6. Kapitel

Francesca landete Mitte April in Paris und reiste von dort mit dem Zug weiter nach Genf. Die wunderbare, von den Alpen umrahmte Landschaft, die sattgrünen Weiden und die Blumenwiesen am Fuß der Berge brachten für Momente ihr auf Hochtouren arbeitendes Gehirn zum Schweigen. Kurz lenkte sie die Schönheit der Natur von ihren Erinnerungen ab, die jedoch gleich darauf wieder zurückkamen. Ihre Mutter, Sofía und Fredo am Bahnhof von Córdoba – das war das letzte einer ganzen Sequenz von Bildern. Antonina hatte geweint und ihren Tränen freien Lauf gelassen, die sie in den letzten Tagen zurückgehalten hatte. Trotz ihres Kummers hatte sie ihrer Tochter ans Herz legen wollen, sich nicht zu erkälten, sich vernünftig zu ernähren und gut auf sich aufzupassen. Aber ihre Stimme hatte versagt. Fredo hatte den Arm um sie gelegt, und Antonina hatte sich an seine Brust gelehnt. Sofía dagegen war ganz ruhig geblieben, bis der Pfiff des Stationsvorstehers die Abfahrt des Zugs nach Buenos Aires ankündigte.

Sie musste vergessen, sagte Francesca zu sich selbst und wandte sich wieder der Schweizer Landschaft zu. In Genf irrte sie durch den Bahnhof, bis sie in all dem Lärm ihren Namen hörte. Sie entdeckte in der Menge eine kleine, rundliche, etwa fünfunddreißigjährige Frau, die ein Schild über ihrem Kopf schwenkte und immer wieder rief: »Francesca de Gecco! Francesca de Gecco!«, während ihre Augen hin und her tanzten. Behindert von ihrem vielen Gepäck, ging Francesca auf sie zu.

»Francesca de Gecco?«, fragte die Frau ein bisschen kurzatmig.

»Ja, die bin ich. Sehr erfreut.«

»Ach, Schätzchen, kann man das glauben, dass der Konsul ausgerechnet mich mit meinen knapp ein Meter sechzig schickt, um dich abzuholen! Diese verrückte Menge hätte mich beinahe erdrückt, und du hättest mich nie gefunden. … Kann ich französisch mit dir sprechen? Ich lebe schon so lange hier, dass es mir leichter fällt. Ja? Das ist wunderbar. Ach, ja …« Sie legte die Hand ans Kinn und musterte Francesca von Kopf bis Fuß, nicht unverschämt, aber ausführlich. »Mein Name ist Marina Sanguinetti«, sagte sie dann und reichte ihr die Hand.

Das Gespräch auf dem Bahnsteig endete abrupt, als ein Mann die kleine Marina beinahe mit seiner Tasche umrannte. Nach einigen Flüchen auf Französisch schlug Marina vor zu gehen. Vor dem Ausgang des Bahnhofs nahmen sie ein Taxi. Francesca, die sich ziemlich verloren vorkam, beneidete die Selbstverständlichkeit, mit der Marina den Taxifahrer anwies, wohin er fahren sollte. Nicht mal in hundert Jahren würde sie sich in diesem Labyrinth zurechtfinden, dachte sie, als sie durch die Altstadt mit ihren engen Gässchen und alten Gebäuden fuhren.

»Du wirst erst mal bei mir wohnen«, erklärte Marina, »bis du eine Wohnung findest, die dir zusagt und die sich mit dem Budget vom Konsulat bezahlen lässt. Glaub mir, das ist nicht so einfach.«

Marina war für Personalfragen zuständig. Sie kannte den Lebenslauf, das Gehalt und die Tätigkeit jedes einzelnen Botschaftsangestellten. Sie hatte auch Zugang zu vertraulichen Informationen, die sie Francesca mit der Zeit und zunehmendem Vertrauen mitteilte.

