1. Kapitel

Estancia Arroyo Seco, Sierras de Córdoba

Januar 1961

Francesca stand auf der Anhöhe oberhalb des Maisfelds und betrachtete das weitläufige Anwesen, in dessen Mitte das weiße Haupthaus in der Sonne leuchtete. Es war umgeben von hohen Bäumen in einem sanft hügeligen Park, der fast bis an den Horizont zu reichen schien. Francesca dachte, dass sie diesen Ort immer lieben würde, egal, wie viele Jahre auch vergehen mochten. Selbst wenn sie ihn nie wiedersehen sollte. Aber warum sollte sie ihn nicht wiedersehen? Sie lief den Abhang hinunter und schlug bei den Pappeln den Weg zur Estancia ein.

In der Ferne entdeckte sie den Gutsbesitzer, Señor Esteban Martínez Olazábal. Er saß auf seinem Pferd, einem Fuchs, und erteilte dem Vorarbeiter Don Cívico Anweisungen. Francesca wich Don Esteban nicht aus, sondern ging ihm entgegen. Sie mochte ihn, er war immer gut zu ihr gewesen.

»He, Francesca!«, rief dieser überrascht. »Wir haben dich nicht vor Samstag erwartet.«

»Guten Tag, Señor. Guten Tag, Don Cívico.«

»Grüß dich, Mädchen«, erwiderte der Mann den Gruß und nahm seine Mütze ab.

»Eigentlich hätte ich auch erst am Samstag kommen sollen«, erklärte Francesca, »aber Onkel Alfredo hat mir die Erlaubnis gegeben, schon heute zu fahren.«

»Alfredo lässt dich ganz schön schuften«, bemerkte Don Esteban spaßeshalber.

»Ich mag meine Arbeit, Señor«, erklärte Francesca. Die Antwort gefiel dem Gutsherren. Er schenkte ihr ein strahlendes Lächeln.

»Wie stehen die Dinge in Córdoba?«

»Alles in Ordnung, Señor. Im Haus gibt’s keine Neuigkeiten. Außer dass Onofrio …«

»Was ist mit ihm?«

»Zum Glück nichts Schlimmes, Señor. Als er die losen Dachziegel befestigen wollte, ist er ausgerutscht und …«

»Mein Gott! Er ist vom Dach gefallen?«

»Nein, Señor, aber als er sich an der Regenrinne festklammerte, hat er sich am Handgelenk verletzt und muss jetzt einen Gips tragen.«

Martínez Olazábal starrte sie einen Augenblick lang an, ohne etwas zu sagen. Dann verabschiedete er sich überstürzt, gab dem Pferd die Sporen und stob in Richtung Estancia davon. Verdutzt blickte Francesca ihm hinterher.

»Da schau an, du bist ja noch hübscher geworden!«, stellte Cívico fest, als der Gutsbesitzer ein Stück weg war.

Francesca schenkte ihm ein Lächeln, bevor sie ihm in die Arme fiel, denn sie liebte ihn wie einen Großvater.

»Jacinta und ich haben schon die Tage bis Samstag gezählt. Das junge Fräulein Sofía« – Cívico sprach von Don Estebans jüngster Tochter – »hat uns Bescheid gegeben. Schön, dass du sogar schon früher hier bist!«

Sie gingen zu Don Cívicos Haus, das trotz der Renovierung vor einigen Jahren ein einfacher Rancho geblieben war. Weißgetüncht und mit spanischen Ziegeln gedeckt, von einem ewigen Chaos aus Hühnern, Hunden und herumliegendem Schrott umgeben, war es eine von Francescas schönsten Kindheitserinnerungen. Sie schlugen den Vorhang beiseite, der die Insekten fernhalten sollte, und sofort wehte ihnen der Geruch nach heißen Krapfen entgegen. Jacinta, Cívicos Frau, gab den Teig in den Topf mit dem heißen Fett und summte dabei leise vor sich hin.

»Schau mal her, Frau«, forderte ihr Mann sie auf.

»Wozu? Um dich alten Knochen zu sehen?«

»Ach, geh!«, entgegnete der Vorarbeiter. »Schau doch mal, wen ich mitgebracht habe.«

Jacinta drehte sich um, die Hände voller Teig, die Stirn mit Mehl bestäubt. Sie gab sich alle Mühe, ein missmutiges Gesicht aufzusetzen, das jedoch gleich verschwand, als sie Francesca im Zimmer stehen sah. Sie wischte sich rasch die Hände an einem Geschirrtuch ab, bevor sie das Mädchen umarmte und mit einem Wasserfall an Komplimenten überschüttete. Dann setzten sie sich um den Tisch. Der erste Matetee machte die Runde, während die Krapfen vom Teller verschwanden.

»Erzähl uns von dir, Panchita«, forderte Jacinta sie auf.

»Nichts Neues. Ich arbeite immer noch bei Onkel Fredos Zeitung. Er hat versprochen, mir dieses Jahr eine Kolumne zu geben.«

»Eine was …?«

»Er lässt mich etwas schreiben und veröffentlicht es.«

»Da sieh mal einer an, Jacinta! Unsere Kleine wird noch berühmt!«

Danach berichtete das Ehepaar Francesca, was es auf dem Land an Neuigkeiten gab: Klatsch über Landarbeiter und Herrschaften, welche Tiere Junge bekommen hatten und wie die Ernte ausgefallen war, von Pfarrfesten, Hochzeiten und wer mit wem zusammengekommen war.

»Und Paloma ist im vierten Monat.« Paloma war das jüngste ihrer sechs Kinder. »Die Chaira sagt – die Hellseherin, erinnerst du dich? –, also sie sagt, dass es ganz sicher ein Junge wird.«

»Und wie soll er heißen?«, erkundigte sich Francesca.

