7. Kapitel

Ende September landete Francesca nach einer endlosen, erschöpfenden Reise auf dem Flughafen von Riad. Von Genf aus war sie mit dem Zug nach Frankfurt gefahren und hatte dort ein Flugzeug genommen, das nach einem zehnstündigen Flug in Dschidda ankam, der zweitgrößten Stadt Saudi-Arabiens. Dort hatte sie einen längeren Aufenthalt gehabt, weil sich ihr Anschlussflug verspätete. Ihr war nicht sehr wohl in Gegenwart der Männer mit ihren Kopfbedeckungen, die sie nicht sehr freundlich musterten. Schließlich hob ihr Flugzeug in Dschidda ab und erreichte zwei Stunden später die Hauptstadt.

Als sie das Flughafengebäude betrat, hatte sie das Gefühl, sich nun wirklich auf arabischem Boden zu befinden. Sie empfand eine Mischung aus Angst vor dem Unbekannten und erwartungsvoller Neugier, die ihr ein Kribbeln in der Magengegend verursachte. »Wie bin ich bloß in Arabien gelandet?«, fragte sie sich und wusste nicht, ob sie lachen oder weinen sollte. Als sie sich umschaute, fiel es ihr schwer, zu glauben, dass die Araber in früheren Zeiten eine Hochkultur gewesen sein sollten. Von dem alten Glanz war nicht viel übrig geblieben.

Sie nahm den Koffer und folgte den übrigen Passagieren, denn es gab keine Hinweisschilder. Vor ihr tauchte eine große Halle auf, und die Menge zerstreute sich langsam und schweigend. Sie blieb allein zurück und wartete.

»Mademoiselle de Gecco?«

Die sanfte Stimme kam von hinten. Sie drehte sich um und sah sich einem dunklen Augenpaar gegenüber, das sie von oben bis unten musterte. Sie hatte ihre Kleidung sorgfältig ausgewählt, doch das schien diesem Mann nicht zu genügen, der ein weißes Baumwollgewand trug und auf dem Kopf ein Tuch im gleichen Farbton, das von einer breiten Kordel gehalten wurde. Sein Gesicht war schmal und dunkel. Es fiel Francesca schwer, sein Alter zu schätzen, aber sie vermutete, dass er um die vierzig sein musste.

»Ja, ich bin Francesca de Gecco«, bestätigte sie und streckte ihm die Hand entgegen.

Der Araber hingegen führte die seine zum Herzen, an die Lippen und an die Stirn, dann streckte er sie aus und machte eine leichte Verbeugung. Francesca erinnerte sich an das, was sie gelesen hatte: Es war die traditionelle Begrüßung der Beduinen, die nach wie vor einen Großteil der Bevölkerung der Arabischen Halbinsel ausmachten – Männer ohne Staatsoberhaupt und Regierung, Söhne der Wüste, die Allah und seinen Propheten Mohammed fürchteten und nur die Autorität der Stammesführer und die Gesetze der Wüste anerkannten, deren Unbarmherzigkeit ihre Wege bestimmte und sie zu rastloser Wanderschaft im Wandel der Jahreszeiten zwang. Auch im 20. Jahrhundert noch prägten sie mit ihren Karawanen die unveränderliche Landschaft.

»Ich bedaure, dass Ihr Flug sich verspätet hat«, sagte der Mann in untadeligem Französisch, jedoch mit starkem Akzent. »Sie müssen müde sein. Mein Name ist Malik bin Kalem Mubarak. Ich bin von nun an Ihr Fahrer und stehe zu Ihrer persönlichen Verfügung.« Er nahm Francescas Gepäck und setzte hinzu: »Wir müssen noch durch die Abfertigung. Dauert nur ein paar Minuten.«

In dem Büro unterhielten sich drei Männer in khakifarbenen Hemden und Hosen sowie der unvermeidlichen Kopfbedeckung angeregt auf Arabisch. Als sie Francesca bemerkten, verstummten sie augenblicklich. Malik ergriff das Wort, und einer der Araber antwortete ihm unwirsch. Sie diskutierten, und Francesca befürchtete, dass es Probleme mit ihrem Visum gab.

