18. Kapitel

Abdel bin Samir gab seinem Kollegen el-Haddar Bescheid, dass er an diesem Morgen nicht mit ihm rechnen könne. Er wolle seine Mutter in einem Vorort von Riad besuchen. El-Haddar nahm die Nachricht gleichgültig auf; er wusste, wie sehr Abdel an der alten Dame hing. Er suchte sie immer auf, wenn er Probleme hatte oder keine Ruhe fand. Und seit sie am Tag zuvor das christliche Mädchen übergeben hatten, wirkte er sonderbar in sich gekehrt.

»Ja, geh nur zu deiner Mutter«, stimmte el-Haddar zu, »vielleicht kann sie dich aufmuntern.«

Abdel ging auf sein Zimmer, vergewisserte sich, dass die 45er geladen war, schraubte den Schalldämpfer auf und schob sie zusammen mit dem Krummdolch in den Gürtel. Da er nicht mit seinem Auto fahren wollte – wahrscheinlich würden Abu Bakrs Männer ihm einige Tage folgen, um zu sehen, ob er vertrauenswürdig war –, passte er den Lastwagen ab, der Baumaterial für den neuen Swimmingpool anlieferte. Er wartete, bis die Arbeiter den Wagen entluden, und während sie die Lieferung in den Hof brachten, kletterte er auf die Ladefläche und zog eine Plane über sich. Einige Minuten später hörte er, wie sich el-Haddar von dem Fahrer verabschiedete, dann fuhr der Lastwagen los. Abdel hob die Plane an, um zu sehen, in welche Richtung sie fuhren: Es ging in die Altstadt. Als der Wagen in der Nähe des Bazars kurz anhielt, kroch er unter der Plane hervor, öffnete leise die Klappe des Lastwagens und sprang aufs Pflaster. Er ging durch die weniger belebten Gassen und betrat das Marktviertel, in dem die Teppichhändler ihre Geschäfte hatten. Er suchte einen ganz bestimmten Laden, der Abu Bakrs Informanten, einem gewissen Fadhir, als Unterschlupf diente. Mit diesem Fadhir hatten sie sich in den Tagen vor der Entführung in Verbindung gesetzt, um die Einzelheiten zu besprechen. Der Mann hatte ihnen nicht gesagt, dass er hier sein Versteck hatte, aber nach dem ersten Treffen in einem Café am Fleischmarkt war el-Haddar so schlau gewesen, ihm zu folgen.

Als er den kleinen Laden betrat, kamen ihm zwei Männer entgegen und forderten ihn wortreich auf, sich die Teppiche anzusehen. Abdel schlug den Umhang zurück, um seine Pistole zu zeigen, und bedeutete ihnen, zu schweigen. Instinktiv wichen die beiden Männer zurück. Der eine versuchte eine Waffe aus der Schreibtischschublade zu holen, aber Abdel zog behände seine 45er und schoss ihm eine Kugel in die Stirn. Der andere, ein schmächtiger Junge, ließ sich neben seinen Kumpan fallen und warf Abdel einen flehenden Blick zu. Der steckte die Waffe ein, nahm eine Vorhangkordel, die auf dem Ladentisch lag, und fesselte ihn an Händen und Füßen. Zusätzlich knebelte er ihn. Dann schloss er die Tür ab und ließ den Laden herunter. Er ging zu dem gefesselten Jungen zurück, kniete neben ihm nieder und fragte leise: »Wo steckt Fadhir?«

Der Junge deutete mit einer Kopfbewegung zum oberen Stock hin. Abdel ging durch den Laden nach hinten, schob einen Vorhang beiseite und erreichte durch einen kleinen Lagerraum die Wendeltreppe, die nach oben führte. Die Treppe war so schmal, dass selbst er mit seiner schlanken Statur kaum hindurchpasste. Auch im oberen Stock befand sich ein Lager; überall stapelten sich Teppiche. Auf dem Boden lag Fadhir auf einem Stapel Kelims und schlief tief und fest, einen Revolver in der rechten Hand. Abdel griff nach seinem Messer und rammte es in die Schulter des Terroristen, der nun an die Kelims geheftet war. Der Mann schrie laut auf und starrte Abdel aus weit aufgerissenen Augen an, der sich ganz nah über sein Gesicht beugte und sagte: »Wir beide müssen uns unterhalten.«

***

Kamal fuhr mit dem Jaguar vor dem Palast seines Vaters vor. Eine Wache öffnete die Wagentür und hielt sie für ihn auf. Er stieg aus, stürzte ins Haus und eilte über den großen Innenhof in Richtung Keller, wo sich früher die Arrestzellen befunden hatten. Heute diente er als Archiv und Abstellkammer.

Kamal hörte Maliks erbärmliche Schreie durch die Gänge hallen: Abenabó und Kader leisteten ganze Arbeit. Er beschleunigte seine Schritte, ging zur letzten Zelle und trat rasch ein. Maliks ausgebreitete Arme waren an Ringen in der Wand befestigt. Er spuckte Blut und Zähne. Kader rieb seine Fingerknöchel. Abdullah unterhielt sich flüsternd mit Jacques Méchin, während Abenabó ein Glas mit Wasser füllte und es dem Chauffeur ins Gesicht schüttete, um ihn bei Besinnung zu halten.

»Kamal!«, sagte sein Onkel überrascht und ging ihm entgegen. »Gibt es etwas Neues?«

»Die Entführer haben sich vor einer halben Stunde gemeldet.«

»Ließ sich der Anruf zurückverfolgen?«, fragte Méchin ungeduldig.

»Nein. Was ist bei dem Verhör rausgekommen?«, wollte Kamal wissen.

»Dieser Kerl ist eine harte Nuss«, klagte sein Onkel. »Wir haben ihn seit Stunden in der Mangel, aber wir haben noch nicht viel aus ihm herausgekriegt. Er hat zugegeben, Kontakt zum Dschihad zu haben und auf der Flucht nach Jordanien gewesen zu sein, als meine Männer ihn aufgriffen, aber das wussten wir ja schon vorher mit einiger Sicherheit.«

»Vielleicht halten sie sie in Jordanien fest«, mutmaßte Jacques.

Kamal trat zu Malik, dessen Augen von den Schlägen zugeschwollen waren, aber er öffnete sie trotzdem mühsam und grinste spöttisch.