»Mal sehen, was der Heiligenkalender sagt«, meinte Cívico.

»Ja, besser als der Wandkalender. Da kommst du an einem 9. Juli zur Welt, dein alter Herr schaut auf den Kalender, sieht ›día cívico‹, Nationalfeiertag, und schon hast du den Salat und heißt Cívico.«

»Pah! Ist doch kein schlechter Name«, brummte ihr Mann.

Francesca mochte die beiden sehr. Sie gehörten zu der Sorte einfacher Menschen, die sie manchmal mit einer Weisheit überraschten, die sie nicht einmal von ihrem Onkel Fredo kannte – eine Mischung aus Einfühlungsvermögen, Schicksalsergebenheit und Lebenslust. Menschen, denen es am Nötigsten fehlte und die dennoch weder Hunger noch Kälte fürchteten und sich nicht unterkriegen ließen.

»Und drüben, im großen Haus?«, erkundigte sich Jacinta.

»Ich bin eben erst angekommen und habe noch keinen gesehen, nicht mal Sofía. Alles beim Alten, denke ich«, sagte Francesca unmutig. »Señora Celia wird unausstehlich sein, genau wie Enriqueta, und Señor Esteban trägt es mit Fassung.«

»Und das Fräulein Sofía? Hat sie sich von dieser … von dieser Geschichte erholt?«

Francesca machte eine vielsagende Geste. Cívico und Jacinta sahen zu Boden und seufzten. Sie mochten die jüngste Tochter des Gutsbesitzers, obwohl sie sie nur wenige Male gesehen hatten. Eigentlich kannten sie Sofía nur durch Francesca, die ihr nahestand wie eine Schwester.

»Heute kommt der junge Herr Aldo«, bemerkte Cívico, um die düsteren Wolken zu vertreiben. »Der Patrón hat es mir eben erzählt.«

»Na, so jung kann der junge Herr nicht mehr sein«, stellte Jacinta fest. »Wie lange hat er sich nicht mehr hier blicken lassen?«

»Na ja …«, sagte Cívico und kratzte sich am Kopf. »Zehn Jahre ungefähr. Er war achtzehn, als sie ihn zum Studium nach Europa geschickt haben. Jetzt muss er um die achtundzwanzig sein.«

»Und kommt er gerade von drüben aus Europa?«

»Nein«, sagte der Vorarbeiter. »Er ist schon seit drei Jahren oder so wieder hier, aber er ist in Buenos Aires geblieben. Die Leute da sind wohl mehr nach seinem Geschmack.«

»Du erinnerst dich gar nicht an ihn, oder?«, fragte Jacinta Francesca.

»Als meine Mama ihre Stelle bei den Martínez Olazábals antrat, war ich sechs Jahre alt. Ich kann mich kaum noch an Aldo erinnern. Er war nur übers Wochenende zu Hause, weil er am La Salle war, einem Internat in Richtung Saldán. Aber ich habe nie ein Wort mit ihm gewechselt. Er vergrub sich die ganze Zeit in der Bibliothek, um zu lesen. Mit Sofía war er ziemlich eng, sie hing sehr an ihrem Bruder. Ich weiß noch, wie sie gelitten hat, als man ihn ins Ausland schickte.«

»Tja, so ist das in dieser Familie«, sagte Cívico bedauernd. »So viel Traurigkeit. Und das alles für nichts.«

Bevor sich erneut dunkle Wolken über sie senken konnten, meinte Jacinta: »He, Cívico, worauf wartest du? Bring unsere Panchita dorthin, wo sie eigentlich hinwollte. Sie ist ja schließlich nicht wegen uns alten Langweilern hergekommen. Los, bring sie zu den Ställen. Der Ärmste wird schon ganz aus dem Häuschen sein; hat sie bestimmt schon gewittert.«

Francesca dankte Jacinta mit einem Lächeln. Sie schämte sich nicht dafür, dass ihr die Ungeduld, endlich ihren Hengst Rex zu sehen, so sehr anzumerken war, denn niemand wusste besser als Jacinta und Cívico, wie sehr sie an dem Pferd hing. Auf dem Weg zur Koppel erzählte ihr der Vorarbeiter, dass Rex – ein reinrassiger Araber – vor Kraft strotze und nach wie vor nervös und eigensinnig sei. Keiner der Landarbeiter traute sich in seine Nähe, weil er die Unart hatte, um sich zu beißen. Also kümmerte Cívico sich darum, ihn zu bewegen, zu bürsten und zu striegeln.

»Dich kennt er«, bemerkte Francesca.

»Er respektiert mich, weil er weiß, dass ich dein Freund bin, sonst würde er nach mir austreten und mir diese riesigen Zähne ins Fleisch schlagen, die Gott ihm gegeben hat. Ich hätte nicht übel Lust, ihn kastrieren zu lassen.«

»Komm bloß nicht auf die Idee, Cívico«, warnte ihn das Mädchen.