»Sie wollen Ihr Gepäck überprüfen, Mademoiselle«, erklärte Malik. »Ich kann ihnen nicht begreiflich machen, dass Sie der Botschaft angehören. Sie stehen noch nicht auf der Personalliste. Es ist nur eine Routineuntersuchung.«

Francesca stellte die Handtasche auf den Tisch, und Malik tat das Gleiche mit dem Koffer. Zwei Beamte begannen, die Taschen zu durchsuchen; der, der wie der Vorgesetzte aussah, vertiefte sich in ihren Pass. Die Männer durchwühlten ihre Wäsche, untersuchten die Parfüms, Cremes und die anderen Kosmetika. Francesca musste sich beherrschen, um ruhig zu bleiben und nicht an ihrem ersten Tag in Saudi-Arabien eine Szene zu machen. Schließlich nahm einer der Männer den Bildband über klassische Malerei aus dem Koffer, der ein Abschiedsgeschenk von Marina war, blätterte ihn flüchtig durch und wandte sich dann streng an Malik.

»Mademoiselle de Gecco«, erklärte Malik, »Sie können nicht mit diesem Buch in die Stadt. Der Koran erlaubt keine figürlichen Darstellungen.«

Das geht ja gut los, dachte Francesca sarkastisch und ballte die Fäuste, um dem Kerl das Buch nicht aus den Händen zu reißen.

»Ist das unbedingt nötig?«, fragte sie dann unwillig.

»Der Koran verbietet es«, insistierte Malik.

Schließlich gab sie nach und sah, wie ihr schönes Buch in den Tiefen einer Schublade verschwand. Die Zöllner gaben ihr ihre durchwühlte Habe zurück, und Malik deutete zum Ausgang, ohne sie dabei anzusehen.

Auf der Fahrt zur Botschaft saß Francesca bequem im Fond des Mercedes-Benz und konzentrierte sich auf die Umgebung. In Riad war tatsächlich die Zeit stehengeblieben. Ein Labyrinth aus engen, zumeist geschotterten oder grob gepflasterten Straßen führte an schmucklosen, alten, aber gut erhaltenen Gebäuden entlang. Die grauen oder rötlichen Fassaden waren in eine endlose Staubwolke gehüllt, die sich nie zu legen schien. »Wie dunkel muss es da drinnen sein!«, sagte sie sich, als sie bemerkte, dass die Häuser nur zwei oder drei Fenster besaßen, die von filigran geschmiedeten Gittern geschützt wurden. Hin und wieder ragte eine eindrucksvolle Moschee aus der Stadtlandschaft heraus.

Malik sprach nicht. Verärgert über den Vorfall mit dem Buch, fragte er sich, ob es wirklich nötig war, eine Frau als Assistentin des Botschafters einzustellen. Er mochte die Ungläubigen nicht, Männer wie Frauen, aber er hätte doch einen Angehörigen seines eigenen Geschlechts bevorzugt statt dieses jungen Mädchens, dem die Schamlosigkeit des Westens ins Gesicht geschrieben stand. Es erschien ihm als eine Todsünde, dass Andersgläubige die Dreistigkeit besaßen, den Boden zu betreten, auf dem der Prophet Mohammed geboren war.

Als sie das Diplomatenviertel erreichten, änderte sich die Umgebung. Die schlichten orientalischen Häuser wichen kleinen Palais und Villen im besten Pariser Stil, die von großen Gärten mit schmiedeeisernen Zäunen umgeben waren.

»Wir sind da«, verkündete Malik.

Das Auto bog durch das Tor in einen gepflegten Park, in dem allerdings nicht viel wuchs und blühte. Die größte Aufmerksamkeit zogen die Dattelpalmen auf sich, die den Weg zum Eingangsportal säumten. Malik öffnete den Wagenschlag und half Francesca beim Aussteigen. Eine zierliche Frau mit einem angenehmen Lächeln erschien und nahm ihr das Handgepäck ab.