»Und, Prinz Kamal, haben Sie ihre angebetete Francesca noch nicht gefunden?«

Al-Saud starrte ihn mit einem eisigen Blick an, der Malik zwang, die Augen zu senken. Kamal trat zu dem Tisch, auf dem die Waffen seiner Leibwächter lagen, nahm eine Magnum 9 Millimeter und schoss Malik in die linke Hand.

Der Chauffeur schrie vor Schmerz laut auf, die Übrigen sahen sich betreten an. Malik stand völlig unter Schock. Er starrte auf den blutigen Stumpf, brüllte, heulte und stammelte zusammenhangloses Zeug. Al-Saud blieb ungerührt stehen und richtete die Waffe auf die andere Hand.

»Du hast die Möglichkeit, die Rechte zu behalten, wenn du mir sagst, wer die Männer sind, die Francesca in ihrer Gewalt haben, und wo sie sich verstecken.«

Malik wimmerte weiter vor sich hin und konnte sich nicht beruhigen. Abenabó packte ihn am Kinn und schüttete ihm erneut Wasser ins Gesicht, damit er reagierte.

»Wer sind sie, und wo verstecken sie sie?«, brüllte Kamal wütend.

»Ich weiß es nicht!«

Malik wand sich verzweifelt, als die Pistole klickte. Durch den starken Blutverlust wurde er zusehends blasser.

»Er wird sterben, wenn ihn kein Arzt behandelt«, regte sich Jacques auf. »Und tot nützt er uns nichts.«

»Lebend nützt er mir auch nichts«, entgegnete Kamal. Er trat näher und setzte dem Chauffeur die Waffe an die Stirn.

»Ich schwöre, ich weiß es nicht! Ich weiß nur, dass sie sich in der Gewalt von Abu Bakr und seinen Leuten befindet. Sie halten sie fest, um Lösegeld zu fordern.«

»Wo?«, insistierte Kamal.

»Ich weiß es nicht! Ich weiß es wirklich nicht!«, wimmerte Malik angsterfüllt. »Ich schwöre es bei Allah!«

»Warum wolltest du nach Jordanien fliehen?«

»Weil Abu Bakr sein Hauptquartier in Aqaba hatte, aber ich bin nicht sicher, ob es sich noch dort befindet.« Jedes Wort bedeutete eine übermenschliche Anstrengung für ihn. Seine Zunge klebte am Gaumen, und er sah nur noch unter Schwierigkeiten. »Mehr weiß ich nicht, ich schwöre«, stammelte er. »Ich wollte mit ihnen mitfahren, aber sie haben mich nicht mitgenommen.«

»Aqaba«, wiederholte Jacques. »Das ist im Süden von Jordanien. Wo genau in Aqaba?«

»Im Melazia-Viertel, in einem alten Lagerhaus am Markt. Ich schwöre, mehr weiß ich nicht.«

Kamal ging zur Tür. Bevor er hinausging, drehte er sich um, hob die Waffe und schoss Malik in den Kopf, der mit einem Loch in der Stirn an der Wand zusammensank.

***

Abdel bin Samir hatte eine Entscheidung getroffen: Er würde Prinz Kamal sagen, was er über die Christin wusste. Bereits seit einer ganzen Weile wartete er in einem Mietwagen vor al-Sauds Wohnung im Malaz-Viertel. Dass der Prinz in Lebensgefahr schwebte, entband ihn von seinem Treueschwur gegenüber Saud al-Saud. König Abdul Aziz hatte Kamal geliebt und hätte unter diesen Umständen nicht gezögert, ihn zu seinem Nachfolger zu ernennen.

Die Sache mit der Christin hatte von Anfang an gestunken. Nach seiner Meinung gab es andere, weniger drastische Methoden, um eine lästige Frau loszuwerden: Bestechung, Drohungen oder ein ordentlicher Schrecken gehörten zu den wirkungsvollsten. Sie einem Terroristen auszuliefern, war lächerlich, unangemessen und auch unglaubwürdig. Abdel hatte immer vermutet, dass Prinz Kamal das eigentliche Opfer sein sollte. Sein Gespräch mit Fadhir hatte seinen Verdacht bestätigt.

Unverwandt beobachtete er Kamals Haus im Malaz-Viertel. Als er schon die Hoffnung zu verlieren begann, kam endlich der grüne Jaguar des Prinzen in Sicht. Abdel lehnte sich im Sitz zurück und wartete, dass al-Saud parkte. Er sah, wie er aus dem Wagen stieg und eilig zum Eingang seines Hauses ging. Das Gesicht vollständig verhüllt, stieg Abdel aus seinem Mietwagen, schaute sich um und folgte ihm. Bevor Kamal die Eingangstür schließen konnte, rief Abdel ihn leise an und zeigte sein Gesicht.

»Abdel«, sagte Kamal verwundert. »Was machst du hier? Warum bist du nicht mit meinem Bruder in Griechenland?«

»Er hat mir hier einen Auftrag gegeben, deshalb sollte ich dableiben«, sagte er und sah ihn flehend an. »Können wir reden, Hoheit?«

»Jetzt nicht.« Kamal versuchte zu verbergen, wie gern er den alten Leibwächter losgeworden wäre, der ihn mit Sicherheit um eine Gefälligkeit bitten wollte. Um Geld vielleicht, das hatte er früher schon einmal getan.

»Ich habe Ihnen etwas zu sagen, das Sie interessieren wird, Hoheit. Es geht um das Christenmädchen.«

Kamal blieb stehen und sah ihn an. Seine Verwirrung währte nur einige Sekunden, dann winkte er mit dem Kopf, und Abdel folgte ihm ins Haus. Sie gingen nach hinten, wo sich ein kleiner Garten befand.

»Rede«, sagte Kamal.

»Mademoiselle de Gecco befindet sich im Khazneh-Tempel in Petra, fünfzig Kilometer nördlich von Aqaba, in Jordanien. Sie wird von dem Terroristen Abu Bakr festgehalten.«

»Woher weißt du das?«

»El-Haddar und ich haben sie an der jordanischen Grenze an Abu Bakrs Terroristen übergeben«, sagte er und hielt Kamals Blick in der Gewissheit stand, das Richtige zu tun. »Es tut mir leid, Hoheit, aber ich dachte, es wäre das Beste für Sie und für Saudi-Arabien. Erst später habe ich den eigentlichen Plan begriffen.«

»Welchen Plan?«

»Sie zu ermorden.«

»Mein Bruder steckt hinter der ganzen Sache, stimmt’s?«

Abdel nickte nur.

