19. Kapitel

Der Ritt von Petra zurück zum Lager der jordanischen Armee glich einem Albtraum. Francesca glühte vor Fieber und verlor immer wieder das Bewusstsein. Kamal versuchte, heftige Erschütterungen zu vermeiden, aber er war gezwungen zu galoppieren, weil die Zeit drängte. Schließlich hob der Jet mit Kamal, Francesca und Jacques als einzigen Passagieren nach Riad ab. Die saudischen Agenten blieben in Jordanien, um bei der Überstellung der überlebenden Terroristen in die Hauptstadt Amman zu helfen.

Kamal nahm zwei Sitze in Beschlag und bettete Francesca in seinen Schoß. Sie war nach wie vor bewusstlos und atmete flach. Ihr Gesicht war erschreckend blass. Dieses schutzlose, verletzliche Wesen war dem Hass und der Willkür ausgesetzt gewesen. Er hatte sie dem ausgesetzt. Ohnmächtige Wut übermannte ihn, und er hätte seinen Bruder Saud auf langsame, schmerzhafte Weise umgebracht, wenn er ihn vor sich gehabt hätte.

Sie hatten sie geschlagen und gefoltert, man konnte es an den Blutergüssen in ihrem Gesicht sehen, den von den Stricken aufgeschürften Handgelenken und dem getrockneten Blut auf den rissigen Lippen. Er konnte nicht aufhören, sie anzusehen, obwohl er Angst hatte, weitere Anzeichen von Misshandlung an ihr zu entdecken. Ihre Wangen wurden immer bleicher, die violetten Ringe um ihre Augen färbten sich schwarz, und ihre Gesichtszüge waren eingefallen wie bei einer Toten. Das Atmen kostete sie übermenschliche Anstrengung; dieses Röcheln machte ihn schier wahnsinnig. Er nahm ihre Hand und drückte sie an seine Lippen.

»Komm schon, Kamal, trink einen Kaffee, der wird dir guttun«, schlug Jacques vor und reichte ihm eine Tasse.

»Ich bekomme nichts runter.«

»Gib jetzt nicht auf. Sie wird sich bald erholen, du wirst schon sehen.«

»Ich mache mir große Sorgen, mein Freund. Francesca atmet immer flacher. Und sie ist so blass, sie sieht aus wie tot«, sagte er, und seine Stimme zitterte.

Francesca wälzte sich unruhig in Kamals Schoß. Sie wimmerte leise und öffnete dann die Augen.

»Liebling«, flüsterte Kamal und küsste sie auf die Stirn.

Francesca lächelte, und ihre rissigen Lippen sprangen auf. Sie versuchte seinen Namen zu sagen, brachte aber nur einen rauen, unverständlichen Laut heraus.

»Pscht … Nicht sprechen, du darfst dich nicht anstrengen«, bat Kamal.

»Wasser«, hauchte sie.

»Holt Wasser, schnell!«

Kamal hielt ihr das Glas an die Lippen, und sie trank, bis ihr das Wasser aus den Mundwinkeln lief. Sie trank so viel, bis sie schließlich würgen musste und sich erbrach. Vor Scham begann sie zu weinen. Kamal wischte ihr liebevoll den Mund ab und gab ihr erneut zu trinken. Diesmal schmeckte das Wasser nach Wasser und nicht nach Galle. Francesca trank ein paar Schluck, die ihr deutlich machten, dass sie drei lange Tage nichts zu sich genommen hatte. Die Übelkeit kehrte zurück, und ihr Bauch wurde wieder hart.

Es war schwer, sich zu beherrschen, wenn man sie so leiden sah. Kamal wusste nicht, was er tun oder sagen sollte und was er ihr geben konnte, um ihre Schmerzen zu lindern. Diese Situation brachte ihn um den Verstand. Er hatte das schreckliche Gefühl, dass Francesca den Kontakt zur Welt verlor, dass sie seinen Händen entglitt. Er redete mit ihr, versuchte sie wach zu halten, tat alles, damit sie zu sich kam. Aber das Mädchen schloss die Augen und verlor erneut das Bewusstsein.

Über Funk bestellte er einen Krankenwagen an die Landebahn in Riad. Dr. al-Zaki teilte ihm mit, dass in seiner Klinik alles bereit sei, um Francesca aufzunehmen. Kamal konnte nichts weiter tun, als zu beten, dass sie den anderthalbstündigen Flug überstehen würde.

Als sie schließlich in Riad landeten, atmete Francesca noch. Kamal trug das bewusstlose, schlaffe Bündel auf seinen Armen die Gangway hinunter. Abenabó und Kader warteten mit laufendem Motor im Rolls-Royce, um sie zur Klinik zu eskortieren. Jacques wechselte ein paar Worte mit dem Piloten und hastete dann zum Auto, aufgeschreckt von der blutroten Spur, die Kamal auf der Landebahn hinterlassen hatte. Der Prinz war verletzt und hatte nichts davon gesagt.