Marinas Wohnung war groß und mit Antiquitäten eingerichtet, verriet aber auch eine Menge über die lebensfrohe Art ihrer Besitzerin: viele Pflanzen, moderne Bilder, Fotografien und das eine oder andere farbige Tuch über den Lampen schufen eine gemütliche Atmosphäre ohne Protz und Luxus.

»Ich bin froh, dass du im Konsulat anfängst«, eröffnete ihr Marina, bevor sie die Tür zum Schlafzimmer schloss. »Wir sind nur wenige Frauen, und wenn ich ehrlich sein soll, verstehe ich mich mit keiner von ihnen besonders gut. Aber ich weiß, dass du und ich gute Freundinnen werden können. Jetzt ruh dich erst einmal aus. Morgen stelle ich dich deinem Chef vor.«

***

Francesca lebte sich schnell in Genf ein und kam gut mit ihrer neuen Arbeit zurecht. Ihr Chef, ein Mittfünfziger mit traurigem Blick, der den gebrochenen Arm in einer Schlinge trug, trauerte noch seiner Sekretärin Anita hinterher. Er war ein freundlicher Mann mit besten Umgangsformen, aber schrecklich zerstreut. Er vergaß, wo er seine Brille hingelegt hatte, dabei trug er sie in der Regel an einem Band um den Hals. Er regte sich auf, man habe ihm seinen kostbaren Mont-Blanc-Füller gestohlen, bis Francesca ihn in irgendeiner Schublade fand. Sein Terminkalender war ein Mysterium, denn obwohl er ihn sorgfältig führte, verpasste er ständig Verabredungen oder kam zu spät zu den Sitzungen. Er hasste Buchhaltung, der Kassenabschluss stimmte nie, und normalerweise fand er weder Quittungen noch Belege. Immer wieder handelte er seinen eigenen Anweisungen zuwider, und wenn man ihn darauf hinwies, fragte er, welcher Idiot sich diese ausgedacht habe.

Francesca, die nach wenigen Wochen begriffen hatte, wie die Abläufe im Konsulat funktionierten, übernahm die Zügel in dem chaotischen Büro ihres Chefs und hatte sich bald unentbehrlich gemacht. Die Abteilungsleiter und die übrigen Angestellten sprachen lieber zuerst mit ihr als mit dem Konsul, der bei Unklarheiten und Problemen keine Lösung anzubieten hatte. Francesca wusste genau über aktuelle Vorgänge Bescheid, und bei solchen, die einige Zeit zurücklagen, recherchierte sie so lange, bis sie auf dem Laufenden war. Die Abläufe beschleunigten sich, und am Ende eines Arbeitstages blieb kaum etwas unerledigt in der Ablage zurück. Der Konsul begann, ein organisierteres Leben zu führen, verpasste keine Termine mehr, bereitete sich auf Sitzungen vor und unterzeichnete Dokumente, sobald man sie ihm vorlegte. Nach zwei Monaten nannte er Francesca lächelnd »Das Wunder von Córdoba«.

Marina schob die Wohnungssuche auf die lange Bank und schlug Francesca schließlich nach zwei Wochen vor, endgültig bei ihr einzuziehen.

»Im Ernst? Danke, vielen Dank«, akzeptierte Francesca ohne zu zögern, denn sie fühlte sich in der geräumigen, gemütlichen Wohnung sehr wohl und hing sehr an ihrer neuen Freundin.

Während der anstrengenden Arbeitstage im Konsulat sahen sie sich nur selten, von der halben Stunde Mittagspause einmal abgesehen. Nach dem Abendessen machten sie sich dann gegenseitig die Haare, lackierten sich die Fingernägel oder lümmelten sich einfach gemütlich auf das Sofa im Wohnzimmer, sprachen über die Ereignisse des Tages oder klatschten über diesen oder jenen Angestellten. An den Wochenenden unternahmen sie Ausflüge in die Stadt, die Francesca mit ihren Denkmälern, ihren Prachtbauten und der stillen Alpenkulisse faszinierte. Der Genfer See mit seiner Fontäne, die das Wasser fünfzig Meter hoch in die Luft katapultierte, war ihr bald ebenso vertraut wie die Plaza España in Córdoba. Mit Hilfe der kleinen Dampfer, die auf dem ganzen See verkehrten, besichtigten sie und Marina einige hübsche Städte und Dörfer, die an seinem Ufer lagen.