»Señor Esteban hat’s mir grad heute noch vorgeschlagen.«

»Meinem Pferd krümmt niemand auch nur ein Haar.«

»Aber es ist nicht dein Pferd, Panchita, es gehört dem Fräulein Enriqueta. Ich hab dir doch gesagt, dass sie’s zum fünfzehnten Geburtstag bekommen hat. Erinnerst du dich?«

»Ja, natürlich erinnere ich mich, aber diese falsche Katze hat sich nicht näher als zehn Meter rangetraut. Sie weiß nicht mal mehr, dass es Rex gibt.«

»Manchmal bereue ich es, zugelassen zu haben, dass du dich so in ein Tier vernarrst, das dir nicht gehört. Und was, wenn der Patrón beschließt, es zu verkaufen?«

Aber Francesca hörte ihm nicht mehr zu. Sie rannte das letzte Stück und sprang leichtfüßig über das Gatter. Als sie ihr Pferd in der Herde entdeckte – es war das einzig völlig Schwarze –, blieb sie einen Augenblick stehen, um sich an seiner stolzen, eindrucksvollen Gestalt zu erfreuen. Dann rief sie nach ihm. Rex hatte sie schon gewittert. Als er nun ihre Stimme hörte, begann er mit den Hufen zu scharren und unruhig zu tänzeln. Die übrige Herde stob erschreckt davon, und der Hengst blieb allein auf der Koppel zurück.

»Hör auf mit diesem Theater und komm her. Ich würde dich gerne von nahem sehen«, schalt ihn Francesca.

Das Pferd kam wiehernd angetrabt und senkte den Kopf. Nachdem Francesca es eine Zeitlang gestreichelt hatte, beschloss sie, aufzusitzen.

»Warte wenigstens, bis ich dir den Sattel bringe!«, rief Cívico vom Gatter aus.

»Ich reite ihn so!«, lautete die Antwort des Mädchens, das sich geschickt aufs Pferd schwang, ihm in die Mähne fasste und ehe Cívico etwas sagen konnte in einer donnernden Staubwolke verschwand.

***

Der Abend färbte den Himmel rot und violett. Francesca lag im Gras, den Kopf in die Hände gestützt. Nicht weit von ihr graste Rex. Der Gesang von Bentevis und Trauertyrannen und das Zirpen der ersten nächtlichen Insekten waren zu hören. Die kühle Luft war von Düften geschwängert, die sie nur mit Arroyo Seco in Verbindung brachte. Nur unwillig stand sie auf. Sie musste nach Hause, sonst würde ihre Mutter sich Sorgen machen. Außerdem hatte sie ihr versprochen, beim Abendessen zu helfen, denn es wurden einige Gäste erwartet.

»Komm, Rex, wir müssen heim.«

Sie brachte das Pferd auf die Koppel und schlenderte lustlos in Richtung Haupthaus. Bei den Pappeln blieb sie stehen und blickte in die weite Landschaft. Obwohl sie dieses Schauspiel schon so oft beobachtet hatte, war sie auch diesmal überrascht, dass die Sonne, die eben noch rund und strahlend hell am Himmel gestanden hatte, nun als schwacher Widerschein hinter den blauen Bergen erlosch. Wann war sie untergegangen? Der Tag schwand unvermutet schnell, und diese Endlichkeit bedrückte sie. »Die Sonne versteckt sich, mein Schatz, weil sie dem Mond nicht begegnen will.«

Niemals würde sie die Stimme ihres Vaters vergessen, wenn sie samstagnachmittags Hand in Hand auf dem Aussichtsturm im Sarmiento-Park gestanden und den Sonnenuntergang betrachtet hatten.

»Wann bist du gegangen, Papa?«, fragte sie sich.

Motorengeräusche rissen sie aus ihren Gedanken. Sie wischte sich die Tränen ab. Es gelang ihr noch, sich hinter einer Pappel zu verstecken, bevor ein Sportwagen in einer Staubwolke an ihr vorbeiraste. Sie konnte drei Insassen erkennen: den jungen Herrn Aldo und zwei Frauen. Sie zuckte gleichgültig mit den Schultern und ging weiter. Es war das erste Mal seit langem, dass sie Aldo Martínez Olazábal sah. Vor zehn Jahren war er nach Frankreich gegangen, um an der Sorbonne zu studieren. Francesca dachte spöttisch, dass er der wohl begehrteste Junggeselle in der ganzen Provinz Córdoba war: reich, aus gutem Haus, mit einem Titel unterm Arm und dem Ansehen derer, die aus dem Ausland zurückgekehrt waren.

Nach wie vor in Gedanken versunken, lief sie weiter. Sie überlegte, dass sie jetzt, da sie für die Zeitung ihres Onkels arbeitete, ein bisschen Geld zurücklegen konnte, um unabhängig zu sein und ihre Mutter von den Martínez Olazábals zu sich zu holen. Aber man musste realistisch sein: Es würde nicht einfach werden, sie von hier wegzubringen, vor allem wegen der Freundschaften, die sie mit dem übrigen Personal geschlossen hatte, insbesondere mit Rosalía. Tatsächlich schien sie gerne in diesem herrschaftlichen Haus zu leben. Vielleicht würde sie alleine weggehen, überlegte Francesca, aber in tausend Jahren würde sie Sofía nicht allein hier zurücklassen, die so verletzlich und schutzlos war. Sie würde sie mitnehmen, nahm sie sich vor.

Als sie durch das Tor kam, das zum Haupthaus führte, sah sie die Familie Martínez Olazábal auf der umlaufenden Veranda, die das alte Herrenhaus umgab: Señora Celia thronte in ihrem Korbsessel mit der hohen Rückenlehne wie eine Königin, die Hof hielt. Enriqueta, die mittlere Tochter, sah aufmerksam zu ihrer Mutter, die mit beredten Gesten etwas erzählte. Sofía saß wie immer etwas abseits und hielt abwesend die Perserkatze auf dem Schoß. Der älteste Sohn, der junge Herr Aldo, blond und blass wie Señora Celia, lächelte gezwungen. Francesca fragte sich, wer das Mädchen sein mochte, das neben ihm saß, und die Frau, die sich mit Señora Celia unterhielt.