»Du bist verwundet!«, sagte der Franzose und hielt ihn am Arm zurück.

Entsetzt betrachtete er den Blutfleck, der sich auf der sandfarbenen Hose des Prinzen ausbreitete, und deutete darauf. Aber Kamal wusste sofort, dass das Blut nicht von ihm stammte. Francescas Nachthemd war in Höhe der Oberschenkel blutgetränkt.

»Es ist Francesca«, sagte er verzweifelt.

***

Kamal verschwendete keinen Gedanken an sich; nur unter gutem Zureden hatte man seinen Arm schienen und ihm ein Schmerzmittel verabreichen können. Für ihn zählte nur Francesca. Unruhig lief er im Flur von al-Zakis Klinik auf und ab und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Jacques hatte aufgegeben, ihn zu beruhigen. Mauricio, der vor einer halben Stunde eingetroffen war, war nicht nach Reden zumute. Francesca schwebte in Lebensgefahr. »Sie hat viel Blut verloren«, hatte eine Krankenschwester gesagt, als sie aus dem Operationssaal kam.

Auch Abdullah al-Saud und Fadila trafen ein, nachdem sie erfahren hatten, was passiert war. Kamal umarmte seine Mutter und zog sich dann mit seinem Onkel in einen Privatraum zurück.

»Ich will strengste Sicherheitsmaßnahmen in der Klinik«, forderte Kamal, und Abdullah nickte.

»Ich werde eine Bewachung für das Mädchen abstellen«, versicherte er, »und wir isolieren sie in diesem Teil der Klinik.«

»Ich will deine besten Männer, Tag und Nacht.«

Abdullah deutete auf ein Sofa, und sie setzten sich. Während sie sich über die weiteren Schritte unterhielten, beruhigte sich Kamal ein wenig.

»Alles, was Abdel uns erzählt hat, stimmte«, erklärte Kamal. »Mein Bruder Saud und Tariki haben sich mit einem Kriminellen wie Abu Bakr eingelassen, um mich zu beseitigen.«

Diese Worte bedrückten Abdullah sehr. Jetzt, da er hier saß und in Ruhe nachdenken konnte, wurde ihm bewusst, wie groß das Problem war, mit dem sie es zu tun hatten. Er fragte sich, wie sie aus dieser verfahrenen Situation herauskommen und die Ehre Saudi-Arabiens und der Familie retten sollten, nachdem sich der König wie ein Mafioso benommen hatte.

Jacques erschien in der Tür und teilte ihnen mit, dass Dr. al-Zaki den Operationssaal verlassen habe.

»Die Patientin war seit einigen Wochen schwanger«, teilte al-Zaki mit. »Es tut mir leid, Ihnen mitteilen zu müssen, dass die Schwangerschaft beendet wurde. Als sie hier eintraf, war nichts mehr zu machen. So wie es aussieht, wurde sie in den Unterleib geschlagen. Sehr wahrscheinlich war das der Grund für die Fehlgeburt. Der Abgang des Fötus hat eine starke Blutung ausgelöst, die in ihrem geschwächten Zustand besorgniserregend ist. Wir mussten eine Ausschabung vornehmen, um eine Sepsis zu verhindern.«

»Sepsis?«, fragte Mauricio.

»Eine schwere Infektion, hervorgerufen durch Krankheitskeime. Wenn die Infektion in den Blutkreislauf gelangt, ist sie nicht mehr zu beherrschen, und wir können nichts mehr tun. Wir geben ihr starke Antibiotika. Wenn das Fieber in den nächsten vierundzwanzig Stunden sinkt, wissen wir, dass die Gefahr überwunden ist.«

Kamal sah Dr. al-Zaki sprachlos an. Er konnte nicht glauben, was er da hörte. Wie war es möglich, dass seine geliebte Francesca nach wie vor in Gefahr war? Er schloss die Augen und atmete tief durch, um die Wut und die Tränen zu unterdrücken, die in ihm aufstiegen. Doch als ihm in diesem Aufruhr der Gefühle bewusst wurde, dass sein Kind, das ihm die Frau schenken sollte, die er über alles auf der Welt liebte, nie geboren werden würde, schlug er mit der Faust gegen die Wand. Er war wie von Sinnen bei dem Gedanken, dass man sie gefoltert hatte, sie, der niemand auch nur ein Haar krümmen durfte!

Jacques und Abdullah gelang es, ihn zu beruhigen und dazu zu bewegen, sich zu setzen. Fadila sank zu seinen Füßen nieder und weinte bitterlich. Jacques fasste sie bei den Schultern und sprach ihr Trost zu. Kamal hingegen war in seinem eigenen Schmerz gefangen.