Obwohl ihr die Arbeit Spaß machte, ihr die Stadt gefiel und sie sich bei Marina wohl fühlte, musste Francesca ununterbrochen an Aldo denken. Ohne Bitterkeit sagte sie sich, dass sie durch die Abreise aus Córdoba zwar der Schande entgangen war, nicht aber dem Schmerz. Der Schmerz war allgegenwärtig, sie trug ihn mit sich herum wie eine Last, die sie nicht abwerfen konnte. Marina führte es auf das Heimweh zurück, wenn Francesca wieder einmal blass und in sich gekehrt war. Dann ging sie mit ihr aus oder organisierte Ausflüge an neue Orte und schaffte es so, sie aus ihrer Lethargie zu reißen.

***

Die Gattin des Botschafters, die soeben aus Buenos Aires zurückgekehrt war, wo sie sich aus familiären Gründen aufgehalten hatte, kam ins Büro, um die neue Sekretärin kennenzulernen. Ihr Mann hatte sie als nettes Mädchen von nebenan beschrieben. Sie betrat das Vorzimmer, ohne anzuklopfen.

»Guten Tag«, grüßte Francesca und stand auf.

»Guten Tag«, antwortete die Botschaftergattin und musterte sie von oben bis unten, während sie die Handschuhe abstreifte und auf den Schreibtisch warf. »Du bist also die neue Sekretärin?«, fragte sie.

»Ja, Francesca de Gecco, sehr erfreut.«

»Ich bin die Frau des Herrn Botschafters.«

Francesca widmete sich wieder ihrer Arbeit, während die Dame ins Büro ihres Gatten rauschte.

»Als ich dich das erste Mal sah, wusste ich gleich, dass es Probleme mit der Gräfin geben würde«, sagte Marina beim Mittagessen.

»Mit welcher Gräfin?«, fragte Francesca verwundert.

»So nennen wir die Frau des Botschafters. Siehst du nicht, dass sie sich für die Herrscherin der Welt hält? Anita, die vorherige Sekretärin, die bei dem Autounfall starb, von dem ich dir erzählte, war die Geliebte deines Chefs. Wir alle wussten es, aber die Gräfin hat es erst durch den Unfall herausgefunden. Der Botschafter und Anita waren auf der Rückfahrt von einem Wochenende in Monaco. Du als neue Sekretärin ihres Mannes musst die gute Frau um den Verstand bringen. Anita war zwar hübsch, aber du bist noch tausendmal hübscher.«

Francesca ging nicht auf das Kompliment ein. Sie war sicher, dass die eifersüchtige Frau eines untreuen Mannes nicht tatenlos zusehen würde, wenn sie die Standhaftigkeit ihres willensschwachen Mannes in Gefahr sah, und versuchte zu ermessen, welche Folgen das für sie haben könnte.

»Habe ich dir eigentlich erzählt«, plauderte Marina weiter, »dass ich eine Einladung für das Fest zum venezolanischen Unabhängigkeitstag habe?«

»Ach ja?«

»Wir werden einen Riesenspaß haben.«

»Da der Botschafter mich an dem Abend nicht braucht, hatte ich überlegt, gar nicht hinzugehen.«

»Du bist verrückt. Wir werden es uns gutgehen lassen. Die Venezolaner lassen es am 5. Juli richtig krachen.«

Als sie sich abends für das Fest fertigmachten, bemerkte Marina, dass Francesca mit ihren Gedanken woanders war. Während sie sich mechanisch schminkte, sagte sie kein Wort.