»Woher weiß ich, dass du mich nicht anlügst? Woher weiß ich, dass das nicht Teil des Plans ist, um mich aus dem Weg zu schaffen?«

»Das können Sie nicht«, räumte der Leibwächter ein. »Sie müssen mir vertrauen und daran denken, wie sehr ich Ihren Vater geliebt und verehrt habe. Sie waren sein Lieblingssohn, und das ist es, was in diesem Moment zählt. Ich habe gesagt, was ich weiß, jetzt können Sie nach Gutdünken mit mir verfahren. Sie können mich ins Gefängnis werfen oder öffentlich hinrichten lassen – Sie entscheiden.«

»Warte hier auf mich«, ordnete Kamal knapp an und ging ins Haus. Er wusste, dass der Leibwächter nicht weglaufen würde.

***

»Das ist doch eine Falle«, sagte Abdullah.

Sie saßen in seinem Büro und warteten darauf, dass Abenabó und Kader Maliks Leiche entsorgten. Kamal hatte seinen Onkel soeben von seinem Telefonat mit dem Entführer berichtet, von den wenigen Worten, die er mit Francesca gewechselt hatte, und von Abdel bin Samirs außergewöhnlichem Geständnis.

»Das ist eine Falle!«, sagte Abdullah noch einmal, zunehmend aufgebracht, je länger er die Situation bedachte.

»Das Mädchen interessiert sie eigentlich nicht«, stellte Méchin fest. Er sprach wie zu sich selbst, als wollte er das Vorgefallene begreifen. »Du bist es, den sie haben wollen. Sie wissen, dass du der OPEC ablehnend gegenüberstehst und dass du Kontakte zur Kennedy-Regierung unterhältst, deshalb wollen sie dich kaltstellen.«

»Sie werden dich umbringen!«, rief Abdullah aufgebracht, weil sein Neffe die Tragweite dieser Aussage nicht zu begreifen schien. »Wenn du das Lösegeld überbringst, legen sie dich um. Ich werde nicht zulassen, dass du es übergibst.«

»Du scheinst nicht zu verstehen, Onkel«, sagte Kamal mit Nachdruck. »Ich habe nicht vor, abzuwarten, bis sie sich wieder melden, und ich werde auch kein Lösegeld übergeben. Mein Entschluss steht fest: Ich fliege jetzt gleich nach Jordanien. Wir nehmen meinen Jet. Und ich brauche ein paar von deinen Männern.«

»Du machst was?«, fragte Jacques ungläubig, und Abdullah sah ihn nur aus großen Augen an. »Du weißt ja nicht, was du da sagst«, fuhr Méchin fort. »Du hast keinen Plan, sondern handelst im Affekt, und das wird dich teuer zu stehen kommen. Wir wissen nicht mal, ob diese Informationen stimmen. Und was ist, wenn die Entführer sich wieder melden und du bist nicht da? Das könnte schlimme Folgen für Francesca haben.«

»Ich habe vor, bei Francesca zu sein, bevor Abu Bakr erneut Kontakt mit mir aufnimmt.«

»Nichts dergleichen wirst du tun.« Abdullah ließ nicht mit sich reden. »Ich lasse nicht zu, dass der nächste König von Saudi-Arabien sein Leben aufs Spiel setzt.«

»Du wirst mich nicht umstimmen, ganz gleich, was du sagst.«

Méchin versuchte erst gar nicht, ihm zu widersprechen; er wusste, wie stur Kamal sein konnte. Abdullah hingegen ließ nicht locker.

»Ich lasse das nicht zu!«

»Ich wüsste nicht, wie du mich davon abhalten solltest«, machte Kamal deutlich. Abdullah wollte etwas erwidern, doch auf ein Zeichen von Méchin hin schwieg er.

»Warum überlässt du es nicht den Männern deines Onkels, Francesca da rauszuholen? Sie sind Profis und bestens ausgebildet.«

»Das bin ich auch«, erwiderte Kamal. »Oder hast du vergessen, dass ich nach meiner Rückkehr nach Saudi-Arabien fünf Jahre an der Militärakademie in Riad war?«

Nichts würde ihn überzeugen können. Abdullah und Méchin sahen ein, dass es sinnlos war, mit ihm zu diskutieren.

»Ich möchte mit Abdel sprechen«, sagte der Leiter des Geheimdienstes schließlich. »Wo ist er?«

»Ich habe ihn vorsichtshalber einsperren lassen, mehr zu seinem eigenen Schutz als aus Angst, dass er fliehen könnte. Nachdem er einen Terroristen wie Abu Bakr verraten hat, ist sein Leben keinen Cent mehr wert.«

»Also gut«, sagte Abdullah. »Ich werde ihn herbringen lassen, und auf der Grundlage der Informationen, die er uns gibt, machen wir einen Plan.«

Abdel blickte nicht ein einziges Mal auf, als man ihn verhörte. Am Ende nahm er all seinen Mut zusammen und wandte sich an Kamal.

»Sie sollten sich nicht in der Öffentlichkeit zeigen, Hoheit. Abu Bakrs Männer folgen Ihnen auf Schritt und Tritt. Vielleicht haben sie gesehen, wie wir uns vor Ihrem Haus unterhalten haben.«

Kamal schwieg und sah nachdenklich vor sich hin. Schließlich sagte er: »Jacques, ruf meine Schwägerin Zora und meine Schwester Fatima an. Sag ihnen, sie sollen die Schuhe mit den höchsten Absätzen anziehen, die sie haben, und in den alten Palast kommen. Und sie sollen zwei zusätzliche abayas mitbringen.«

***

Abu Bakr war in seinem Raum und überlegte, ob es sinnvoll war, sich noch heute bei Prinz Kamal zu melden. Einer seiner Männer fragte gerade telefonisch den Kontostand in Zürich ab, während ein anderer ebenfalls per Telefon ein Treffen mit einem bekannten belgischen Waffenhändler vereinbarte. Abu Bakr zuckte zusammen, als Bandar ohne anzuklopfen hereinkam; er wirkte besorgt.

»Was ist los?«, fragte er und nahm unwillig die Brille ab.

»Katem hat sich gerade gemeldet. Vor ein paar Stunden wurde Prinz Kamal vor seinem Haus von einem Mann angesprochen.«

Abu Bakr stand auf und sah seinen Untergebenen an. Die Sache konnte völlig bedeutungslos sein oder höchst alarmierend. Verräter gab es immer, wenn so viel Geld im Spiel war.