»Wie soll ich ihr das beibringen?«, brach es aus ihm heraus. »Sie war so glücklich über das Kind.«

Er hatte Angst, eine neue, bedrückende Erfahrung, die ihn zutiefst ratlos machte. Er fragte sich, woher er die Kraft nehmen sollte, Francesca ins Gesicht zu sehen, und wie er ihre Reaktion aushalten sollte. Er hatte Angst vor ihren Tränen, Angst, sie leiden zu sehen, Angst vor den Vorwürfen, Angst, sie könnte ihn hassen und ihm die Schuld geben. Er hatte Angst, sie zu verlieren. Fadila nahm sein Gesicht in ihre Hände und küsste ihn auf die Stirn.

»Es ist meine Schuld«, flüsterte Kamal.

»Du trägst keinerlei Schuld, mein Sohn.«

»Doch, es ist alles meine Schuld. Ihr habt mich gewarnt, dass ich ihr schade, wenn ich sie an mich binde. Aber ich wollte nicht auf euch hören.«

»Du liebst sie zu sehr«, rechtfertigte ihn seine Mutter.

»So sehr, dass ich mein Leben geben würde, um ihr diesen Schmerz zu ersparen.«

***

Als Kamal aufwachte, dauerte es eine Zeitlang, bis er begriff, wo er sich befand. Er war noch in der Klinik und auf der Couch im Wartezimmer eingeschlafen. Auf dem stillen, nur schwach beleuchteten Gang sah er Abdullahs Männer vor Francescas Zimmer Wache stehen. Sie grüßten ihn mit einem Kopfnicken und ließen ihn passieren. Leise betrat er das Zimmer. Die Krankenschwester war auf einem Stuhl eingeschlafen. Er bemühte sich, keinen Lärm zu machen, als er zu Francesca ging. Er wollte einen Moment für sich, ohne Zeugen und gute Ratschläge.

Lange stand er neben dem Bett und sah sie an. Schließlich kniete er sich neben sie und nahm ihre Hand.

»Wie konnte ich zulassen, dass man dir das antut, mein Liebling?«, flüsterte er. »Vergib mir. Ich hätte dich niemals allein lassen dürfen. Vergib mir. Vergib mir.«

Seine Worte erstickten in Schluchzen, und Tränen tropften auf Francescas Hand. Es fiel ihm schwer, wieder hochzublicken, aus Angst, die Beweise der Folter zu sehen. Francesca hatte einen nicht sehr tiefen Schnitt am Kiefer und einen weiteren am Hals, die ihr Kalim zugefügt hatte. Ihre ausgetrockneten, rissigen Lippen waren ein Hinweis auf die Dehydrierung, von der al-Zaki gesprochen hatte. Er nahm es als Strafe, ganz genau hinzusehen, und mit jeder neuen Narbe und jedem neuen Bluterguss, die er entdeckte, mischten sich Wut und Zorn unter das Gefühl der Schuld.

Francesca stöhnte vor Schmerz laut auf. Kamal hoffte vergeblich, dass sie die Augen aufschlug. Das Stöhnen verstummte, und Francesca lag wieder genauso still da wie am Anfang. Sie atmete ruhig und regelmäßig. Aber als er seine Lippen auf ihre Stirn drückte, war Kamal beunruhigt, weil sie nach wie vor fieberte. Er dachte an das Baby, und die Bilder von dem, was hätte sein können, stürmten auf ihn ein.

»Allah, hab Erbarmen und lass diesen bitteren Kelch an mir vorübergehen!«

Er stand auf und verließ das Zimmer. Die Wachposten sahen ihm erschrocken hinterher, als er wie von Sinnen aus der Klinik stürmte, in seinen Jaguar stieg und davonraste.

Vor lauter Tränen konnte er kaum etwas sehen. Die Angst ließ ihn keinen klaren Gedanken fassen. Er war am Ende. Vor der ältesten Moschee von Riad hielt er den Wagen an. Das Quietschen der Bremsen hallte in der menschenleeren Straße wider. Die Hände auf dem Lenkrad, starrte er auf das alte Gebäude. Dann ging er hinein. Es war schon halb fünf vorbei, bald würde das erste Gebet beginnen. Er zog am Eingang die Schuhe aus und betrat den großen Saal.