»Neben dir sehe ich aus wie eine Heuschrecke«, stellte Marina fest. Francesca lachte. »Na, immerhin ist es mir gelungen, dich für einen Moment vergessen zu lassen, was dich so traurig macht.«

Die venezolanische Botschaft, ein Gebäude aus dem 18. Jahrhundert, war mit Fahnen und Girlanden geschmückt und erstrahlte im Glanz der Nationalfarben. Die Folkloremusik und der Partylärm waren bis auf die Straße zu hören. Als Francesca und Marina den Salon betraten, richtete der venezolanische Botschafter gerade einige Worte auf Englisch an die Gäste, unter denen in der ersten Reihe eine Gruppe von Arabern in weiten, weißen Gewändern und Turbanen auffiel.

»Araber?«, fragte Francesca leise.

»Die sind hier wegen der OPEC.«

»Der was?«

»Erklär ich dir später.«

Die kurze Ansprache des Botschafters wurde mit herzlichem Applaus bedacht. Jemand rief: »Hoch lebe die Heimat! Hoch lebe Venezuela!«, die Übrigen riefen »Hurra!« und »Bravo!«, und dann folgten Musik und Tanz. Die Kellner gingen mit Tabletts voller Häppchen oder Gläsern durch den Raum. Die Gäste aßen und tranken und unterhielten sich, in Grüppchen über den Saal verteilt. Andere tanzten lieber.

Marina genoss den Abend, aber ihre gute Laune schaffte es nicht, Francesca anzustecken. Sie bewunderte ihre Freundin. Nur zu gerne wäre sie so gewesen wie sie, immer fröhlich und optimistisch, immer ein Lächeln auf den Lippen, zufrieden mit ihrem Dasein als Alleinstehende und trotzdem voller Lebensfreude, ganz so, als ob ihr nichts fehlte. Irgendwann, sagte sich Francesca, war auch sie einmal so gewesen, hatte auch sie sich einmal so gefühlt.

Der argentinische Konsul begrüßte sie kurz, hielt dann aber Abstand. Seine Frau ließ ihn nicht aus den Augen und belauerte aufmerksam jede Geste und jedes Wort. Francesca und Marina unterhielten sich eine Zeitlang damit, das seltsame Paar zu beobachten.

»Warum hat man die Araber eingeladen?«, fragte Francesca schließlich noch einmal, während sie beobachtete, wie sie sich in ihren weißen Gewändern und den Kopfbedeckungen bewegten, unter denen ihre Gesichter kaum zu erkennen waren.

»Letztes Jahr«, erklärte Marina, »haben sich in Bagdad die wichtigsten erdölfördernden Länder getroffen, darunter Saudi-Arabien und Venezuela. Sie haben die Organisation erdölexportierender Länder, kurz OPEC, gegründet, deren Sitz hier in Genf ist.«

Gonzalo, ein Kollege aus dem Konsulat, der sie schon ein paar Mal zum Abendessen eingeladen hatte, bat Francesca um den nächsten Tanz. Ermuntert von Marina und den erwartungsvollen Augen des jungen Mannes, willigte sie ein.

***

Francesca begleitete den Konsul und seine Frau zu einem von der Genfer Kantonsregierung organisierten Mittagessen, weil sie bei Tisch, an dem hauptsächlich eine Delegation von Italienern saß, übersetzen sollte. Schon am Morgen hatte sich ihr Chef merkwürdig verhalten, ganz anders als sonst. Er bedankte sich nicht für den Kaffee und machte keine Bemerkungen über die Schlagzeilen von La Nación, die er täglich bekam, er beschwerte sich nicht über die vielen Akten, die sie ihm zur Unterschrift vorlegte, und scherzte nicht über dies und jenes, wie er es sonst immer tat. Zuerst wollte sie ihn fragen, ob es ihm nicht gutgehe, doch sie beschloss, nichts zu sagen.