»Herzlich willkommen, Mademoiselle«, sagte sie und lächelte noch stärker. »Mein Name ist Sara. Ich bin für den Haushalt der Botschaft zuständig.«

Malik verschwand mit dem Koffer, und Sara führte Francesca zum Eingang.

»Es ist eine Freude, Sie hier bei uns zu haben«, fuhr Sara fort. »Ich bin froh, dass noch eine Frau in die Botschaft kommt, denn außer der Köchin, Yamile, und mir sind alle Männer. Überhaupt sind wir nur wenige hier.«

Sara machte einen netten Eindruck auf Francesca.

»Sie müssen erschöpft sein«, sprach sie weiter, während sie sie die Treppe hinaufbegleitete. »Es ist eine weite Reise. In diesem Trakt ist Ihr Zimmer. Ich hoffe, es sagt Ihnen zu.«

»Ganz bestimmt«, versicherte Francesca.

»Der Herr Botschafter …«, fuhr Sara fort, während sie die Tür öffnete. »Bitte, treten Sie ein. Das ist Ihr Zimmer. Der Herr Botschafter hat auf sie gewartet, aber da sich Ihre Ankunft verzögerte, konnte er nicht länger warten und musste zu einem Termin gehen.«

»In Dschidda gab es eine Verspätung«, erklärte Francesca.

»Ja, ja. In diesem Land gibt es ständig Verspätungen«, bemerkte Sara und zuckte mit den Schultern. »Jedenfalls lässt der Herr Botschafter ausrichten, dass er Sie heute Abend begrüßen wird, wenn er zurückkommt. Wie wäre es mit einem Bad?«

»Ja, das wäre sehr schön.«

Nach dem Baden legte sich Francesca aufs Bett, schaute an die Decke und fragte sich erneut: »Was zum Teufel mache ich eigentlich hier?«

***

Mauricio Dubois, der argentinische Botschafter in Saudi-Arabien, war nicht älter als fünfunddreißig. Er war groß und schlank und ein bisschen linkisch in seinen Bewegungen, aber er besaß die Manieren eines Gentleman, eine sanfte Stimme, die stets beruhigend auf Francesca wirkte, und den offenen Blick eines ehrlichen Mannes.

Anders als den Konsul in Genf musste sie ihn nur selten an seine Verabredungen und Termine erinnern. Er war bestens über die Vorgänge in der Botschaft informiert und sorgte sich um das Wohlergehen seiner Untergebenen. Mit der Zeit bewunderte Francesca ihn genauso wie Fredo. Sie mochte seine ruhige, ausgleichende Persönlichkeit, seine gelassene, aber bestimmte Art, wenn er auf einen Fehler hinwies, die Geduld, mit der er etwas erklärte, und dass er sich Zeit zum Nachdenken nahm. Er war sehr gebildet, ohne je damit zu prahlen. Es schien ihm sogar unangenehm zu sein, wenn Francesca darauf zu sprechen kam.

»Du staunst, weil ich viel über die Araber weiß, aber gib dir ein bisschen Zeit, dann weißt du genauso viel wie ich.«

»Das bezweifle ich«, entgegnete Francesca.

Als sie sich kennenlernten, bemerkte Francesca, dass Dubois überrascht, vielleicht auch verärgert über ihr Alter war, auch wenn er es zu überspielen versuchte.

»Wie alt bist du?«, fragte er, während er in den Unterlagen blätterte.

»Einundzwanzig«, antwortete Francesca selbstbewusst.

Mauricio blickte auf und sah sie ernst an. Wegen der unzähligen Termine in Francescas ersten Wochen in Riad hatte er noch keine Zeit gehabt, ihren Lebenslauf aufmerksam zu lesen.

