sorge legten sich über Anyas Gesicht. »Danke, dass du auf ihn aufpasst, Renee.«

»Ich halte ihn vom Prickelwasser fern, aber viel mehr kann ich nicht tun.« Renees Finger schoben sich in einer hilflosen Geste durch den Putz, und Anya hörte den frustrierten Klang ihrer Stimme. »Ich kann ihn nicht berühren. Ich kann nicht telefonisch um Hilfe rufen.«

Anya nickte. Manchmal waren Geister imstande, Einfluss auf Dinge der physischen Welt zu nehmen. Poltergeister waren berüchtigt dafür, Gegenstände zu zerbrechen und Menschen Schaden zuzufügen. Sie konnten es, weil sie machtvoll waren. Die meisten Geister jedoch waren machtlos. Ein paar von ihnen konnten unter Aufbietung großer Konzentration Dinge bewegen, aber es laugte sie aus. Renee war kein machtvoller Geist. In all der Zeit, in der sie schon im Devil’s Bathtub spukte, war es ihr gerade einmal gelungen, ein paar Flaschen zu zerbrechen.

Von draußen drang das eindringliche Plärren einer Hupe an ihr Ohr. Anya zuckte zusammen. Oben läutete eine Klingel, und die Fahrstuhltür öffnete sich knarrend.

Renee bedeutete Anya, still zu sein. »Geh jetzt. Wir reden später.«

Sie verschwand in der schattenhaften Decke, und Anya griff zum Türknauf. Seufzend trat sie hinaus in die Dunkelheit.

Anya saß in Brians Van und blätterte in der Fallakte. Sie hatte die Teamsitzung am früheren Abend verpasst und wusste nicht, ob sie irgendwelche Dämonen in Weihwasser ertränken oder Backe-backe-Kuchen mit Poltergeistern spielen würden.

»Kannst du mir die Kurzversion geben?«, fragte sie.

»Es geht um die ganzkörperliche Erscheinung, von der ich kürzlich gesprochen habe.« Falls Brian verärgert war, weil sie dem Fall so wenig Interesse entgegengebracht hatte, so ließ er es sich nicht anmerken. Mit einer Hand hielt er das Lenkrad, während er mit der anderen an seinem iPhone herumfummelte. Multitasking am Steuer machte Anya nervös, aber sie biss sich auf die Zunge und schwieg.

»Die Erscheinung einer Frau streift durch das Haus. Sie spricht oder interagiert nicht mit den Bewohnern, weshalb die vorherrschende Theorie lautet, dass sie ein Restspuk ist. Da sie aber moderne Kleidung trägt, ist das eine knifflige Frage. Das ist was anderes als eine Lizzie Borden im Petticoat.«

»Wer wohnt in dem Haus?«

»Mami mit ihren zwei Jungs, acht und zwölf Jahre alt, und ein Großvater.«

»Wer hat die Erscheinung gesehen?«

»Angefangen hat es mit dem Großvater. Er dachte, seine Tochter wäre früher von der Arbeit zurückgekommen und hat versucht, mit dem Geist zu reden.« Brian maß Anya mit einem Seitenblick. »Seine Augen sind nicht so gut. Beide Kinder haben die Erscheinung ebenfalls gesehen. Mami arbeitet nachts, und der Geist zieht es vor, am Abend auf Wanderschaft zu gehen, also ist sie ihm noch nicht begegnet.«

»Wie lange geht das schon so?«

»Das ist das Komische an der Sache. Das Haus ist schon seit vierzig Jahren im Besitz der Familie, und nie hat’s irgendwas Übernatürliches dort gegeben. Bis vor zwei Wochen. Seitdem ist der Geist beinahe jede Nacht aufgetaucht.«