***

Aldo beugte sich über seine Schwester Sofía, nahm ihre Hand und drückte einen Kuss darauf. Die Katze maunzte ungnädig und legte sich erst wieder hin, als das Mädchen sie weiterstreichelte.

Im letzten Tageslicht betrachtete Aldo die Parkanlage rings um das Haus und staunte, wie gepflegt und großzügig alles war. Er bewunderte den Rasen, der sich wie ein dicker Teppich hügelan, hügelab dahinzog, bis er sich am Feldrain verlor. Der spanische Patio, ein lauschiges Plätzchen gleich neben der Veranda, mit einem Brunnen und gekachelten Bänken. Er fühlte sich an die schattigen Nachmittage seiner Kindheit erinnert, als er unter dem Nussbaum gelegen und gelesen hatte, bis er irgendwann eingeschlafen war. Weiter hinten, beim Schwimmbad, war der Mirador, eine natürliche Geländeerhebung, die sein Großvater Mariano mit einer niedrigen Balustrade umgeben hatte, wo oft die Damen saßen, um die sanft gewellte Landschaft zu betrachten.

»Wie schön der Park ist!«, bemerkte er. Sofía sah nur wortlos auf. »Nicht zu vergleichen mit Pergamino. Man merkt, dass Cívico ein guter Vorarbeiter ist. Die Felder sind nicht nur in gutem Zustand, sondern bringen auch mehr Ertrag als die in Pergamino, obwohl der Boden dort zehnmal fruchtbarer ist. Ich habe Papa schon gesagt, dass der Vorarbeiter von Pergamino, Don Tarso – du erinnerst dich?« Doch Sofía zeigte kein Interesse. »Don Tarso ist nicht wie Cívico. Eine Katastrophe! Mir ist sogar zu Ohren gekommen, dass er uns Vieh stiehlt und auf eigene Rechnung verkauft.«

»Don Cívico ist ein großartiger Mensch«, sagte Sofía leise, und dann: »Du warst also auf Pergamino.«

»Ja, für eine Woche. Seit ich in Buenos Aires lebe, bittet Papa mich hin und wieder, die eine oder andere Angelegenheit dort zu erledigen. Danach bin ich in die Stadt zurück, habe Dolores und ihre Mutter abgeholt, und dann sind wir hergekommen. Was sagst du zu Dolores? Gefällt sie dir?«

Dolores Sánchez Azúa, Aldos Verlobte, war die Alleinerbin eines der größten Vermögen von Buenos Aires. Gerade tuschelte sie mit Enriqueta, froh, dass sich ihre zukünftige Schwägerin ihrer annahm. Dolores’ Mutter Carmen, aus vornehmer cordobesischer Familie, die mit dem Großgrundbesitzer Carlos Sánchez Azúa die angeblich beste Partie der damaligen Zeit gemacht hatte, beschrieb ihrer Jugendfreundin Celia wortreich ihre Villa in der Calle Carrito.

»Gefällt sie dir, ja oder nein?«, hakte Aldo nach.

»Mir gefällt der Name nicht. María Dolores, die Madonna der Schmerzen – wie kann man ein Kind so nennen?«

»So spöttisch kenne ich dich gar nicht«, gab er amüsiert zurück. »Wer hat dir das beigebracht?«

»Das Leben, vermutlich«, antwortete das Mädchen bissig.

Aldo blickte zu Boden. Sofía bereute es, so kratzbürstig zu ihm gewesen zu sein, und räumte ein: »Sie ist wunderschön, keine Frage. Wie hast du sie kennengelernt?«

»Als Mama mich in Buenos Aires besuchte, hat sie Señora Carmen und Dolores zum Tee eingeladen. So habe ich sie kennengelernt.«

»Mama also …«, murmelte Sofía, ohne dass Aldo es hören konnte. »Das Einzige, was ich dir vorwerfen kann«, sagte sie dann, »ist, dass du dir kein Mädchen aus Córdoba gesucht hast. Ich finde es nicht fair, dass du jetzt nach so vielen Jahren Wurzeln in Buenos Aires schlägst, weil dir ein Mädchen von dort den Kopf verdreht hat. Wenn ihr heiratet, sehe ich euch bestimmt nur an Ostern und Weihnachten.«

»Moment mal! So sehr hat sie mir den Kopf nun auch nicht verdreht. Und das mit der Hochzeit wird sich erst noch zeigen.«

Sofía sagte nichts mehr. Sie winkte verstohlen und lächelte in die Ferne. Aldo sah überrascht nach draußen und entdeckte im Park ein junges Mädchen, das zum anderen Flügel des Hauses ging.

»Wer ist das?«

»Francesca, die Tochter von Antonina, der Köchin. Erinnerst du dich an sie?«

»Vage.«

»Francesca ist meine beste Freundin«, erklärte Sofía.

»Sag ihr, sie soll herkommen, ich möchte sie begrüßen.«

»Du bist verrückt«, entgegnete das Mädchen. »Wenn Mama sie hier sieht, hetzt sie die Hunde auf sie. Nein, komm bloß nicht auf die Idee, sie rufen zu lassen.«

Angesichts von Aldos erstauntem Blick fügte Sofía hinzu: »Sie will nicht, dass wir befreundet sind. Wenn sie wüsste, dass wir seit fünfzehn Jahren Freundinnen sind, würde sie auf der Stelle in Ohnmacht fallen!«

Celia unterbrach die Unterhaltung mit Doña Carmen, um ihrer zukünftigen Schwiegertochter ein Kompliment zu machen und Aldo gutgemeinte Ratschläge zu geben. Auf den Vorschlag der Gastgeberin hin begaben sich alle auf ihre Zimmer, um sich für das Abendessen zurechtzumachen, das in einer Stunde serviert würde. Aldo trödelte auf der Veranda herum und sah der Gestalt hinterher, die durch den Laubengang zum Küchentrakt ging. Er hatte Glück, denn irgendjemand machte die Lampe am Ende des Weges an, und er konnte sehen, dass sie groß war und eine schlanke Figur hatte.