»Ich hätte dich schon im August hier gebraucht«, fuhr der Botschafter fort, »aber es gab eine Verzögerung. Sie wollten eigentlich jemand anderen schicken, aber im letzten Moment, ich weiß nicht, warum, fiel die Wahl auf dich. Ich weiß, dass du im Konsulat in Genf gearbeitet hast. Ich hoffe, du bist nicht unglücklich über die Versetzung. Obwohl die Araber so ganz anders sind als wir, ist es eine faszinierende Kultur, die dir gefallen wird.«

Ja, klar, dachte sie ironisch, und der Zwischenfall am Flughafen kam ihr wieder in den Sinn. Fast hätte sie ihn erwähnt, doch dann schwieg sie lieber. Stattdessen reichte sie dem Botschafter ein Empfehlungsschreiben des Konsuls.

»›Fräulein de Gecco‹«, las Dubois laut vor, »›ist fleißig und intelligent. Sie beherrscht ihre Arbeit perfekt und erledigt ihre Aufgaben eigenverantwortlich und selbständig.‹ Ich sehe, dein früherer Chef hält große Stücke auf dich. Er wird deinen Weggang bedauern. Tja, tut mir leid für ihn, aber ich freue mich, dass du zu uns gekommen bist. Abgesehen von dem arabischen Dienstpersonal besteht die Botschaft nämlich nur aus dir, dem Finanzbeauftragten, dem Militärattaché und mir. Ich will dir nichts vormachen, Francesca. Deine Arbeit wird nicht einfach sein. Du wirst nicht nur meine persönliche Assistentin sein, sondern des öfteren auch als Sekretärin für die beiden anderen Angestellten einspringen müssen. Außerdem wirst du natürlich fürs Protokoll verantwortlich sein, das heißt, Feste und Konferenzen organisieren, mich darauf hinweisen, wo Gegenbesuche anstehen und wie ich mich dort zu verhalten habe. Ich hoffe, ich habe dich jetzt nicht erschreckt oder eingeschüchtert.«

»Überhaupt nicht«, antwortete Francesca, und der Botschafter lächelte sie zufrieden an.

***

Wenige Wochen später hatte Francesca bereits das Gefühl, schon seit langem mit Mauricio Dubois zusammenzuarbeiten. Zu wissen, dass ihr Chef auch mit ihr zufrieden war, beruhigte sie sehr, denn er war zwar geduldig und höflich, aber auch anspruchsvoll und detailversessen. Er gab minutiöse Anweisungen, erläuterte Begriffe immer wieder und wurde nicht ungehalten, wenn man ihn fünfmal dasselbe fragte. Aber wenn es um Ergebnisse ging, erwartete er Perfektion.

»Ein Treffen mit dem französischen Konsul, ein Essen im Ölministerium, die liegengebliebene Korrespondenz … Mein Gott!«, rief Francesca. »Es ist unmöglich, das alles zu schaffen.« Sie versuchte, den Kalender zu entzerren und die Termine auf die restliche Woche zu verteilen, obwohl sie wusste, dass die kommenden Tage genauso vollgepackt waren wie dieser Montag.

Auch auf sie selbst wartete ein harter Arbeitstag. Sara, Yamile, die Köchin, und Kasem, der Chauffeur des Botschafters, waren ihr dabei eine unschätzbare Hilfe. Sie war von Anfang an gut mit den dreien zurechtgekommen. Die sanfte, ruhige Sara erinnerte sie an ihre Mutter, Yamile, ein etwas zerstreutes, unbesonnenes Mädchen, aber stets hilfsbereit und arbeitswillig, amüsierte sie mit ihren Einfällen, und der gutmütige alte Kasem kam ihr so gar nicht wie ein Araber vor. Malik gegenüber empfand sie anders. Sie mochte seinen verschlagenen Blick und sein übellauniges Gesicht nicht, das aussah, als würde er ihr ständig etwas vorwerfen, und nahm ihn lieber nicht in Anspruch. Seine Worte am Flughafen – »Mein Name ist Malik bin Kalem Mubarak. Ich bin von nun an Ihr Fahrer und stehe zu Ihrer persönlichen Verfügung« – waren offensichtlich nur eine Floskel gewesen. Auf seine Chauffeursdienste verzichtete Francesca. Sie vermied es, das Haus zu verlassen, denn dann war sie gezwungen, die stickige schwarze abaya zu tragen, den schwarzen Umhang, mit dem sich die saudischen Frauen von Kopf bis Fuß verhüllten. Wenn ihr gar nichts anderes übrigblieb, wandte sie sich lieber an Kasem. Mit der Zeit übernahm Malik Fahrten und Aufträge für den Botschafter oder die beiden Attachés, für die er lieber zu arbeiten schien, und verbrachte den Großteil des Tages außerhalb der Botschaft. Francesca hätte ihn gefeuert, hätte sie nicht gewusst, dass er auf Empfehlung des Hauses Saud da war, jener Dynastie, die seit 1932 in Saudi-Arabien herrschte.