Anya nagte an ihrer Lippe. »Ich frage mich, was sich da verändert hat.«

»Es gibt in der Literatur nicht viele Hinweise, aber es ist bekannt, dass Umbauten oder andere Veränderungen in der Umgebung einen Geist ›aufwecken‹ können. Ich selbst hab so etwas noch nie erlebt, aber mindestens zwei andere Geisterjägergruppen haben Fälle dokumentiert, in denen ein Geist aktiver wurde, als ihn etwas im Haus gereizt hat. So hat eine Familie umfangreiche Umbaumaßnahmen durchgeführt und dabei die Umgebung eines verborgenen Grabes durcheinandergebracht. Und in einem anderen Fall hatte ein Geist andere Vorstellungen hinsichtlich der Innendekoration als der neue Eigentümer. Der Geist zog pinkfarbene Auslegeware und gestreifte Tapeten dem Industrieloftlook vor. Er hat ständig Handabdrücke und garstige Botschaften auf den Edelstahloberflächen hinterlassen.«

»Das setzt voraus, es war ein Geist.« Die meisten Spukerscheinungen, die nicht nur schlichte Hirngespinste waren, erwiesen sich als gutartige Geister. Aber die DAGR hatten festgestellt, dass die Fälle mit feindseligen Geistern und Dämonen zunahmen. Und Anya hatte erst vor einigen Monaten einen Zusammenstoß mit dem König der Salamander gehabt, der in der Salzmine unter der Stadt nistete. Das reichte ihr, um keine voreiligen Schlüsse hinsichtlich der Kreaturen zu ziehen, mit denen sie es zu tun bekamen.

»Genau werden wir es erst wissen, wenn wir vor Ort sind.«

Der Van brauste östlich der Innenstand durch Islandview. Apartmentbauten wechselten sich mit Reihenhäusern und frei stehenden Einfamilienhäusern ab. In den schmalen Gärten standen Verkaufsschilder und Tafeln mit Vermietungsangeboten. Zwar hatte es Bemühungen zur urbanen Wiederbelebung des Gebiets gegeben, aber deren Wirkung war nie bis zum westlichen Teil vorgedrungen, in dem Backsteinhäuser voller Graffiti neben heruntergekommenen Einfamilienhäusern vermüllte Straßen säumten.

Brian parkte am Bordstein vor einem unauffälligen Haus: ausgeblichene gelbe Fassade, Gitter vor den Fenstern im Erdgeschoss. Grün-weiß-gestreifte Markisen beschatteten das Gebäude. Irgendwo hinter dem Haus bellten Hunde im Garten. Anya stieg aus dem Van und sah sich auf der Straße um. Ein paar Kids, die auf dem gegenüberliegenden Bürgersteig ihre Fahrräder verglichen, musterten die Fremden interessiert. Anya winkte ihnen zu, woraufhin eines der Kinder zögerlich mit den Fingern wackelte, ehe es die Hände in den Taschen vergrub in dem Versuch, cool zu wirken.

Das Haus gleich östlich des Spukhauses schien verlassen zu sein. Die Fliegengittertür war mit diversen neonfarbenen Abschalthinweisen von Gasunternehmen und Wasserwerk verziert. Unkraut spross aus den Rissen im Zementboden der Veranda. Und obwohl dies offenbar der Vorabend der Müllabfuhr war, wie die grünen Abfalltonnen bewiesen, die sich vor den anderen Gebäuden am Bordstein drängten, war die Einfahrt zu diesem Haus leer. Das Haus auf der Westseite hingegen wies Lebenszeichen auf. Ein VERKAUFT-Schild lehnte an der Seitenwand, und durch das vordere Fenster, in dem ein Laken den neuen Bewohnern als Vorhangersatz diente, waren Kisten erkennbar. Licht brannte in jedem Raum, und der Rasen roch nach frisch gemähtem Gras. Das Spukhaus schien gefangen zu sein zwischen einem lebendigen und einem toten Haus.