»Ließ sich herausfinden, wer es war?«

»Er hatte sein Gesicht verhüllt«, erklärte Bandar.

»Was weißt du noch darüber?«

»Sie gingen ins Haus und unterhielten sich eine Weile. Dann kamen sie wieder raus, stiegen ins Auto von Prinz Kamal und fuhren zum alten Palast von König Abdul Aziz. Bis jetzt sind sie nicht wieder rausgekommen.«

»Vielleicht haben sie den Hinterausgang genommen«, mutmaßte Abu Bakr.

»Alle Eingänge werden überwacht, aber es gab nicht viel Bewegung. Zwei Frauen, bei denen es sich, wie sich herausstellte, um die Schwägerin und die Schwester des Prinzen handelte, und ein paar Paketboten, die Kisten von einer Buchhandlung brachten. Sonst keiner. Die Boten haben die Kisten abgegeben und sind mit leeren Händen wieder rausgekommen. Auch die Frauen haben den Palast eine Stunde später wieder verlassen.«

Abu Bakr schickte seinen Untergebenen weg und lehnte sich wieder in die Kissen. Er schloss die Augen und dachte nach. Im Laufe seines Lebens hatte er viele Lektionen gelernt, aber zwei davon hatten sich als besonders nützlich erwiesen: Erstens, es gab keine Zufälle, und zweitens, vertraue stets deinem Instinkt. Diese Begegnung zwischen dem Prinzen al-Saud und einem Mann, der sein Gesicht nicht zeigen wollte, gefiel ihm ganz und gar nicht. Er stand auf und rief über Funk seinen Stellvertreter Kalim Melim Vandor. Kalim war Palästinenser und hasste die Juden noch mehr als Abu Bakr selbst. Er war groß und massig, und die Augenklappe vor dem linken Auge, das er vor langer Zeit durch einen Granatsplitter im Gazastreifen verloren hatte, verlieh ihm etwas Boshaftes.

»Kalim«, sagte Abu Bakr bestimmt, »wir müssen Petra in den nächsten Stunden verlassen.« Als der Terrorist ihn verwirrt ansah, wurde Abu Bakr ungeduldig. »Es besteht die Möglichkeit, dass Prinz al-Saud unseren Aufenthaltsort kennt.«

»Und was machen wir mit der Argentinierin? Nehmen wir sie mit?«

»Die beseitigen wir«, entschied Abu Bakr. »Wir brauchen sie nicht mehr. Ruf zuerst die Männer zusammen. Danach kümmern wir uns um sie.«

***

Kamal und Méchin legten die Gewänder von Fatima und Zora ab und nahmen in den Sitzen des Privatjets Platz. Minuten später hob das Flugzeug ab. Mit ihnen flogen die besten Agenten des Geheimdienstes. Méchin sah zu Kamal und dachte, dass ihn nur das Adrenalin auf den Beinen hielt. Er wusste nicht, wie er das aushielt, nachdem er so lange nichts gegessen und getrunken und nicht geschlafen hatte. Aber Kamal wirkte hellwach und voller Energie.

Bevor Kamal, Méchin und seine Männer Riad verlassen hatten, hatte Abdullah mit seinem Amtskollegen in Jordanien telefoniert, einem Schwager des Haschemitenkönigs Hussein II., mit dem ihn ein beinahe freundschaftliches Verhältnis verband. Als König Hussein erfuhr, dass möglicherweise eine antijüdische Terrorgruppe von seinem Boden aus agierte, gab er Anweisung, mit den Saudis zusammenzuarbeiten, um die Terroristen auszuschalten. Er war kein Freund der Juden, aber es würde das ohnehin schwierige Verhältnis zu Israel unnötig belasten, wenn ans Licht kam, dass sich der berüchtigte Abu Bakr in seinem Land versteckte.

Der Jet landete auf einer privaten Piste im Süden Jordaniens. Kamal und seine Gruppe wurden von einem zehnköpfigen Kommando der Armee König Husseins erwartet. Während man sich einander vorstellte, luden die saudischen Agenten die Waffen aus dem Laderaum des Jets: Mausergewehre, britische Sterling-Maschinengewehre und FAL-Sturmgewehre. Der jordanische Kommandant bat den für die Mission verantwortlichen saudischen Agenten und Prinz al-Saud in ein Feldzelt, wo er ohne lange Umschweife zur Sache kam.

»Wie wahrscheinlich ist es, dass sich Abu Bakr tatsächlich in Petra aufhält? Soll heißen, wie vertrauenswürdig ist die Quelle, von der diese Information stammt?«

»Das wissen wir nicht«, gab Kamal zu, ohne sich von der forschen Art des Militärs aus der Ruhe bringen zu lassen. »Aber es gibt weitere Hinweise, die uns vermuten lassen, dass die Informationen über Petra stimmen. Das ist alles, was wir haben. Wir müssen das Risiko eingehen.«

»Das Versteck im Melazia-Viertel in Aqaba war verlassen, obwohl mir versichert wurde, dass sich vor einigen Tagen noch an die zwanzig Personen dort aufgehalten haben. Wir haben Essensreste gefunden, Matratzen, Kleidung, Zeitungen jüngeren Datums. Nichts, was uns weiterhelfen würde.«

»Das lässt darauf schließen«, sagte der saudische Agent, »dass wir es in Petra mit etwa zwanzig Männern zu tun haben werden.«

»Eine sehr gewagte Annahme«, stellte der Jordanier fest. »Letztlich können wir nicht sagen, mit wie vielen Männern wir wirklich rechnen müssen.«

»Oder ob wir gar niemanden antreffen werden«, setzte Méchin hinzu, der von Anfang an skeptisch gewesen war und nicht viel Vertrauen in Abdels plötzliches Geständnis setzte.

»Wenn ich richtig informiert bin, handelt es sich um eine Befreiungsaktion«, bemerkte der Jordanier. Kamal nickte.