»Entschuldigung, Mademoiselle, darf ich reinkommen?«

»Ja, komm nur rein, Sara.«

»Das ist eben für Sie gekommen«, sagte diese und reichte ihr ein Päckchen.

»Bitte, Sara«, verlangte Francesca, während sie das Päckchen nahm, »nenn mich beim Vornamen und sag du zu mir. Wir werden für eine lange Zeit zusammenarbeiten, und es fällt mir leichter, wenn wir auf solche Förmlichkeiten verzichten.«

Sara blickte auf und schenkte ihr ein mädchenhaftes Lächeln, das im Gegensatz zu ihrem runzligen, wettergegerbten Gesicht stand.

»Wie kommt es, dass Kasem, Yamile und du so gut französisch sprecht?«

»Kasem und ich kommen aus Algerien. Unser Land ist seit 1847 französische Kolonie. Nach dem Aufstand gegen die französische Herrschaft spitzte sich die politische Lage zu, und es wurde gefährlich für Kasem. Kasem ist mein Lebensgefährte«, erklärte die Frau. »Wir mussten aus Algerien fliehen. Die französische Polizei suchte nach ihm und … Nun ja, ich hatte Familienangehörige in Saudi-Arabien, und so beschlossen wir, hierherzukommen. Yamile hat lange für die Frau des belgischen Botschafters gearbeitet. Dort hat sie Französisch gelernt, wenn auch nicht sonderlich gut, wie Sie … ich meine, wie du bestimmt gemerkt hast.«

Francesca öffnete den Umschlag und stellte fest, dass es sich um ihren Bildband über klassische Kunst handelte. Vergeblich suchte sie nach einem Kärtchen.

»Seltsam!«, bemerkte sie laut. »Das Buch wurde mir bei der Einreise nach Riad abgenommen, und jetzt bekomme ich es zurück.«

»Vielleicht hat der Herr Botschafter sich beschwert.«

»Unmöglich«, versicherte Francesca. »Ich habe ihm doch gar nichts von dem Vorfall erzählt.«

***

Mit der Zeit hatte Francesca die Zügel in der Botschaft fest im Griff. Ihre Arbeit gab ihr Selbstvertrauen, und sie begann wie damals in Genf von ein bisschen Frieden und Glück zu träumen. Aber es gab auch Momente, in denen es ihr schlechtging und sie wie ein Häufchen Elend in ihrem Zimmer hockte. Doch dann schluckte sie die Tränen herunter und fasste sich wieder. Schließlich meinte es das Leben trotz der erlittenen Enttäuschung nicht allzu schlecht mit ihr. Nie hätte sie sich träumen lassen, aus Córdoba wegzukommen, um in einer Stadt wie Genf zu leben und mit wichtigen Leuten und interessanten Persönlichkeiten an Botschaftsfesten und Konsulatsempfängen teilzunehmen. Und was war so schlimm daran, ein paar Jahre in Saudi-Arabien zu verbringen, einem geheimnisvollen, faszinierenden Land, das fast etwas Magisches hatte?