Anya schlang sich die Tasche mit ihrer Ausrüstung über die Schulter und folgte Brian zur Tür. Jules, Max und Katie waren in Jules Minivan hergekommen und schwatzten mit dem Hausbewohner, der ihnen die Fliegengittertür geöffnet hatte. Der Großvater, nahm Anya an. Er war gekleidet wie jemand, der Besuch erwartete: frisch gebügeltes Hemd und eine Hose mit messerscharfen Bügelfalten. Die adrette Erscheinung bildete einen krassen Gegensatz zu dem krummen Rücken und dem Spinnengewebe aus Falten, das sein Gesicht überzog. Der Alte stützte sich auf einen Stock mit einer weißen Spitze. Anya fiel auf, dass seine Augen der Bewegung der Leute zu folgen schienen, die an ihm vorbeigingen, dennoch war sie nicht sicher, wie viel er tatsächlich sehen konnte.

»Danke, dass Sie gekommen sind.« Man führte sie ins Wohnzimmer. Sämtliches Mobiliar war an die Wände gerückt worden, vermutlich, um dem alten Mann das langsame Vorwärtskommen zu erleichtern. Ein Videospielsystem war an den Fernseher angeschlossen, und in der Ecke lagen die Schulranzen der Kinder. Ein Kuriositätenkabinett voller Hummel-Figuren und eine Wand mit Familienfotos waren offenbar erst kürzlich abgestaubt worden. Neben der Couch stand ein Korb mit sauber gefalteter Wäsche, auf dem ein rosaroter Damenkrankenhauskittel lag. »Wir werden uns bemühen, Sie nicht zu stören. Die Jungs habe ich ins Bett gesteckt, und Sara kommt nicht vor sieben Uhr morgens von der Arbeit.«

Anya erhaschte einen Blick auf einen finsteren Zug um Jules Mund. Er arbeitete nicht gern in Gegenwart der Hauseigentümer. Keiner von ihnen tat das gern – es hinderte sie daran, frei zu sagen und zu tun, was sie für richtig hielten. Aber manchmal ging es nicht anders. Sie würden sich eben zusammenreißen müssen.

»Erzählen Sie uns von Ihrem Geist.« Jules nahm einen gelben Notizblock und einen Stift aus der Tasche.

»Ich hab nicht viel von ihr gesehen«, sagte der alte Mann mit einem leisen Lachen. »Aber die Jungs sagen, sie kommt jede Nacht gegen zwei. Sie streift ganz in Weiß durch das Haus. Der Älteste, Tim, hat versucht, mit ihr zu reden, aber sie antwortet nie.«

»Ist Ihnen die Frau bekannt?« Anyas Aufmerksamkeit wanderte zu den Familienfotos. Viele waren alt und mit den Jahren vergilbt.

Der alte Mann schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Hat sich in diesem Haus je irgendwer mit Okkultismus befasst? Ouija-Bretter, Séancen, so was in der Art?«

Katie warf Anya einen Blick zu und verdrehte die Augen. Anya fiel auf, dass sie den Drudenfuß, den sie als Kettenanhänger trug, unter ihrer Bluse versteckt hatte, als wollte sie den alten Mann nicht erschrecken.

Der alte Mann runzelte die Stirn. »Die Jungs wissen, dass sie den Arsch voll kriegen, wenn sie je so was ins Haus bringen.«

Anya schlenderte davon und spazierte durch das Haus. Sie verschaffte sich gern ein Gefühl für die Umgebung, ehe das Licht ausging und sie über das Mobiliar stolperte.

Es war ein ganz gewöhnliches Haus – Zeugnisse der Kinder hingen neben Mamis Arbeitsplan an dem olivfarbenen Kühlschrank, Schalen und Kartons mit Frühstücksflocken standen schon für den kommenden Morgen bereit. Vier Schalen waren rund um den Küchentisch verteilt, was darauf hindeutete, dass Mami vor Schulbeginn gemeinsam mit den Jungs und dem Opa frühstücken würde.

»Ich glaube, das könnte sich als Flop entpuppen«, murmelte Katie, während sie durch die gerafften Vorhänge in den dunklen Garten hinausblickte.

»Riechst du hier auch keine Magie?« Der Salamanderreif hatte sich nicht gerührt. Entweder hatte Sparky immer noch Angst vor Anyas Zorn, oder es gab hier nichts Übernatürliches, das sein Interesse hätte wecken können.