Während des Essens brauchte Francesca nicht viel zu übersetzen: Einige der Italiener sprachen ganz ordentlich Spanisch, und der Konsul sagte ohnehin fast kein Wort. Auch seine Frau war schweigsam. Sie war verstimmt über die Anwesenheit der Sekretärin, die die Aufmerksamkeit eines eleganten Mailänders auf sich gezogen hatte. Nach dem Dessert, als der Kaffee serviert wurde, betraten mehrere Mitglieder der Genfer Regierung das Podium. Alle Gesichter wandten sich ihnen zu. Überzeugt, dass niemand auf ihn achtete, lehnte sich der Konsul auf seinem Stuhl zurück und wandte sich leise an seine Sekretärin.

»Ich habe Ihnen etwas mitzuteilen, Francesca.«

»Ja, bitte?«

»Heute Morgen kam ein Versetzungsschreiben.« Er blickte auf. Seine Sekretärin sah ihn mit großen Augen an. »Die Versetzung betrifft Sie, Francesca.« Angesichts des verwirrten Gesichts des Mädchens setzte er rasch hinzu: »Gleich nachdem die Weisung kam, habe ich einige Anrufe getätigt, um es zu verhindern, allerdings erfolglos. Der Befehl kommt von ganz oben und ist nicht rückgängig zu machen. Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«

»Warum ich?«, wollte sie wissen. »Ich arbeite erst seit vier Monaten in Genf. Weshalb werde gerade ich versetzt? Die Weisung kommt von ganz oben, sagen Sie? Falls ich … Ich verstehe das nicht.« Nach kurzem Schweigen fragte sie: »Wohin werde ich versetzt?«

»An die Botschaft in Saudi-Arabien.«

»Saudi-Arabien!«, wiederholte sie. Die Tischnachbarn drehten sich zu ihr um und sahen sie an. Sie murmelte eine Entschuldigung, nahm ihre Tasche und verließ den Tisch.

Sie rannte zur Toilette und schloss die Tür hinter sich. Um sie herum herrschte eine Leere, die alle Geräusche von außen erstickte. Gegen die Tür gelehnt, betrachtete sie sich im Spiegel: Ihr Kinn bebte, und in ihren Augen glitzerte es. Dann begann sie bitterlich zu weinen. Sie weinte aus Wut, aus Ohnmacht, aus Traurigkeit, aus Angst. Noch offene Wunden rissen wieder auf, mischten sich mit der neuen Demütigung und machten ihr das Herz schwer. Irgendwann wusste sie gar nicht mehr, warum sie weinte. Aldo, ihre Mutter, Córdoba, Fredo, Genf. Ungeordnete Erinnerungen kamen ihr in den Sinn und erfüllten sie mit Schmerz und Verwirrung.

Die drückende Mittagshitze machte ihr zu schaffen. Sie verriegelte die Tür und legte das Jackett ab, dann wusch sie ihr Gesicht mit kaltem Wasser und entfernte die Wimperntusche unter den Augen. Danach fühlte sie sich wieder besser. Während sie ihre Frisur richtete, dachte sie noch einmal über die unglückselige Versetzung nach.

»Natürlich!« Auf einmal war ihr alles klar. »Wieso habe ich nicht früher daran gedacht? Die Frau des Konsuls! Sie hat meine Versetzung verlangt.«

Das betretene Verhalten des Konsuls und die empörten Blicke seiner Frau während des Essens bestätigten ihre Vermutung. Die Reise neulich nach Buenos Aires, dachte sie. Da musste sie das alles durch irgendwelche Verbindungen zum Außenministerium ausgeheckt haben. Es gab keinen Zweifel mehr für Francesca. Sie war erleichtert, der Sache auf den Grund gekommen zu sein, doch gleich darauf stieg ihr die Zornesröte ins Gesicht. Sie biss die Zähne zusammen und ballte die Fäuste. Hätte sie vor ihr gestanden, sie hätte die Frau ihres Chefs geohrfeigt. »Dieses verdammte Miststück! Die hätte mich zur Botschaft auf den Galapagos-Inseln geschickt, wenn es da eine gäbe.« Wie eine Furie stürzte sie aus dem Toilettenraum und stieß, blind vor Wut, mit einem Mann zusammen, der sie auffing, bevor sie der Länge nach hinfallen konnte. Sie murmelte ein Danke, als er ihr die Tasche reichte, und rauschte davon.