»Was für schöne Haare!«, dachte er.

***

Als Francesca in die Küche kam, war ihre Mutter gerade dabei, gemeinsam mit drei Küchenhilfen die raffinierten Gerichte zuzubereiten, die Señora Celia angesichts der wichtigen Gäste bestellt hatte. Die Jahre, der Kummer und die harte Arbeit hatten Antoninas jugendlich-schlanker Gestalt und der Schönheit ihrer sizilianischen Gesichtszüge nichts anhaben können.

»Endlich lässt du dich mal blicken!«, schimpfte sie, als sie ihre Tochter im Türrahmen stehen sah.

Bevor Francesca etwas entgegnen konnte, wies ihre Mutter die Hausmädchen an, den Tisch im Speisezimmer mit dem englischen Porzellan, den Silberleuchtern, dem böhmischen Kristall und der weißen Spitzentischdecke zu decken. Die Mädchen gingen hinaus, wobei sie sich angeregt über die Verlobte des jungen Herrn Aldo unterhielten.

»Entschuldige, Mamma, ich habe mich bei Jacinta und Cívico aufgehalten, und dann war ich noch bei Rex.«

Die Mutter wollte ihr Vorhaltungen machen, weil sie das Pferd von Fräulein Enriqueta ritt, ließ es aber bleiben, weil sie wusste, dass es nichts nützen würde. Francesca machte ohnehin immer, was sie wollte. Sie warf ihr einen kurzen Blick zu und lächelte stolz, als sie in ihren Augen die unerschütterliche, unbeugsame Art des Vaters entdeckte.

»Señor Esteban ist in die Stadt gefahren. Vorher hat er sich bei mir nach Onofrios Unfall erkundigt«, erzählte Antonina. »Hat Rosalía dir nicht gesagt, dass du wegen Onofrio den Mund halten sollst, damit der Herr sich keine Sorgen macht?«

Antonina funkelte ihre Tochter wütend an, die ihr ohne jedes Anzeichen von Reue gegenüberstand. Ich hätte Francesca das mit Señor Esteban und Rosalía nie erzählen dürfen, sagte sie sich, obwohl sie sicher war, dass ihre Tochter niemals ein Wort darüber verlieren würde. Francesca schnupperte an den Töpfen, probierte die Götterspeise und tunkte den Finger in den Pudding, bevor sie sich verteidigte.

»Er soll sich ruhig kümmern«, sagte sie. »Außerdem wollte ich ihn von der Koppel weglocken, um mit Don Cívico sprechen und Rex reiten zu können. Wenn du sein Gesicht gesehen hättest, Mamma, als ich ihm sagte, dass Onofrio beinahe vom Dach gefallen ist. Er hat dem Pferd die Sporen gegeben und ist wie von Sinnen davongeprescht.«

Als Francesca auf ihr Zimmer ging, um sich umzuziehen, wanderten Antoninas Gedanken zehn Jahre zurück. Hier, in der Küche der Martínez Olizábals, hatten damals ihre beste Freundin Rosalía und der Patrón gestanden und sich geküsst, dass es ihr die Sprache verschlug. Antonina hatte sich in der Waschküche versteckt und abgewartet, bis der Herr gegangen war. Als sie wieder in die Küche kam, sah sie, wie Rosalía mit einem glückseligen Lächeln die Schürze glattstrich und das zerwühlte Haar richtete. Antonina gab ihr mit einem Blick zu verstehen, dass sie Bescheid wusste. Rosalía ließ sich verlegen auf einen Stuhl sinken, schlug die Hände vors Gesicht und brachte unter Schluchzen hervor, dass sie sie jetzt bestimmt für ein dahergelaufenes Flittchen halte. Antonina hatte Mühe, sie zu beruhigen, und bat sie schließlich, ihr alles zu erzählen.

Rosalía Bazán war eine schöne Mestizin aus Traslasierra mit tiefgründigen braunen Augen, schwerem, dunklem Haar und verführerischen Rundungen. Sie hatte den Rancho der Familie verlassen, um einem Leben zu entfliehen, das eigentlich kein Leben war. In Córdoba fing sie als Bedienung in einer zwielichtigen Kneipe an, wo jene tranken, die zuvor in den umliegenden Bordellen ihre fleischlichen Lüste gestillt hatten. Dort lernte sie den gutaussehenden, sympathischen Esteban Martínez Olazábal kennen, der sie mit süßen Worten und guten Manieren für sich gewann. »Ich verliebte mich unsterblich in ihn«, erzählte sie. Einige Zeit später gestand ihr Esteban, dass er mit einer Dame aus der besten Gesellschaft von Córdoba verlobt sei, Celia Pizarro y Pinto, die er jedoch nicht liebe, so beteuerte er. In ihrer Naivität fragte Rosalía ihn, weshalb er denn mit einer Frau zusammen sei, die er gar nicht liebe. Esteban gab keine Antwort und wich ihrem Blick aus. Rasend vor Eifersucht und empört über die Feigheit und Leichtfertigkeit ihres Geliebten, warf sie ihm vor, dass er ein schlechter Mensch sei und sie ihn nicht wiedersehen wolle.