Katie schüttelte den Kopf. »Nein. Und in diesem Haus herrscht auch nicht so eine bedrückende Atmosphäre, wie ich sie bei den meisten echten Spukhäusern spüre.«

»Wie lautet also unsere Einschätzung?«

»Ich nehme an, die Jungs haben zu viele Gruselfilme gesehen. Und Opa sieht nicht mehr gut genug, um am Fenster vorbeihuschende Scheinwerfer von einem echten Geist zu unterscheiden.« Katie zuckte die Achseln. »Ich wette, das wird eine ereignislose Nacht.«

Anya legte die Hände um die Ellbogen. »Ich hoffe, du hast recht.«

Sparky schlief stundenlang, fest um Anyas Hals zusammengerollt.

Anya war der Ansicht, dass er die richtige Entscheidung getroffen hatte.

Während sie mit Brian am Küchentisch saß, verfolgte sie auf den Flachbildschirmen die Nachtsichtaufnahmen, die von der Kamera an den Computer übertragen wurden, den er aufgebaut hatte. Computer- und Elektrokabel schlängelten sich über den Fußboden und lieferten Bilder aus dem Korridor im Obergeschoss, aus dem Keller, den Schlafzimmern und dem Wohnzimmer. Die Jungs schliefen in ihren Betten. Opa lag in seinem. Katie saß am Ende des Korridors und stierte auf die Temperaturanzeige, die sich einfach nicht rühren wollte. Max und Jules wühlten im Keller in Weihnachtsschmuck und suchten mit ihren Widerstandsmessern nach elektrischen Interferenzen.

Anya trommelte mit ihren Fingern auf ihrem Kopfhörer. Die Stimmrekorder fingen nur Fetzen der Gespräche von Max und Jules und das regelmäßig einsetzende Brummen des Kühlschrankkompressors auf. Jemand furzte im Schlaf.

Sonst war alles still.

Sie sah sich zu Brian um, der an einem Laptop herumfummelte, auf dessen schwarzem Bildschirm verwirrende Reihen aus Text und Zahlen angezeigt wurden. Die weiße Schrift spiegelte sich in seinen Brillengläsern und raubte ihm optisch einen Teil seiner Menschlichkeit.

Anya rutschte an seine Seite und nahm den Kopfhörer ab. »Was machst du?«

»Nebenjob.« Er schürzte die Lippen.

Anya stützte das Kinn auf die Hand. Brian übernahm in seiner freien Zeit Auftragsarbeiten für die Regierung. Sie wusste nie so genau, woran er arbeitete, aber ein Teil der Technik war gruselig: Biometriedatenverfolgung; Anti-Hacker-Algorithmen; Hightech-Überwachung. Und das waren nur die wenigen Dinge, von denen sie wusste. »Darfst du mir erzählen, worum es geht?«

»Wahrscheinlich nicht. Ich arbeite an einem Simulator für künstliche Intelligenz.«

»So was wie HAL aus Kubricks 2001

»Nicht ganz so mörderisch, hoffe ich. Ich arbeite an künstlichen neuronalen Netzen, in der Absicht, eine möglichst hohe Ähnlichkeit mit einer Testperson zu erzielen. Ich versuche, die menschliche Hirnfunktion in Bezug auf Mustererkennung und Datenspeicherung nachzuahmen.«

»Das hört sich ganz nach Sci-Fi an.«

»Eigentlich nicht.« Brian zuckte mit den Schultern. »Die Technik existiert schon eine ganze Weile. Die Leute werden nur nervös, wenn es um ihre Nutzung geht.«

Anya setzte eine fragende Miene auf. »Wie meinst du das?«

»Na ja … ich modelliere dieses neuronale Netz nach dem Vorbild des rekurrenten biologischen neuronalen Netzes eines real existierenden Menschen. Früher haben Wissenschaftler die Gehirne einfacherer Organismen wie Würmer abgebildet. Ein mikroskopischer Wurm, C. elegans, beispielsweise hat ungefähr dreihundert Neuronen. Pillepalle. Menschen dagegen haben um die hundert Milliarden Neuronen und hundert Billionen Synapsen, die abgebildet werden müssen.«