»Es geht um eine Mitarbeiterin der argentinischen Botschaft«, erläuterte der saudische Agent und reichte ihm einige Fotos von Francesca. »Die Frau wurde vor zwei Tagen von Abu Bakrs Leuten entführt. Uns bleibt nicht viel Zeit, bis die Behörden ihres Landes davon erfahren und es einen Skandal gibt. Die Aktion darf nicht schiefgehen, wir müssen sie lebend da rausholen.«

Der Jordanier stellte keine weiteren Fragen, trotz der Zweifel, die die Mission in ihm aufkommen ließ. Vor allem beunruhigte ihn, dass sich ein Mitglied des saudischen Königshauses persönlich um die Sache kümmerte. Weshalb so viel Aufwand wegen einer Argentinierin? Aber er sagte nichts. Er war es gewohnt zu gehorchen, und der Befehl seines Vorgesetzten lautete, Abu Bakr und seine Leute auszuschalten. Dass eine Frau dabei war, änderte nichts an dem Auftrag. Er trat an einen Tisch und breitete einen Plan von Petra aus.

»Petra ist eine archäologische Ausgrabungsstätte, die größtenteils noch unerforscht ist. Es handelt sich um eine befestigte Stadt, umgeben von Bergen und unmittelbar in den Fels gehauen. Wie Sie sehen, liegt sie in einem Tal zwischen Felsen, was ihr einen gewissen Schutz gewährt. Am leichtesten zugänglich ist sie über den so genannten Siq«, erklärte er weiter und deutete auf einen Punkt im Südwesten der Karte, »eine tiefe Felsschlucht, die direkt ins Herz der Stadt führt und vor dem bedeutendsten Tempel endet, dem Khazneh. Hier. Aber unter den gegebenen Umständen ist es unmöglich, über den Siq hineinzugelangen. Wir wären dem Angriff der Terroristen schutzlos ausgeliefert, falls sie Wachen auf dem Khazneh postiert haben. Sie würden uns sofort entdecken, und wir säßen in einer tödlichen Falle, weil wir keine Deckung hätten.«

»Was ist dann der beste Zugang?«, fragte Kamal ungeduldig.

Der Jordanier verließ das Zelt und kehrte gleich darauf in Begleitung eines Beduinen zurück.

»Amirs Stamm lebt seit Jahrhunderten in diesem Teil des Landes und gehört zu den wenigen, die sich in Petra auskennen. Er sagt, dass er uns auf einem anderen Weg in die Stadt führen kann, der allerdings riskanter ist, weil wir über die Felswände müssen.«

»Sehr gut«, bemerkte der saudische Agent. »Wenn Petra in einem Tal liegt, wie Sie sagen, werden wir von dort einen strategisch besseren Überblick haben.«

»Wir kommen von Osten«, fuhr der jordanische Soldat fort, »aus Richtung Ed-Deir, einem ähnlichen Tempel wie dem Khazneh, und nähern uns der Stadt von oben. Wenn es stimmt, dass sich Abu Bakr in Petra aufhält, wird er Leute haben, die den Ort bewachen. Wir haben vor, eine Wache zu überwältigen, damit sie uns zu ihm führt. Petra ist berühmt für seine unterirdischen Verstecke und Labyrinthe, und ohne jemanden, der uns den Weg weist, werden wir Abu Bakr und das Mädchen niemals finden. Uns bleiben nicht mehr viele Stunden Tageslicht. Wir müssen los. Sie und Ihr französischer Freund können hier im Camp auf uns warten, Hoheit.«

»Oberst, ich habe nicht vor, hierzubleiben, sondern werde bei der Aktion dabei sein. Und lassen Sie uns keine Zeit damit verschwenden, über diesen Punkt zu diskutieren; es ist sinnlos«, erklärte Kamal und steckte das Messer und seine Magnum in den Gürtel.

Der Jordanier nahm Haltung an und verließ rasch das Zelt.

»Ich komme auch mit«, verkündete Méchin.

»Nein«, sagte Kamal.

»Ich bin für dich verantwortlich, seit du ein kleiner Junge warst, und ich habe nicht vor, dich in einem der gefährlichsten Momente deines Lebens allein zu lassen. Außerdem bin ich noch gut in Form – oder hast du vergessen, dass ich einmal einer der besten Soldaten deines Vaters war?«

Bis kurz vor Petra bestritten sie den Weg auf Pferden reitend. Die Jeeps ließen sie stehen, um sich nicht durch Motorengeräusche zu verraten. Sie waren eine Gruppe von zwanzig schwerbewaffneten Männern, die schweigend und argwöhnisch ihre Umgebung beäugten. Kamal fühlte sich besser – wenigstens unternahm er jetzt etwas. Die endlosen Stunden in Mauricios Büro hatten ihm arg zugesetzt. Jetzt ritt er im Galopp an die Spitze der Gruppe. Er vibrierte vor Anspannung. ›Entweder ich bekomme sie lebend wieder, oder das hier ist das Letzte, was ich mache‹, schwor er sich. Sie ritten, bis sie die Oase Al-Matarra erreichten, die ihren Namen von dem wadi hatte, das durch sie hindurchfloss.

»Wir lassen die Pferde hier zurück und gehen zu Fuß weiter zu den Felsen«, erklärte der Jordanier. »In einer halben Stunden sind wir da.«

An diesem Punkt der Mission übernahm Amir, der ortskundige Beduine, die Führung. Am Fuß der Felsen sicherten sie Gewehre und Messer und begannen mit dem Aufstieg, anfänglich ohne größere Mühe, da der Stein zunächst nur sanft anstieg und eine Art natürliche Treppe bildete. Doch je höher sie kamen, desto steiler und gefährlicher wurde die Wand. An einer Stelle knapp unterhalb des Gipfels, die der Beduine »das Löwengrab« nannte, markierte eine tief in den Fels gehauene Nische, aus der Eidechsen in unterschiedlichen Größen und Farben huschten, den Punkt, nach dem der Führer gesucht hatte: Sie befanden sich nun ganz nah beim Ed-Deir. Ab hier führte der Weg nahezu senkrecht nach oben.

Sie erreichten eine Spalte im Fels, die aussah wie eine klaffende Wunde, und schlüpften auf ein Zeichen des Beduinen hinein. Es war ein Tunnel, nicht sonderlich lang, an dessen Ende sie die kolossale, beinahe unwirkliche Fassade des Ed-Deir entdeckten. Bevor sie sich an den Abstieg machten und das offene Gelände vor dem Tempel überquerten, schickte der jordanische Oberst zwei seiner Männer auf einen Erkundungsgang, während sie am Ausgang des Tunnels warteten. Als die Soldaten Entwarnung gaben, verließ auch die übrige Gruppe das Versteck und lief zum Ed-Deir. Kamal schätzte, dass die Fassade an die fünfzig Meter hoch sein musste; er war überwältigt von den wuchtigen Säulen und der Schönheit der Giebelfelder im griechischen Stil.