Francesca arbeitete gerne mit Dubois zusammen, von dem sie jeden Tag etwas Neues lernte. Sie konnte sich nicht beschweren. Ja, sie hatte gelitten, aber wer tat das nicht? Ihre Mutter hatte gelitten, als sie Witwe wurde. Fredo nach dem Selbstmord seines Vaters und dem Tod seines Bruders Pietro. Und Sofía. Wollte sie zulassen, dass ihr Leben in solch eintöniger Schwermut versank wie das ihrer Freundin? Wollte sie ewig der Vergangenheit nachhängen, so wie Sofía? Dann schämte sie sich. Wie konnte sie ihre Traurigkeit mit der Trauer eines Menschen vergleichen, der ein Kind verloren hatte? Sofías Kummer ließ sich wirklich nicht mit der enttäuschten Liebe einiger Sommernächte vergleichen.

Sie stand auf, strich ihren Rock glatt und verließ ihr Zimmer. Der Bericht über Dschidda, die erste Aufgabe dieser Art, die Dubois ihr übertragen hatte, machte ihr großen Spaß. Es erinnerte sie an ihre Zeit bei El Principal, wenn sie sich bei der Recherche für einen Artikel in Bibliotheken vergraben hatte und in staubigen, nur selten benutzten alten Büchern auf unglaubliche Geschichten und Ereignisse gestoßen war. In Saudi-Arabien allerdings gestaltetete sich die Suche nach Informationen schwierig und mühsam. Zu dem Mangel an Bibliotheken und Museen kam die Abneigung der Saudis, gewisse Dinge über ihr Land preiszugeben. Auf Empfehlung des Botschafters wurde sie von einem Beamten im Finanzministerium empfangen, dem es offensichtlich unangenehm war, mit einer Frau zu reden. Er gab ihr nur wenige Informationen, ein paar veraltete Broschüren und den Namen eines Buchs, das sie sich gar nicht erst besorgte, weil es auf Arabisch war. Trotz dieser Schwierigkeiten musste der Bericht über Dschidda am nächsten Morgen fertig sein.

Riad war die Hauptstadt des Landes, doch Dschidda, am Roten Meer gelegen, versuchte sich mit seinem modernen Hafen der westlichen Welt anzunähern. Die Entwicklung der Stadt ging in Riesenschritten voran, je mehr der Reichtum der Familie Saud und damit ihre Freude am Investieren wuchs. Schiffe aus aller Herren Länder liefen Tag für Tag den Hafen an, Dutzende Kräne entluden unaufhörlich Waren, in den Zolllagern wurden millionenschwere Transaktionen abgewickelt. Dubois wusste, dass die Handelsmöglichkeiten für Argentinien in Dschidda lagen.

Francesca ging mit raschen Schritten den Flur entlang, der den Wohntrakt mit den Geschäftsräumen verband, und betrat das Büro ihres Chefs, ohne zu bemerken, dass sich dort jemand befand. Ein Araber saß bequem zurückgelehnt auf dem Sofa und folgte ihr mit seinen Blicken, angezogen von ihrem langen, dichten, rabenschwarzen Haar, das wie Kohle in der Sonne glänzte und ihr über die Schultern bis fast zur Taille reichte. Das marineblaue Kostüm umschmeichelte die sinnlichen Kurven ihres jugendlichen Körpers.

Der Mann räusperte sich und stand auf, als Francescas Rock hochrutschte, während sie versuchte, einen Atlas vom obersten Bord des Bücherregals zu fischen. Sie presste sich ängstlich an das Bücherregal, als der Araber mit stolzer Haltung auf sie zukam.

»Ich hätte nie gedacht«, sagte der Mann in tadellosem Französisch, »dass eine Argentinierin schöner sein könnte als die Frauen meines Volkes.«

Sie war verzaubert von seiner tiefen, wohltönenden Stimme und sah ihn einfach nur an, ohne ein Wort zu sagen, obwohl er sie unverhohlen von oben bis unten musterte. Als sich schließlich ihre Blicke begegneten, war sie überrascht, denn die Augen des Arabers, tiefgrün und mit langen, dichten Wimpern, schienen eine eigene Sprache zu sprechen. Sein Gesichtsausdruck war ernst, doch seine Augen lächelten.