»Wow. Wie zum Teufel machst du das?«

»Sehr langsam. Ich gehe Schritt für Schritt vor und setzte etwas ein, das einem sich selbst reproduzierenden Computervirus sehr ähnlich ist, um die Menge möglicher Verbindungen zu testen. Im Grunde lehne ich mich die meiste Zeit zurück und überlasse es dem Programm, das Gehirn zu untersuchen und die ganze Arbeit zu tun.«

»Wessen Gehirn benutzt du?« Anya fragte sich, ob der Prozess schmerzhaft war. Sie bekam schon allein bei dem Gedanken Kopfschmerzen.

»Es passieren sonderbare Dinge, wenn man seinen Körper der Wissenschaft überlässt. Die Universität hat vor kurzer Zeit ein fast perfektes Exemplar erhalten. Wir bewahren das Gehirn auf Eis in einem hübschen Glas auf und versetzen ihm von Zeit zu Zeit einen elektrischen Stromstoß, um die Neuronen zu aktivieren. Den Rest erledigt die rechnergestützte Modellerstellung.«

Anyas Mundwinkel rutschten abwärts. »Ist das wirklich das, was dem Spender vorgeschwebt hat? Glauben die meisten nicht eher, sie würden ihre Körper einer medizinischen Fakultät überlassen, um im Präparationssaal von Studenten verstümmelt zu werden?«

»Vielleicht. Es rächt sich eben, wenn man für den Fall seines Todes keine genauen Anweisungen erteilt.« Brian schien das keine Sorgen zu bereiten. »Irgendwann wirst du ALANN fragen können, was er denkt.«

»Wer ist Allen?«

»A-L-A-N-N, ALANN: Advanced Linear Artificial Neural Network. Und eine Hommage an Alan Turing, den Vater der modernen Informatik.«

»Ich glaube, von dem hab ich schon gehört. War der nicht so eine Art Codeknacker?«

»Er hat während des Zweiten Weltkriegs viel dazu beigetragen, die mit der Enigma verschlüsselten deutschen Funksprüche zu entziffern, aber wahrscheinlich ist er genauso bekannt für den Turing-Test. Dieser Test misst die Intelligenz der Maschine und ihre Fähigkeit, menschliches Verhalten nachzuahmen. Dazu muss sich ein menschlicher Fragesteller über eine Tastatur sowohl mit einem Menschen als auch mit einer Maschine unterhalten, die beide räumlich von ihm isoliert sind. Beide Gesprächspartner versuchen dabei, sich als denkende Personen darzustellen. Erkennt der Fragesteller nicht, welcher seiner Gesprächspartner die Maschine ist, gilt der Test als erfolgreich.«

»Schwer vorstellbar, dass eine Maschine einen Menschen so hinters Licht führen könnte.«

»Das ist der Kern meiner Forschungen: eine Variante des Turing-Tests, der Immortality Test. Dieser Test dient dazu, festzustellen, ob die Reaktionen und das Verhalten einer Person akkurat genug reproduziert werden, dass sie nicht mehr von denen des Originalsubjekts unterschieden werden können. ALANN wurde nach dem Vorbild eines einst lebendigen menschlichen Gehirns geschaffen, und ich bin gespannt, wie gut er die Reaktionen dieses Gehirns abbilden kann.« Brian drehte den Laptop zu Anya und gab in der Kommandozeile einen Befehl ein. »Nur zu, sag Hallo.«

»Willst du ein Versuchskaninchen aus mir machen?«

»Eher nicht. Ich hab dir ja schon von dem Turing-Test erzählt, und du weißt, dass ALANN eine Maschine ist.«

Anya schluckte. Brians »eher nicht« war nicht eben beruhigend. Sie beugte sich zu dem in die Webcam eingebauten Mikrofon vor. »Hallo.«

Der Cursor blinkte, dann tauchten Buchstaben auf: HALLO, ANYA.

»Woher kennt er meinen Namen?«, fragte sie argwöhnisch.