Einige Monate später erfuhr Esteban, dass Rosalía ein Kind von ihm erwartete. Er war mittlerweile mit Celia verheiratet, die ebenfalls schwanger war, aber er konnte an nichts anderes denken als an seine verlorene Liebe und das Kind, das Rosalía ihm schenken würde. Er gab sich alle Mühe, Zuneigung für Celia zu empfinden, doch die Kälte und Oberflächlichkeit seiner Frau machten es ihm unmöglich, sie auch nur zu mögen. In seiner Verzweiflung nahm er all seinen Mut zusammen und ging zu Rosalía, die ihn jedoch, eifersüchtig und in ihrem Stolz verletzt, abwies. Tag für Tag erschien Esteban in der Kneipe, und da Rosalía ihn immer noch liebte, verzieh sie ihm einige Wochen später. Eines Tages stand sie mit einem alten Koffer am Hintereingang des Hauses der Martínez Olazábals, auf dem Arm ein Baby namens Onofrio, und wurde Teil des Personals. Keiner kannte die Wahrheit, auch nicht der kleine Onofrio, bis zu dem Tag, als Antonina die beiden in der Küche dabei ertappte, wie sie sich küssten.


Francesca kehrte frisch gewaschen und umgezogen in die Küche zurück. Weder sie noch ihre Mutter verloren ein Wort. Jede in ihre eigenen Gedanken vertieft, schnitten sie Früchte für den Obstsalat, schmeckten Saucen ab, glasierten Schinken, schlugen Eischnee für die Baisers und wuschen Erdbeeren.

Sofía erschien in der Küche und schlich sich von hinten an ihre Freundin an. Sie hatten sich seit Wochen nicht gesehen und redeten vor lauter Freude beide gleichzeitig aufeinander ein. Auch Antonina bekam ihren Anteil an Umarmungen ab. Sie war nicht überrascht, wusste sie doch, dass Sofía sie fast wie eine Mutter liebte. Angesichts von Celias Gleichgültigkeit hing Sofía verzweifelt an ihr, einer einfachen, ungebildeten, aber herzlichen und liebevollen Frau, die immer nach Vanille und frisch gebackenem Brot roch.

»Ich würde ja lieber mit euch essen«, sagte Sofía, »aber meine Mutter hat eine hundsmiserable Laune, weil mein Vater so überstürzt nach Córdoba aufgebrochen ist. Sie ist stinkwütend, weil sie findet, dass es ein Affront gegen Señora Carmen und Aldos Verlobte Dolores ist. Was mag Papa dazu gebracht haben, so Hals über Kopf in die Stadt zu fahren?«

Ohne eine Antwort zu geben, begleitete Francesca ihre Freundin noch ein Stückchen, ging aber nicht mit bis zum Haus. Auf der Veranda saß immer noch Señora Celia in ihrem mächtigen Sessel und blätterte in einer Zeitschrift. Sie verabschiedeten sich am Ende des Laubengangs, und während sie zusah, wie Sofía durch den Seiteneingang schlüpfte, um ihrer Mutter aus dem Weg zu gehen, spürte sie erneut die beklemmende Schuld ihres großen Geheimnisses auf sich lasten. Sie hatte dieses Gefühl lange nicht mehr gehabt und gedacht, sie wäre darüber hinweg. Aber als sie ihre Freundin am Nachmittag so gedankenverloren abseits ihrer Familie sitzen sah, wusste sie genau, an wen sie dachte.


Die Nonnen an der Schule 25 de Mayo hatten Sofía eingetrichtert, sich von den Jungen fernzuhalten. Der Aufruhr der Gefühle und das wilde Herzklopfen seien des Teufels. In solchen Fällen seien ein Schluck Essig und ein Rosenkranzgebet, auf grobkörnigem Salz kniend, fromme Mittel, um wieder zur Besinnung zu kommen und Luzifer zu vertreiben. Sofía, benommen von Nandos Anziehungskraft, dem Aufruhr der Gefühle und dem wilden Herzklopfen, vergaß den Essig, den Rosenkranz und das grobkörnige Salz und gab sich ihm Hals über Kopf hin. Francesca, die noch nie verliebt gewesen war, erlebte die heimliche Leidenschaft ihrer Freundin hautnah mit und sehnte sich danach, eines Tages genauso zu lieben.

Nach einiger Zeit wurde der sachlich veranlagten Francesca klar, dass Sofías Eltern Nando niemals akzeptieren würden, einen Jungen aus Mina Clavero, der wie so viele andere in die Provinzhauptstadt gekommen war, um hier sein Glück zu machen. Er arbeitete als Lehrling in der Firma von Martínez Olizábal und wollte Geld zusammensparen, um in seinem Heimatdorf ein Stück Land zu kaufen und dort mit Sofía zu leben. »Du kümmerst dich um den Haushalt und die Kinder, und ich bestelle das Land«, sagte er zu ihr. In einem Notizbuch schrieb er alles auf, was er über Viehzucht, Ernte, Aussaat, Tierheilkunde, Aufzucht und Mast mitbekam. In der Bibliothek machte er sich über die Bodenbeschaffenheit in Córdoba kundig. Wenig geeignet für den Getreideanbau sei er, hieß es, außer im Süden, sondern eher für die Viehzucht zu verwenden. Er unterhielt sich lange mit Don Cívico, wenn dieser in der Stadt war. »Er weiß mehr als alle Bücher«, sagte er zu Sofía, und sie brachte ihn mit einem Kuss zum Schweigen, weil sie ganz verrückt nach seiner Liebe war.