»Inschallah!«, sagte er und grüßte auf orientalische Art, indem er die Hand auf Herz, Mund und Stirn legte.

Francesca erwachte erst aus ihrer Erstarrung, als sie hörte, wie sich die Tür öffnete.

»Mein Freund!«, hörte sie ihren Chef sagen.

Der Araber drehte sich um, lächelte sichtlich erfreut und ging dem Botschafter entgegen. Sie umarmten sich herzlich, während sie hitzige Worte auf Arabisch wechselten. Francesca verließ leise den Raum. Auf dem Gang blieb sie stehen und drückte den Atlas gegen die Brust, in der ihr Herz rasend schnell pochte. Wer war dieser Mann? Mein Freund, hatte der Botschafter ihn genannt, und dabei ungewöhnlich viel Regung gezeigt. Seine stolze Erscheinung und seine ernste Art hatten sie eingeschüchtert, aber sie musste zugeben, dass sein Blick sie fasziniert hatte.

»Was ist denn los, meine Liebe?«, fragte Sara, als sie Francesca mit abwesendem Blick mitten im Flur stehen sah. »Du machst ein Gesicht …«

»Ich bin ein bisschen müde, das ist alles.«

Was sollte sie ihr auch sagen? Dass ein attraktiver, unverschämter Araber ihr im Büro des Botschafters einen Riesenschrecken eingejagt hatte?

***

»Endlich, mein Freund! Jetzt bist du hier bei uns, und zwar als Botschafter«, stellte der Araber erfreut fest und klopfte Dubois auf die Schulter. »Die Behörden deines Landes haben uns wirklich einen Vollblutdiplomaten geschickt.«

»Zugegebenermaßen war der Einsatz deines Onkels Fahd in dieser Sache mehr als förderlich«, räumte Dubois ein, und ein verschwörerisches Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Dessen hartnäckige Weigerung, seine Zustimmung zu irgendeinem anderen Diplomaten zu geben, war überzeugend genug, um dem argentinischen Außenminister klarzumachen, dass ihr einen ganz bestimmten Mann wollt. Ohne seine Beharrlichkeit weiß ich nicht, ob ich heute hier wäre.«

»Und nicht irgendein Dummkopf, der sich nicht mit den Gepflogenheiten meines Volkes auskennt«, beteuerte der Araber.

Dubois war der Stolz anzumerken. Er wusste um seine eigenen Talente und Fähigkeiten und seine umfassende Kenntnis des Mittleren Orients, aber zu hören, dass auch Prinz Kamal bin Abdul Aziz al-Saud, Sohn des Staatsgründers Saudi-Arabiens, das anerkannte, bedeutete ihm viel.

»Setz dich doch, bitte. Willst du etwas trinken?« Er läutete nach Sara, die mit einem Tablett erschien und Kaffee servierte. »Deine Unhöflichkeit kennt keine Grenzen«, beschwerte sich der Botschafter, nachdem die Frau das Büro verlassen hatte. »Ich bin jetzt schon eine ganze Weile in Riad, und erst heute lässt du dich dazu herab, mich zu besuchen. Du warst nicht einmal bei meiner Antrittsfeier.«

»Keine Sorge, ich bin bestens im Bilde über deine Ankunft, deine Antrittsfeier und jede deiner Bewegungen«, versicherte ihm Kamal. »Mein Bruder Faisal und mein Onkel haben mir alles erzählt, auch meine Mutter. Ich weiß, dass du ihr einen Besuch abgestattet hast.«

»Sie sah blendend aus. Sie hat mir erzählt, dass du geschäftlich in Frankreich seist.«

Kamal stellte die Tasse ab und zündete sich eine Zigarette an. Der würzige Geruch orientalischen Tabaks erfüllte den Raum. Er schwieg, ganz so, als ob er alleine wäre und nachdenken müsse. Mauricio zeigte keine Ungeduld; nach so vielen Jahren hatte er gelernt, das Schweigen zu respektieren, diese Ruhe und Zurückhaltung, die die Orientalen ausstrahlten.