Brian tippte auf die Webcam. »Wir arbeiten an einer Mustererkennung. ALANN kann Gesichter mit Hilfe der Biometrie erkennen. Theoretisch ist jedes Gesicht einzigartig – der Abstand zwischen den Pupillen, die Höhe der Brauen, die Breite des Mundes, Längen- und Breitenverhältnisse, Ohrengröße. ALANN kombiniert diese Werte und speichert sie.«

»Aber woher kennt er mich?«

»ALANN hat dich schon einmal gesehen, im Computerlabor. Wahrscheinlich erinnert er sich auch daran, was gesprochen wurde. Auf jeden Fall ist es ermutigend, dass er Gesichtern inzwischen Namen zuordnen kann.«

Anya nagte an ihrer Lippe. Das Computerlabor befand sich im Untergeschoss der Universität. Dort unterhielt Brian auch sein eigenes Labor, das aussah, als würde es einem verrückten Wissenschaftler gehören, da es bis unter die Decke vollgestopft war mit mysteriösen technischen Geräten. Die Idee, ihn in der Serverfarm zu vögeln, würde sie überdenken müssen, nun, da sie wusste, dass ALANN zusah.

»ALANN, wie viele Leute sitzen vor der Kamera?«

Der Cursor zögerte einen Moment. Dann erschien die Ziffer 2 auf dem Bildschirm.

»Das ist unheimlich.« Auf unerklärliche Art fühlte sich Anya an Katies provisorisches Ouija-Brett erinnert, das Antworten aus dem Nichts zu liefern schien.

»Wie Arthur C. Clarke sagte: ›Jede hinreichend fortschrittliche Technologie ist von Magie nicht zu unterscheiden.‹«

Das Walkie-Talkie auf der Arbeitsplatte erwachte knisternd zum Leben, und sie hörten Katie leise flüstern: »Hey, seht ihr das?«

Anya ruckte zum Monitor herum. Katie stand am Ende des Korridors und umklammerte das Walkie-Talkie. Etwas Fahles, Durchscheinendes kräuselte sich am Rand des Aufnahmewinkels. Anya fühlte, wie sich der Salamander an ihrem Hals regte. Das war definitiv mehr als ein paar vorbeihuschende Autoscheinwerfer.

Anya rannte aus der Küche heraus und prallte beinahe mit Jules und Max zusammen, die aus dem Keller gekommen waren. Gemeinsam kletterten sie die mit Teppich ausgelegten Stufen hinauf, um einen Blick in den Korridor im Obergeschoss zu werfen.

Die transparente Gestalt einer Person kam durch den Gang. Aus diesem Blickwinkel konnte Anya erkennen, dass es eine junge Frau war, weiß gekleidet und barfuß. Ihr dichtes, lockiges Haar war verfilzt und auf einer Seite ganz platt. Sie drehte sich um, und Anya erkannte, dass sie einen Hausmantel trug. Aber etwas war noch seltsamer: Ihre Augen waren geschlossen. Der Geist setzte einen Fuß vor den anderen, als würde er schlafwandeln. Am anderen Ende des Flurs öffnete sich die Tür zum Jungenschlafzimmer, und ein Paar ängstlicher Augen schaute heraus.

Katie griff nach der Gestalt, und Anya musste nicht erst die Anzeige überprüfen, um festzustellen, dass die Temperatur im Korridor gesunken war, dass die Erscheinung die Wärme aus der Luft gesogen hatte, um sich sichtbar zu manifestieren.

»Hallo?«, sagte sie.

Die Gestalt ignorierte sie und ging langsam in Richtung Treppe, wo Anya, Jules und Max sie beobachteten. Anya sah einen Silberfaden, der um die Taille der Frau gewickelt war und hinter ihr herflatterte, und sie kniff die Augen zusammen. Was war das? Der Gürtel des Hausmantels?

Jules nahm eine drohende Haltung ein, als der Geist sich näherte. »Tu es«, raunte er Anya zu. »Verschling das Ding. Beseitige es.«

Anya schüttelte den Kopf. Sie fühlte, dass Sparky sich um ihre Knie wickelte, aber der Salamander wirkte keineswegs alarmiert. Und sie selbst fühlte auch nichts, was darauf hingewiesen hätte, das von diesem Geist eine besondere Bedrohung ausgegangen wäre.