Als sie ins Büro kam und Marinas ernste Miene sah, war Francesca klar, dass ihre Freundin schon von der Versetzung wusste. Mit einem Seufzer ließ sie sich auf den Stuhl fallen.

»Das habe ich bekommen, als du bei dem Essen warst«, sagte Marina und hob eine Akte mit der Aufschrift »Eilig« hoch. »Dein Chef hat sie mir geschickt.«

»Ich hab’s gerade erfahren. Der Konsul hat es mir beim Essen erzählt.«

»Er muss am Boden zerstört sein. Es wird ihm nicht gefallen, sein ›Wunder von Córdoba‹ zu verlieren.«

»Da kann er sich bei seiner Frau bedanken«, bemerkte Francesca ironisch. Dann ließ sie den Kopf hängen. »Ach, Marina, warum passiert mir das alles? Ich bin es leid.«

»Du denkst, seine Frau habe von ihm verlangt, dich aus dem Konsulat zu entfernen?«

»Ich glaube nicht, dass sie es von ihm verlangt hat, sondern dass sie irgendwas im Außenministerium gedreht hat. Vergiss nicht, sie ist gerade aus Buenos Aires zurückgekehrt.«

»Sie hat dich erst nach dieser Reise kennengelernt. Sie konnte nicht wissen, dass du jung und hübsch bist. Du hättest genauso gut alt und hässlich sein können.«

»Vielleicht hat ihr jemand vom Ministerium die Akte gezeigt, in der mein Alter steht. Ich weiß, es sind nur Vermutungen. Aber du wirst mir doch recht geben, dass das zu viel des Zufalls wäre: Erst ihre Abneigung gegen mich und dann diese plötzliche Versetzung.«

»Ja, das stimmt«, räumte Marina nicht sehr überzeugt ein.

»Und das Schlimmste ist das Land!«, setzte Francesca hinzu.

»Ja, Saudi-Arabien.«

»Kannst du mir etwas über die Botschaft dort erzählen?«

»Im Moment nicht, aber ich kann mich erkundigen.«

***

1919, nach dem Ende des Ersten Weltkriegs, sagte Churchill im Unterhaus: »Es lässt sich nicht bestreiten, dass die Alliierten nur durch den ununterbrochenen Strom von Erdöl aus dem Nahen Osten zum Sieg gelangen konnten.« Seine Ansicht wurde auch von Lord Curzon geteilt, einem bedeutenden Mitglied der britischen Regierung, der versicherte: »Die Wahrheit ist, dass die Alliierten ihren Sieg dem Erdöl verdanken.« Georges Clemenceau wiederum, französischer Ministerpräsident und eine Schlüsselfigur bei der Niederlage der deutschen Armee, stellte unumwunden fest, »dass von nun an jeder Tropfen Erdöl für die Völker und Nationen ebenso viel wert sein wird wie ein Tropfen Blut«.

Durch das »Schwarze Gold«, wie das Erdöl nun genannt wurde, rückte die Arabische Halbinsel ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Die Allianz des Westens mit den Herren über jenen Rohstoff, der die moderne Wirtschaft antrieb, führte zur raschen Gründung diplomatischer Niederlassungen im jungen Königreich Saudi-Arabien, dem Emirat Kuwait, Katar, dem Emirat Abu Dhabi (die späteren Vereinigten Arabischen Emirate) und dem Sultanat Oman. Doch Saudi-Arabien besaß wegen seiner Bedeutung auf der Arabischen Halbinsel und seiner schier unerschöpflichen Ölquellen eine Vormachtstellung.