»Um die Wahrheit zu sagen«, erklärte Kamal schließlich, »bleibe ich Riad lieber fern.«

»Ich verstehe«, murmelte Mauricio und lehnte sich zurück. »Faisal gab mir so etwas zu verstehen. Das Verhältnis zwischen dir und Saud ist weiterhin schlecht, stimmt’s?«

Als Kamal aufblickte, wusste Dubois, dass er nicht darüber sprechen würde. Es fiel ihm schwer, das tiefe Zerwürfnis mit seinem Halbbruder Saud einzugestehen, der Saudi-Arabien seit dem Tod seines Vaters regierte, vor allem, weil der Islam Auseinandersetzungen zwischen Familienmitgliedern untersagte. Aber die Gräben existierten und wurden immer tiefer, je weiter sich der Lebensstil des Königs von den Geboten des Koran entfernte. Im Hause Saud wurden Stimmen laut, die Kamal dazu drängten, die Regierungsgeschäfte zu übernehmen.

Bereits im Jahr 1958 war Saud infolge einer durch seinen verschwenderischen Lebensstil verursachten schweren Wirtschaftskrise gezwungen gewesen, Kamal in die Regierung zu berufen. Nach seiner Ernennung zum Premierminister hatte dieser die Geschicke Saudi-Arabiens mit dem vorrangigen Ziel gelenkt, das Land aus der Krise zu führen, in der es sich befand. Der Einfluss des Königs bestand nur noch auf dem Papier, und Sauds Hass auf seinen Bruder wurde immer größer.

Der Grund für diesen Hass lag viele Jahre zurück. Damals musste Saud, der zu jener Zeit noch ein Kind war, plötzlich die Liebe seines Vaters, König Abdul Aziz, mit seinem neuen Bruder Kamal teilen. Als er älter wurde, erwarb sich der junge Kamal die Bewunderung und Wertschätzung seiner Onkel, Schwestern und der übrigen Verwandtschaft, die ihn um Rat zu fragen begannen und immer häufiger in Staatsangelegenheiten einbanden.

Zwei Jahre nach seiner Ernennung zum Premierminister legte Kamal sein Amt nieder, um schwerere Auseinandersetzungen mit seinem Bruder zu vermeiden. Das Verhältnis war untragbar geworden, sie waren nur selten einer Ansicht, und jede Meinungsverschiedenheit entfachte neue Unruhe. Kamal spürte, dass Sauds Wut tieferliegende Gründe hatte und sich nicht auf Regierungsfragen beschränkte. Überzeugt, dass er nichts gegen diesen Hass ausrichten konnte, zog er sich mehr und mehr zurück, trotz der Beschwerden und Vorhaltungen der Familie, insbesondere seiner Mutter Fadila.

Dubois räusperte sich und bot Kamal noch einen Kaffee an. Dieser willigte ein und reichte ihm seine Tasse.

»Sag mal«, wechselte der Botschafter das Thema, »wie geht es Ahmed?«

»Gut. Er war mit mir in Genf, du weißt schon, wegen der OPEC-Geschichte. Danach ist er zurück nach Boston geflogen. Er hat noch einige Examen vor sich.«

Dubois sah davon ab, auf die OPEC und ihre Folgen für die arabische Welt zu sprechen zu kommen. Da es sich um eine Initiative von Saud und seinem Minister Tariki handelte, war er sicher, dass Kamal auch über dieses Thema nicht reden würde.

»Wer war die Schönheit, der ich gerade begegnet bin?«, erkundigte sich Kamal und wies zur Tür.

»Meine Sekretärin«, antwortete Dubois und sah ihn ernst an. »Komm bloß nicht auf Gedanken.«

»Bist du etwa schon ihren dunklen Augen verfallen und willst sie für dich haben?«

»Du weißt doch, dass ich Arbeit und Vergnügen strikt trenne.«

»Natürlich!«, entgegnete Kamal und lächelte spöttisch.