Als sie schwanger wurde, wusste Sofía nicht, was sie machen sollte. Sie hatte Angst, es Nando zu sagen, weil sie sicher war, dass er sie sitzenlassen würde. Schließlich stand ein Kind seinen Zukunftsplänen im Weg. An ihre Eltern dachte sie gar nicht, aber als sie Francesca die Wahrheit gestand, kamen sie gemeinsam zu dem Schluss, dass es keinen anderen Ausweg gab: die Herrschaften mussten es erfahren. »Dein Vater wird dich in Schutz nehmen, Sofi, mach dir keine Sorgen«, machte Francesca ihr Mut und bezahlte immer noch mit Schuldgefühlen für diesen naiven Ratschlag.

Als ihre Freundin mit der Miene einer zum Tode Verurteilten im Zimmer ihrer Mutter verschwand, presste Francesca das Ohr an die Tür, um zu lauschen. Bald war die Stimme von Señora Celia zu hören, die ihre Tochter als Hure und Flittchen beschimpfte, und Sofías Schluchzen und Jammern. Francesca stürzte herein und ging dazwischen, um zu verhindern, dass Sofía von ihrer Mutter verprügelt wurde. Dabei warf sie Doña Celia tausend Dinge an den Kopf, die sich mit den Jahren angestaut hatten. Señora Celia war wie vom Donner gerührt und reagierte erst wieder, als sie die Stimme ihres Mannes hörte. Der war dazugekommen und befahl Francesca zu schweigen und das Zimmer zu verlassen. Die angsterfüllten Augen ihrer Freundin waren das Letzte, was sie sah.

Sofía musste auf ihrem Zimmer bleiben, zu dem nur Señora Celia den Schlüssel hatte. Auf Anraten von Rosalía, die mit Señor Esteban gesprochen hatte, schickte Antonina ihre Tochter für eine Weile zu ihrem Onkel Fredo nach Córdoba. Nando fiel aus allen Wolken, als Señor Esteban ihm einen Umschlag mit Geld in die Hand drückte und ihm mitteilte, dass er ihn nicht mehr brauche. Da er überzeugt gewesen war, gute Arbeit geleistet zu haben, war die Entlassung eine Ohrfeige für ihn. Am Abend wartete er am Hintereingang der Stadtvilla auf Sofía. Er war überrascht, als Antonina mit verheulten Augen zu ihm kam und ihm sagte, Sofía sei für längere Zeit verreist und sie wolle ihn nicht wiedersehen. Am Boden zerstört, ohne Arbeit und ohne Liebe, ging er in die Pension in Alto Alberti, packte seine wenigen Habseligkeiten und verließ die Stadt, um woanders sein Glück zu suchen. Er schwor sich, nie mehr nach Córdoba zurückzukehren, wo ihn alles an Sofía erinnerte.

***

Sofía brach zu einer Reise auf, von der keiner wusste, wohin sie führte und wie lange sie dauern würde. Nach einer Weile erlaubte Esteban Francesca, aus ihrem Exil zurückzukehren. Er gab ihr jedoch deutlich zu verstehen, Señora Celia aus dem Weg zu gehen und zu Sofías Bestem nicht über die »Angelegenheit« zu sprechen oder Fragen zu stellen. Es war ein hartes Jahr für Francesca. Sie war einsam und von Schuldgefühlen geplagt.

Wir hätten fortlaufen sollen, um das Baby weit weg von hier zu bekommen. Onkel Fredo hätte uns geholfen, haderte sie mit sich. Sie wurde immer dünner, verlor das Interesse an der Schule, las nicht mehr – ein Symptom, das ihre Mutter am meisten beunruhigte – und streifte stundenlang, in stumme Selbstgespräche versunken, durch den Park des Anwesens. Sie hörte nichts von Sofía, erhielt keinen Brief und traute sich auch nicht, nach ihrer Adresse zu fragen, um ihr zu schreiben. Die jüngste Tochter der Martínez Olazábal wurde totgeschwiegen. Es gab sie nicht mehr, und wenn doch einmal jemandem ihr Name herausrutschte, unterband Celias schneidender Blick jeden weiteren Versuch.

Ein Jahr später kam Sofía nach Córdoba zurück, und schon bei der ersten Umarmung wusste Francesca, dass sie innerlich gebrochen war. Schweigend saßen sie in der Dachkammer, die den beiden Freundinnen seit Kindertagen als Versteck diente, und weinten. Sie weinten um die verlorene Liebe, aus quälenden Schuldgefühlen, um das Kind, das es nie geben würde, und wegen so viel verlogener Scheinheiligkeit.

»Mein Baby ist tot zur Welt gekommen, Francesca. Keiner hat es gewollt, und so wollte es auch nicht leben.«

Francesca wünschte sich, sie hätte niemals erfahren, dass das Kind in Wirklichkeit – zu einem Bündel verschnürt – lebend aus dem Haus in der Nähe von Paris weggeschafft worden war, wo Sofía ihre Schwangerschaft verbracht hatte, und einem Waisenhaus übergeben wurde, wo man es seit Tagen erwartete. Esteban hätte nämlich niemals einer Abtreibung zugestimmt, wie er Rosalía gestand. »Es ist nicht rechtens, dass man eine Sünde mit einer anderen aus der Welt schafft«, erklärte er.

Dieses Wissen belastete Francesca noch mehr als die Schuldgefühle wegen ihres schlechten Ratschlags, sich an die Mutter zu wenden. Tagelang überlegte sie, ob sie ihrer Freundin die Wahrheit sagen sollte, aber Sofías abwesender Blick, ihre brüchige Stimme und ihre unaufhörlich zitternden Hände machten ihr schließlich klar, dass sie ihr damit in ihrer geschwächten Verfassung noch mehr schaden würde. Und so schwieg sie, ohne zu wissen, ob sie richtig handelte.

***

Francesca ging durch den Laubengang in die Küche zurück, wo ihre Mutter sie anwies, sich die Servierschürze umzubinden. Widerstrebend tat sie wie geheißen, denn sie hatte keine Lust, bei Tisch zu bedienen.