Argentinien, das damals mit innenpolitischen Querelen zu kämpfen hatte, setzte zunächst auf seine eigenen Rohstoffvorkommen und bemerkte erst spät, dass es ein Fehler war, sich einer Realität zu verschließen, die die politische Landkarte verändert hatte. 1960 begann das Außenministerium die Fühler auszustrecken, um eine Vertretung in der saudischen Hauptstadt Riad zu etablieren. Nach harten Verhandlungen – die Saudis standen jeder Öffnung vorsichtig gegenüber – wurde schließlich im Juni 1961 offiziell die Botschaft im Diplomatenviertel der saudischen Hauptstadt eröffnet.

»Der Botschafter soll ein junger Mann sein«, teilte Marina Francesca am Abend beim Essen mit, »und ein guter Kenner des Mittleren Ostens«, setzte sie hinzu und warf ihr einen vielsagenden Blick zu. »Er ist sehr kultiviert und spricht perfekt Arabisch. Viel mehr konnte ich nicht herausfinden, nur, dass es eine kleine Botschaft mit wenig Personal ist.«

Francesca stocherte lustlos in ihrem Essen herum. Marinas Worte hallten wie ein fernes Echo in ihren Ohren wider. In Genf hatte sie einen gewissen Frieden gefunden, der ihr in letzter Zeit Hoffnung gemacht hatte. Ihre unerwartete Reise nach Arabien brachte den schwachen Schutzwall, den sie um sich herum gezogen hatte, ins Wanken.

»Nicht verzweifeln, Francesca«, munterte Marina sie auf. »Wenn du mit der Versetzung in die saudische Botschaft nicht einverstanden bist, lehnst du eben ab und gehst zurück nach Córdoba. Sagtest du nicht, dass du bei der Zeitung deines Onkels gearbeitet hast? Ich bin sicher, dass er dich wieder anstellt, wenn du ihn darum bittest.«

»Ich kann nicht zurück«, antwortete Francesca mit schwacher Stimme. Sie empfand es als Erleichterung, Marina von ihrem Kummer erzählen zu können. Es war, als würde nur noch die halbe Last auf ihr ruhen. Trotzdem schlief sie in dieser Nacht schlecht. Für kurze Momente überkam sie eine wohlige Müdigkeit, die plötzlich wieder verschwand. Erhitzt und genervt wälzte sie sich in den Laken. Noch vor sechs Uhr stand sie auf und ging ins Bad. Als sie aus der Dusche kam, war die Mutlosigkeit der vergangenen Nacht neuer Energie gewichen. Plötzlich erschien es ihr fast verlockend, in eine Zukunft zu sehen, die ihr die Möglichkeit bot, eine andere Kultur und ein anderes Land kennenzulernen.

Bevor sie ins Büro ging, gab sie auf der Post ein Telegramm an Fredo auf, in dem sie ihn in knappen Worten über ihre Versetzung informierte. Ihr Onkel würde ihr raten, was sie tun sollte. Außerdem würde er herausfinden, woher diese plötzliche Anweisung kam.

Der herrliche Sommermorgen, die kühle Brise vom See und die farbenprächtigen Blumenbeete auf den Plätzen heiterten sie auf. Mit raschen Schritten ging sie die Uferpromenade entlang zur Botschaft. Sie fragte sich, wie es in Saudi-Arabien sein mochte. Sie wusste nichts über dieses Land, außer dass es in weiten Teilen von einer endlosen, glühenden Fläche aus Sand bedeckt war. ›Die Wüste‹, dachte sie. Schon das Wort machte ihr Angst.

In den nächsten Tagen stapelten sich immer mehr Akten, Berichte und Dokumente auf ihrem Schreibtisch. Der Konsul war schweigsam und wich ihrem Blick aus. Er erhöhte lediglich den Papierstoß immer weiter mit den Worten: »Machen Sie das noch fertig, bevor Sie gehen.« Manchmal hätte Francesca ihn am liebsten bei den Schultern gepackt, geschüttelt und ihm ins Gesicht geschrien: »Hören Sie, guter Mann, Ihre Frau war es, die mich hier rausgeworfen hat!« Am Ende tat er ihr leid.