»Ich bleibe hier zurück«, teilte der Beduine dem jordanischen Oberst mit. »Ihr müsst durch diese Öffnung«, sagte er und deutete auf einen Spalt zur Rechten der Tempelfassade. »Sie führt genau ins Zentrum von Petra.«

Hinter der Öffnung befand sich eine in den Fels gehauene Treppe, die sie erneut nach oben führte, von wo sie nun das Zentrum der Stadt überblicken konnten. Kamals Herz pochte heftig, war er doch sicher, dass sich Francesca irgendwo in dieser Geisterstadt befand.

Sie verfuhren genauso wie zuvor: Der jordanische Oberst schickte erneut dieselben Männer los, um die Gegend zu erkunden. Wenn sie nicht schon beim Ed-Deir-Tempel auf die Terroristen gestoßen waren, war anzunehmen, dass es hier geschehen würde. Falls die Terroristen überhaupt hier waren, dachte Méchin mutlos, der nur den Wind hörte und die Eidechsen beobachtete. Wenig später kehrten die jordanischen Kundschafter zurück.

»Auf einem Felsen etwa fünfhundert Meter östlich von hier haben wir einen Mann gesehen. Er hatte ein Maschinengewehr dabei und ein Bowie-Messer am Gürtel.«

Sie rückten in vier Gruppen vor, um den Terroristen zu überwältigen, der erst reagierte, als es schon zu spät war.

»Wo sind die übrigen Wachposten?«, wollte der jordanische Oberst wissen, während ein anderer dem Mann den Arm auf den Rücken drehte.

»Ich bin allein«, beteuerte er wimmernd.

»Du lügst«, sagte der Oberst und nahm ihm das Messer ab. »Ich ramme dir dein eigenes Messer in die Eingeweide, wenn du mir nicht sagst, wo deine Kumpane sind.« Als der Mann hartnäckig schwieg, ritzte ihm der Jordanier die Wange auf. »Soll ich weitermachen oder sagst du mir lieber, wo sie sind?«

Der Mann gab nach. Kurz darauf rief er von einem Felsvorsprung nach seinem Kollegen. Der verließ seinen Posten, eine Felshöhle am anderen Ufer des wadi, und erschrak, als er die blutende Wunde an der Wange des anderen entdeckte. Er fragte ihn durch Gesten, was passiert sei, und bedeutete ihm durch Handzeichen, dass er nach drüben kommen würde, um ihm zu helfen. Aber er kam nie an: Einige Meter vorher fiel ihn ein saudischer Agent von hinten an und schnitt ihm die Kehle durch.

»Wo sind die übrigen Wachen?«, fragte der Oberst noch einmal.

»Es gibt keine weiteren mehr«, antwortete der Mann mit einem nervösen Blick zu dem leblosen Körper seines Kameraden. »Es gibt keine anderen, ich schwöre.«

»Führ uns zu deinem Boss. Und komm bloß nicht auf die Idee, die anderen zu warnen: Bevor jemand reagieren kann, schlitze ich dir die Kehle auf.« Und er setzte ihm die Messerspitze an den Hals.

***

Als Francesca den sandigen Boden an ihrer Wange spürte, wusste sie, dass sie nicht tot war. Der muffig-feuchte Geruch der Zelle war stärker geworden und mit ihm auch die Übelkeit. Sie legte die Hand auf ihren Bauch, der steinhart war. Krampfartige Schmerzen ergriffen Besitz von ihr, die ihr endlos vorkamen und sie zwangen, sich wimmernd am Boden zu winden. Sie begann zu weinen, denn ihr war klar, dass etwas mit dem Baby nicht stimmte. Die Schläge dieses unheimlichen Mannes fielen ihr wieder ein, das, was er gesagt hatte, das Telefonat mit Kamal, seine verzweifelte Stimme. Jetzt, wo die Wirkung des Schlafmittels nachließ, kehrten die Bilder klar und deutlich zurück.

Sie musste von hier fliehen. Sie würde nicht zulassen, dass ihrem Kind oder Kamal etwas zustieß. Mühsam setzte sie sich auf und sah sich um. Es schien sich um eine Art Höhle zu handeln, ein grob in den Fels gehauenes Loch, und obwohl sie sicher war, bei klarem Verstand zu sein, fiel es ihr schwer zu glauben, dass ihr das wirklich passierte.

Aber im Moment nützte es ihr nichts, die Einzelheiten oder die Gründe für diesen Albtraum zu kennen. Sie musste nur einen Fluchtweg finden. Sie hörte Stimmen und schaute durch die Luke in der Tür: Zwei Männer näherten sich mit raschen Schritten. Der eine war der, der sie geschlagen hatte; der andere, groß und kräftig und mit einer Klappe über dem linken Auge, ließ sie vor Angst erschaudern. Die beiden unterhielten sich auf Arabisch, und aus ihrem Tonfall schloss sie, dass sie sich stritten. Sie hoffte inständig, dass die Männer nicht zu ihr wollten – doch vergeblich, denn sie blieben vor ihrer Tür stehen und betrachteten sie durch die Gitterstäbe hindurch. Francesca wich zurück.

»Sie ist wach«, stellte Abu Bakr fest. »Schaffen wir sie uns vom Hals. Es ist überflüssig, sie in das neue Versteck mitzuschleppen.«

Sie schlossen die Tür auf und fanden Francesca hinter der Pritsche, wo sie in einer Ecke kauerte. Ihr Verhalten erinnerte die Männer an das eines in die Enge getriebenen Tieres. Ihre schwarzen Augen, die sie unverwandt ansahen, schienen Funken zu sprühen vor Hass und Wut. »Ich werde mich nicht kampflos ergeben«, schienen sie zu sagen. Kalim bewunderte sie dafür, dass sie weder weinte noch flehte. Er zog sein Messer und ging langsam auf sie zu, wobei er sie mit seinem gesunden Auge fixierte, als wollte er sie hypnotisieren. Francesca wich an die Wand zurück und versuchte, das Bettgestell zwischen sich und den Mann mit der Augenklappe zu schieben.

»Komm schon her, Kleine«, sagte Kalim.