Aber aus Jules Perspektive war nur ein beseitigter Geist ein guter Geist. Sie wusste, dass Jules Renee tolerierte, weil sie sich um Ciro kümmerte, aber er hegte keine Sympathien für das Übernatürliche.

Der Geist schlenderte auf die Treppe zu.

»Los«, zischte er.

»Nein. Sie tut doch niemandem etwas.«

Der Geist schlurfte zur ersten Stufe. Anya und die anderen drückten sich flach an die Wand und ließen die Erscheinung passieren. Anya erschauerte, als die Frau vorüberging. Der Saum ihres Hausmantels streifte Anyas Knie. Sparky folgte ihr auf dem Fuße und glitt schnuppernd die mit Teppich bezogenen Stufen hinab. Im Schlepptau der Geisterfrau nagte er an der Silberschnur.

Der Geist hatte den Fuß der Treppe beinahe erreicht, als in der Ferne ein tiefes Rumpeln erklang. Anya erkannte das Geräusch augenblicklich: Der Müllwagen, einige Straßen entfernt.

Auch der Geist schien das Geräusch zu erkennen. Die Frau neigte den Kopf in die Richtung, aus der das Geräusch ertönte, schlug die Augen auf …

… und verschwand.

Sparky schnüffelte energisch an der Stelle des Zottelteppichs, an der der Geist gestanden hatte.

»Hast du ihn ausgelöscht?«, fragte Jules.

»Nein. Sie ist aus eigenem Antrieb verschwunden.«

Das Team ging die Stufen hinunter und versammelte sich vor Brians Videomonitoren, um die Aufnahme zurückzuspulen und zu sehen, welche harten Beweise sie hatten einfangen können.

»Scheiße«, fluchte Max, und Jules versetzte ihm einen Klaps. Die Kamera hatte lediglich einen undeutlichen Lichtflecken aufgenommen, ein greller weißer Lichtschein vor dem Hintergrund der verfälschten, grünen Nachtaufnahmen. Anya überprüfte das Material genau, um sicherzugehen, dass Sparky nicht in den Aufnahmebereich geraten war. So oft Brian sie auch um Erlaubnis gebeten hatte, Sparky zu filmen, hatte Anya sie ihm verweigert. Sie war ebenso die Beschützerin des Salamanders, wie er ihr Beschützer war. Sie würde nicht gestatten, dass sein Bild eingefangen und über das Internet verbreitet würde wie eine angebliche Alien-Autopsie.

Ein schrilles Jammern erregte ihre Aufmerksamkeit. Sparky hockte vor der Haustür und schlug mit dem Schwanz auf den Boden wie ein Hund, der dringend raus musste. Von draußen hörte sie, wie der Müllwagen um die Ecke bog. Licht sickerte durch die fest zugezogenen Vorhänge herein.

»Sparky?«

Der Salamander richtete sich auf und kratzte an der Tür. Stirnrunzelnd öffnete Anya. Sparky purzelte hinaus auf die Veranda, rannte durch den Garten in Richtung Nachbargrundstück …

 … und Anya sah, wie die Frau von nebenan ihre Mülltonne in Richtung Bordstein schob. Sie trug einem weißen Bademantel, war außer Atem, und ihre nackten Füße streiften Tau vom Gras. Ihr lockiges Haar war auf einer Seite plattgedrückt, als wäre sie gerade erst aufgestanden.

Sie war der Geist aus dem Korridor.

Aber sie war ebenso real wie die überquellende Mülltonne, die sie zum Bordstein schleifte, gerade rechtzeitig für die Müllabfuhr. Der Müllmann, der sich hinten am Wagen festhielt, sah sie auch. Er winkte ihr zu. Sie winkte zurück und umklammerte mit der anderen Hand den Kragen ihres Bademantels.

»Scheiße«, fluchte Anya.