Sie bekam mehrere Anrufe vom Auswärtigen Amt in Buenos Aires, die sie mit Hinweisen und Ratschlägen überhäuften. Es sei ganz wichtig, dass sie aufmerksam das Material über Sitten und Gebräuche in muslimischen Ländern studiere, das man ihr geschickt habe. Man erklärte ihr, dass ihre Aufgaben als persönliche Assistentin des Botschafters über die einer einfachen Sekretärin hinausgingen. Das Kaffeekochen gehöre ebenso zu ihren vielfältigen Pflichten wie der förmliche Empfang eines Mitglieds des saudischen Königshauses. »Es ist eine sehr kleine Botschaft mit wenig Personal«, hieß es. »Sie sind für alle möglichen Dinge zuständig.« Sie hatte keine Angst vor der Arbeit und den vielfältigen Aufgabenbereichen, auf die das Auswärtige Amt so ausdrücklich hinwies. Im Gegenteil, es gab ihr das Gefühl, wichtig zu sein.

Drei Tage später traf ein Telegramm mit Alfredos Antwort ein: »Nimm an. Das ist eine großartige Chance.« Zwei Wochen darauf folgte ein ausführlicher Brief, den Francesca so oft las, bis sie ihn auswendig konnte. Sie war überrascht, denn sie hatte nicht gewusst, dass sich ihr Onkel so gut auskannte. Er sprach von der geopolitischen Bedeutung der Länder der Arabischen Halbinsel, insbesondere Saudi-Arabiens; davon, wie die Moderne die westliche Welt in immer größere Abhängigkeit vom arabischen Öl brachte, das qualitativ hochwertig und leicht zu fördern sei. »Du wirst eine Region der Welt kennenlernen«, schloss er, »um die sich die großen Erdölgesellschaften und die Mächtigen rund um den Globus streiten.« Er fügte eine kurze Liste von Buchtiteln an, die Francesca problemlos in der Bibliothek unweit des Konsulats fand, weil sie von europäischen Autoren stammten. Zum Schluss bat Fredo sie, sich keine Sorgen wegen ihrer Mutter zu machen. Er werde mit ihr reden und sie überzeugen.

Tatsächlich hielt Antonina nichts von einem Umzug in ein Land, über das sie kaum etwas wusste.

»Saudi-Arabien!«, rief sie. »Ein Land voller Ungläubiger und Wilder!«

»Bitte, Antonina, übertreib nicht«, wandte Fredo ein.

»Was willst du?«, hielt Rosalía ihr vor. »Dass sie nach Córdoba zurückkommt und leidet?«

Antonina gab schließlich nach. Seit Aldo aus seinen Flitterwochen zurückgekehrt war, hatte er sie in einem fort nach ihrer Tochter gefragt. Manchmal war er völlig außer sich und schrie Sofía und sie an, sie sollten ihm Francescas Adresse nennen oder wenigstens ihren Aufenthaltsort. Schließlich fand sich Antonina mit der Idee ab und gab ihre Zustimmung.

Francesca verschlang die Bücher, die ihr Onkel ihr empfohlen hatte, insbesondere Die Kultur der Araber von einem gewissen Gustave Le Bon. Obwohl sie nach weiterer Literatur suchte, fand sie nicht viel. Aber das Gelesene genügte, um sich umfassend über die Gewohnheiten und Eigenarten der Araber zu informieren, die ihr ziemlich rückschrittlich vorkamen wegen ihres Machismo und der untergeordneten Stellung der Frau.

Dennoch freundete sich Francesca jeden Tag mehr mit dem Gedanken an, nach Saudi-Arabien zu reisen. »Eigentlich hat Onkel Fredo recht«, sagte sie sich. »Ich sollte diese Reise als eine Chance betrachten und nicht als Rückschlag.«