Francesca schob sich seitlich in Richtung der geöffneten Tür. Wenn sie es bis dorthin schaffte, würde es ihr nicht schwerfallen, den anderen Kerl zu Boden zu stoßen und zu fliehen. Das Blut rauschte durch ihre Adern und verlieh ihr ungeahnte Kräfte. Vergessen waren alle Schmerzen, und sie war bereit, es mit einer ganzen Armee aufzunehmen, um ihr Baby zu retten. Niemand würde es wagen, ihr etwas anzutun, weder ihr noch ihrem Kind. Kalim fuchtelte mit dem Messer vor ihrem Gesicht herum, um sie einzuschüchtern.

Auf einmal waren Schreie zu hören und dann mehrere Schüsse. Abu Bakr blickte in den Flur, und bevor er hastig die Zelle verließ, befahl er: »Mach schon, leg sie um.«

Kalim wandte sich wieder seiner Beute zu und zog spöttisch eine Augenbraue hoch.

»Wie es scheint, hat mir das Schicksal einige Minuten zugestanden, um mit dir allein zu sein.« Er leckte sich mit der Zunge über die Lippen.

Obwohl Francesca kein Wort verstand, begriff sie sofort, was der Araber vorhatte.

***

Kamal hatte sich im Hintergrund gehalten und sich nicht in die Arbeit der Experten eingemischt. Aber nachdem sie dem Wachposten durch dunkle Labyrinthe gefolgt waren, setzte er sich von der Gruppe ab, die versuchte, die Terroristen am Eingang zur Höhle auszuschalten, und machte sich auf eigene Faust auf die Suche nach Francesca. Er war der Meinung, dass er das alleine erledigen musste.

Auch hier gabelten sich die dunklen, unheimlichen Gänge immer wieder, die nur schwach von Fackeln beleuchtet wurden, die in den Felswänden steckten. Unsicher ging er weiter, während er sich fragte, ob er den richtigen Weg eingeschlagen hatte. An einigen Wegbiegungen musste er sich verstecken und weitere Männer vorbeilassen, die, aufgeschreckt von dem Schusswechsel am anderen Ende der Höhle, mit gezückten Waffen vorbeiliefen. Die Terroristen interessierten ihn nicht weiter; er wollte nur Francesca finden und befreien. Er weigerte sich, die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass sie bereits tot sein könnte. Paradoxerweise beruhigte ihn der Schwur, den er sich auf dem Flug nach Jordanien gegeben hatte, und ließ ihn immer weiter gehen: Entweder er holte Francesca lebend hier raus, oder er würde das Tageslicht nicht mehr wiedersehen.

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Das Messer störte bei dem Versuch, sie zu vergewaltigen. Kalim schob es in den Gürtel zurück und ging auf sie zu. Francesca wich zur Seite aus, doch so sehr sie sich auch bemühte, einen kühlen Kopf zu bewahren, die Verzweiflung nahm rasch überhand. Sie wusste, dass sie diesem Hünen nicht entkommen konnte. Sie versuchte, die Tür zu erreichen, doch sie verfing sich in ihrem Nachthemd und fiel hin. Der Araber stürzte sich auf sie, drehte sie zu sich um und begann mit keuchendem Atem, sie zu begrapschen. Francesca spürte ein tonnenschweres Gewicht auf der Brust, und mit letzter Kraft schrie sie nach Kamal.

Dem Prinzen blieb das Herz stehen, als er Francesca hörte. Er antwortete ihr und bat sie, weiterzuschreien und ihm so den Weg zu weisen. Doch Kalim hielt Francesca den Mund zu, packte sie grob am Hals und zerrte sie hoch. Dann blieb er angespannt stehen und überlegte, ob er noch Zeit hatte zu fliehen. Die Stimme dieses Mannes klang zu nah. Und tatsächlich, einen Augenblick später erschien Kamals Gestalt in der Tür.

»Lass sie los!«, befahl er und richtete die Pistole auf ihn. »Lass sie los!«

»Niemals!«, stellte Kalim klar.

»Du sollst sie loslassen, habe ich gesagt! Tu, was ich sage, oder man wird deinen Leichnam nicht wiedererkennen!«

»Diese gottverfluchte Hure wird teuer für ihre Schamlosigkeit bezahlen!«, blaffte der Terrorist und drückte das Messer an Francescas Hals, so dass es in die Haut einschnitt.

Als er Francescas Schrei hörte und das Blut sah, das ihren Hals hinabrann, verlor Kamal die Nerven.

»Ist gut, ist ja schon gut«, sagte er schnell. »Du kannst alles von mir verlangen, was du willst, aber tu ihr nichts. Lass sie los«, bat er.

»Lass die Waffe fallen«, befahl Kalim.

Kamal warf die Pistole vor Francescas Füße, die sie auf ein Zeichen ihres Peinigers vom Boden aufhob und sie ihm übergab. Kalim drückte ihr die Waffe an die Schläfe, schlang grob seinen Arm um ihren Hals und schleifte sie zur Tür. Als er an Kamal vorbeikam, verpasste er dem Prinzen einen Hieb mit dem Pistolenknauf. Dieser ging zu Boden und fasste sich mit beiden Händen an den Kopf. Francesca schrie auf und versuchte, sich dem Schraubstockgriff zu entwinden, der sie daran hinderte, neben ihrem verletzten Liebsten niederzuknien. Es war ein kurzer Kampf. Kalim ließ die Pistole fallen und brachte Francesca wieder unter Kontrolle. Dann warf er sie sich über die Schulter und verließ die Zelle in die entgegengesetzte Richtung, aus der die Schüsse kamen.

Kamal richtete sich mühsam auf. Er musste sich an der Wand abstützen. Der Raum drehte sich um ihn, seine Ohren sausten, und in seinem Kopf hämmerte es schmerzhaft. Er fixierte einen festen Punkt, um das Schwindelgefühl loszuwerden, holte tief Luft und unterdrückte den Brechreiz. Der Gedanke, dass Francesca lebte, half ihm, sein Gleichgewicht wiederzufinden. Er nahm die Pistole an sich und ging hinaus. Leicht taumelnd rannte er los, geleitet von Francescas Stimme, die von weither zu ihm drang und kurz darauf nicht mehr zu hören war. Als er kurz davor war, zu verzweifeln, tauchte hinter einer scharfen Biegung ein Licht am Ende des Tunnels auf.