»Warum ist Paloma nicht geblieben, um zu helfen? Ich bin nicht in der Stimmung für Enriquetas Unverschämtheiten. Ich sag’s dir, ich werde ihr die Suppe über den Kopf schütten.«

Antonina verkniff sich ein Grinsen und versuchte, tadelnd zu schauen. Dann versprach sie Francesca, dass sie nicht im Speisezimmer bedienen und das Fräulein Enriqueta ertragen müsse; sie sollte nur im Vorraum die Teller anrichten.

Beim Abendessen nickte Aldo Antonina freundlich zu. Dann beteuerte er, nicht einmal in den besten Pariser Restaurants so gut gegessen zu haben. Die Köchin, die genau wusste, dass sich die Hausherrin über das höfliche Lob des Jungen ärgerte, nickte nur mit dem Kopf, ohne dabei hochzublicken.

»Was hat Señor Aldo zu dir gesagt?«, wollte Francesca wissen.

»Dass es ihm schmeckt. Er ist sehr nett.«

Francesca lugte ins Speisezimmer, und für einen kurzen Moment traf sich ihr Blick mit dem des jungen Herrn. Verlegen zuckte sie zurück und verbarg sich hinter dem Türrahmen. Dieser flüchtige, unbedeutende Moment hatte sie unerklärlicherweise sehr berührt.

***

Später nahmen die Familie und ihre Gäste auf der Veranda den traditionellen Cappuccino ein. Selbst Celia redete nicht viel; die Müdigkeit und der stille Abend auf dem Lande hatten sie schweigsam werden lassen. Sofía war die Erste, die eine gute Nacht wünschte und dann im Dienstbotentrakt verschwand, ohne dem vernichtenden Blick ihrer Mutter Beachtung zu schenken. Etwas später brach auch Celia auf und ermunterte Enriqueta und Señora Carmen, es ihr gleichzutun.

Aldo und Dolores blieben allein zurück. Sie rückte ihren Sessel heran, nahm die Hand ihres Verlobten und flüsterte ihm zu, wie gut er aussehe. Aldo lächelte gezwungen und gab das Kompliment zurück. Keine Frage, mit ihrem goldblonden Haar und den blass schimmernden Wangen war Dolores eine Schönheit, die mehr als einem den Atem verschlug. Aber dieses dunkle Augenpaar, in das er während des Abendessens geblickt hatte, machte Aldo noch nachdenklicher und stiller als sonst. Schließlich gab Dolores sichtlich entnervt auf, seine Aufmerksamkeit zu erregen. Doch davon bekam ihr Verlobter gar nichts mit, weil er immer noch mit verlorenem Blick in den endlosen Garten hinaussah.

»Lass uns zu Bett gehen, Liebling«, schlug Aldo schließlich vor. »Ich bin müde. Es macht dir doch nichts aus, oder?«

»Wenn du es wünschst …«

Beseelt von dem Wunsch, in ihrem Verlobten die gleiche Leidenschaft zu wecken, die sie für ihn empfand, hatte sich Dolores von dem Besuch auf dem Land viel versprochen. Sie träumte von sternklaren Nächten, Ausritten an unberührte Orte und den rauen Sitten der Gauchos, die sie insgeheim erregend fand. Aber es war offensichtlich, dass Aldo nicht empfänglich für dergleichen war. Er stand auf und ging ins Haus, ohne auf sie zu warten.

In seinem Zimmer fand Aldo keinen Schlaf. Die Hitze, die Stechmücken und die zu weiche Matratze trieben ihn schließlich wieder aus dem Bett. Er war unruhig, seine Gedanken sprangen von einem Thema zum nächsten. Er steckte sich eine Zigarette an und trat ans Fenster, um zu rauchen. Wie hatte die Verbindung mit Dolores nur plötzlich so beengend werden können? Geblendet von ihrer Schönheit, hatte sie ihn auch mit ihrer guten Erziehung und ihrem feinen Auftreten für sich eingenommen. Nun, da der erste Rausch verflogen war, war ihm ihre Nähe zutiefst unangenehm.

Ein Rascheln im Park, das Knacken trockener Zweige überlagerte die gewohnten Geräusche. Aldo sah aus dem Fenster. In der Dunkelheit war eine weiße Gestalt zu erkennen, die dem Mirador entgegenzuschweben schien. Ihm kamen die Geschichten von verlorenen Seelen und Gespenstern in den Sinn, die Don Cívico ihm erzählt hatte, als er ein Kind war. Die unheimliche Erscheinung blieb an der Balustrade des Aussichtspunktes stehen und verschwand dann zwischen den Büschen, hinter denen das Schwimmbecken lag. Er löschte die Zigarette, warf den Morgenmantel über und verließ das Schlafzimmer.

Schnellen Schrittes durchquerte er den Park. An der Treppe zum Schwimmbad nahm er immer zwei Stufen auf einmal. Das Gespenst hatte sich in eine schöne Frau verwandelt, die prüfend den Fuß ins Wasser tauchte und leise eine Melodie summte. Er kauerte sich hinter die Büsche und beobachtete sie bei ihrem Bad im Mondschein. Dieses übernatürliche und doch irdische Geschöpf, das dort anmutig seine Bahnen zog, verzauberte ihn und ließ ihn all seine Sorgen vergessen. Ihm stockte der Atem, als die Unbekannte den Badeanzug abstreifte und sich in den weißen Morgenmantel hüllte. Als sie die Kapuze hochschlug, verwandelte sie sich wieder in den Geist, der ihn hergelockt hatte und der nun in dem dunklen Laubengang verschwand.