Francesca war barfuß, und das lose Geröll schmerzte an ihren Füßen. Das grelle Sonnenlicht blendete sie, nachdem sie so viele Stunden in völliger Finsternis verbracht hatte. Heftige Bauchkrämpfe peinigten sie, der Terrorist drückte mit seinem Arm ihren Hals zu und hinderte sie daran, normal zu atmen. Sie wollte schreien, damit Kamal sie hörte und ihr zu Hilfe kam. Und wenn der Schlag gegen die Stirn ihn getötet hatte? Sie versuchte sich loszureißen, aber das machte den Araber nur noch wütender, der sie anschrie und dabei auf den Abgrund zu ihren Füßen deutete. Sie befanden sich auf einem schmalen Felsgesims, nur anderthalb Meter breit, und der Abgrund unter ihnen schien nicht zu enden. Die Höhe ließ sie schwindeln, und sie musste sich an ihren Peiniger klammern. Sie gingen weiter.

»Lass sie los!«, war von hinten zu hören.

Kalim drehte sich vorsichtig um: Nur wenige Schritte hinter ihm stand Kamal, den Pistolenlauf auf seinen Kopf gerichtet. Er zog sein Messer und drückte es gegen Francescas Wange.

»Noch ein Schritt, und ich schneide ihr die Kehle durch«, drohte er.

»Lass sie frei, und ich gebe dir alles, was du verlangst«, schlug Kamal vor und steckte die Waffe in den Gürtel.

Vorsichtig kam er näher, und Kalim begann zurückzuweichen.

»Ich bin bereit, dir ein äußerst großzügiges Angebot zu machen. Du weißt, dass ich dir viel Geld geben kann. Überlass mir das Mädchen, und ich mache dich zu einem reichen Mann.«

»Halten Sie mich für einen Verräter, so wie Sie einer sind?«

»Lass sie gehen, du hast keine Chance. In ein paar Minuten werden überall jordanische Soldaten sein, dir bleibt keine Fluchtmöglichkeit. Ich biete dir meine Hilfe an, wenn du das Mädchen freilässt. Ich gebe dir alles, was du willst, so viel Geld, wie du möchtest. Du kannst Arabien verlassen und dich überall niederlassen.«

»Saud und du, ihr seid beide Verräter. Verräter an eurem Volk und am Koran. Du wirst für deine Skrupellosigkeit bezahlen! Und sie ist der Preis, den du zu zahlen hast!«

»Bleib stehen!«, warnte Kamal eindringlich. »Geh nicht weiter!«

Kalim trat auf einen losen Stein und rutschte ab. Al-Saud stürzte zu ihnen und bekam Francesca an den Händen zu fassen, die zappelnd über dem Abgrund hing. Kalim klammerte sich an einen Felsvorsprung und verharrte kurz, um wieder zu Atem zu kommen. Dann schwang er sich mühsam nach oben und schaffte es, sich auf den schmalen Vorsprung zu retten. Den Rücken an den Fels gepresst, schaute er ängstlich in die Tiefe, die sich vor ihm auftat. Dann drehte er sich um und tastete sich vorsichtig in ihre Richtung voran, bis sein Fuß sicheren Halt fand. Er spuckte in die Hände und kletterte weiter.

Francesca schrie in panischer Angst und strampelte verzweifelt mit den Beinen, um irgendwo Halt zu finden, erreichte aber nur, dass sich Kamals Position noch weiter verschlechterte. Seine Schultergelenke schmerzten, und er hatte das Gefühl, dass sich seine Hände gleich von den Handgelenken lösen würden. Die Situation spitzte sich zu, als Kamal sah, wie Kalim leichtfüßig auf sie zukletterte und die Distanz zu Francesca immer kleiner wurde, und das so schnell, dass ihm keine Zeit bleiben würde, sie in Sicherheit zu bringen.

»Francesca, hör mir gut zu«, bat er. »Konzentrier dich auf das, was ich dir jetzt sage. Ich lasse dich nicht fallen, okay? Ich lasse dich nicht fallen, aber du musst meinen rechten Arm loslassen.«

»Ich kann nicht, Kamal, ich kann nicht loslassen. Ich falle runter!«

»Hör mir zu, Francesca, bleib ganz ruhig! Du sollst dich mit beiden Händen an meinem linken Arm festhalten und dich so nah an den Fels pressen, wie du kannst. Ich lasse dich nicht fallen, vertrau mir.«

Francesca versuchte sich zu beruhigen. ›Er wird mich nicht fallen lassen‹, dachte sie und griff rasch mit beiden Händen nach seinem linken Arm. Kamals Muskeln brannten wie Feuer, und ein heftiger Schmerz schoss ihm bis in den Nacken, aber er konnte es sich nicht erlauben zu jammern. Mit der freien rechten Hand griff er nach der Pistole und feuerte mehrmals, bis der Terrorist sich vom Fels löste und in die Tiefe stürzte. Der Schmerz im linken Arm ließ nach, als sich das Gewicht wieder auf beide Seiten verteilte, aber Kamal brauchte noch einige Sekunden, bis er genügend Kraft fand, um Francesca nach oben zu ziehen.

»Stütz dich auf den Felsvorsprüngen ab und hilf mir«, sagte er.

Ihre Fußsohlen bluteten, aber Francesca merkte es nicht. Entschlossen kletterte sie weiter, während Kamal sie hochzog. Erst als sie es geschafft hatte und in Sicherheit war, sank sie bewusstlos an die Brust ihres Liebsten.

Auf dem Felssims sitzend, den Blick in den Abendhimmel gerichtet, spürte Kamal sein Herz heftig schlagen. Der Rest seines Körpers war wie taub. ›Ich muss aufstehen‹, dachte er und bewegte vorsichtig Francescas Kopf hin und her. Er rief ein paar Mal ihren Namen, bekam aber keine Antwort. ›Ich muss aufstehen‹, dachte er erneut und versuchte, sich aufzurichten. Er bettete Francesca in seinen Schoß und vergewisserte sich, dass sie noch atmete.

Kamal hatte keine Kontrolle über seine Beine, seine linke Schulter schmerzte höllisch, und ein Schwindelgefühl beeinträchtigte sein Gleichgewicht. Gegen den Fels gelehnt, versuchte er sich zu beruhigen. Er schloss die Augen und atmete tief durch. Als er das dumpfe Knallen eines Schusses hörte, reagierte er schnell und warf sich instinktiv über Francesca. Er sah genau in dem Moment hoch, als einen Schritt von ihm entfernt ein Mann in die Tiefe stürzte, das Messer in der Hand. Verwirrt drehte er sich um und sah Jacques Méchin, der noch die rauchende Pistole festhielt.

»Das war Abu Bakr«, sagte der Franzose.