»Vergib mir, Allah, großer und allmächtiger Gott, vergib mir!«, betete er inbrünstig. »Ich büße für meine Schuld. Mein Gewissen quält mich, und mein Kind ist tot. Vergib mir, ich hätte diese Frau nicht ansehen dürfen. Ich weiß, dass ich nun für meinen Fehler bezahle. Aber hab Erbarmen mit ihr, sie trifft keine Schuld. Hab Erbarmen, Allah, in deiner unendlichen Güte, und rette sie, ich flehe dich an.«

Er sank auf den Teppich, die Arme ausgestreckt, und begann bitterlich zu weinen. So blieb er liegen, bis ihn eine halbe Stunde später die monotone Stimme des Muezzins in die Realität zurückholte. »Gott ist groß, es gibt keinen Gott außer Allah, und Mohammed ist sein Prophet. Kommt zum Gebet.« Die Moschee füllte sich mit Männern, die ihre Sandalen ablegten, sich wuschen und in Reihen auf dem Teppich Platz nahmen, das Gesicht gen Mekka gerichtet. Wie aus einem Munde wiederholten sie die Gebete, neigten sich auf den Knien zur Erde, während der Vorbeter die Suren des Korans rezitierte.

Eine halbe Stunde später verließen sie das Gotteshaus genauso still und leise, wie sie gekommen waren. Kamal folgte der Menge, zog die Schuhe an und stieg ins Auto. Er beschloss, zu Hause vorbeizufahren, bevor er wieder in die Klinik fuhr. Er hatte sich seit Tagen weder gewaschen noch etwas Vernünftiges gegessen; außerdem fühlte er sich schrecklich schwach auf den Beinen. Als er in seine Wohnung kam, ließ er sich ein Bad bereiten. Beim ersten Kontakt mit dem heißen Wasser verkrampften seine Muskeln, doch dann entspannte er sich. Er zog frische Kleider an und trank eine Tasse starken schwarzen Kaffee, wie er ihn mochte. Doch obwohl süßes Gebäck und Konfitüre bereitstanden, aß er keinen Bissen.

Als er in der Klinik ankam, war Francesca bei Bewusstsein. Ihre Haut war frisch und ihr Puls regelmäßig, aber sie war sehr schwach und ein bisschen durcheinander. Als er ins Zimmer kam, waren Dr. al-Zaki und zwei Krankenschwestern gerade dabei, sie zu untersuchen. Der Arzt leuchtete in ihre Pupillen, eine Schwester maß den Blutdruck, die andere wechselte den Tropf. Fadila stand schweigend neben Mauricio und Jacques.

»Ich habe Durst«, murmelte Francesca.

»Wir können Ihnen kein Wasser geben, Mademoiselle«, sagte al-Zaki. »Sie bekommen eine intravenöse Lösung. Schwester, tauchen sie ein Stück Gaze in kaltes Wasser und befeuchten Sie ihr die Lippen.«

»Ich mache das«, erklärte Kamal und nahm der Schwester die Gaze ab. »Hallo, Liebling. Wie fühlst du dich?«

»Ein bisschen schwach«, murmelte sie.

Kamal befeuchtete ihre Lippen mit der Gaze und küsste sie dann. Sie schloss die Augen und atmete den Moschusduft ein, den sie so sehr liebte. Endlich war der Albtraum zu Ende.

»Und das Baby?«, fragte sie dann plötzlich und sah den Arzt an.

An Kamals Reaktion, der auf einmal ganz ernst wurde und ein wenig zurückwich, merkte sie, dass etwas nicht stimmte.

»Und mein Baby?«, fragte sie noch einmal unsicher.

Der Arzt trat ans Bett und erklärte ihr ganz direkt, dass sie aufgrund der Schläge, die sie erhalten habe, und wegen ihres schlechten Allgemeinzustands eine Fehlgeburt erlitten habe. Francesca wandte das Gesicht ab, krümmte sich zusammen und begann zu weinen. Fadila umklammerte Jacques’ Arm, der die Tränen nicht zurückhalten konnte. Mauricio verließ eilig das Zimmer.

Kamal nahm sie in den Arm und vergrub das Gesicht in ihrem Haar. Er flüsterte ihr tröstende Worte zu, die sie nicht hörte. Wie von Sinnen wiederholte sie immer wieder, dass man ihr Baby umgebracht habe, dass sie es nicht hatte schützen können, als sie geschlagen wurde, dass sie es umgebracht hatten. Auf eine leise Anweisung von al-Zaki spritzte die Schwester ihr eine starke Dosis Valium. Francesca begann auf Spanisch vor sich hin zu murmeln. Sie sprach von ihrer Mutter und von Fredo, und jeder zusammenhanglose Satz traf al-Saud tief ins Herz. Er nahm ihre Hand, küsste sie und streichelte ihr über die Stirn.

Minuten später war Francesca eingeschlafen. Es war ein unruhiger Schlaf, in dem sie wie in den Höhlen von Petra voller Angst Kamals Namen rief, und obwohl Kamal immer wieder sagte: »Ich bin da, Liebling, ich bin bei dir«, hörte sie nicht auf, nach ihm zu rufen.

***

Eine Woche später wurde sie entlassen, doch Dr. al-Zaki verordnete ihr strenge Bettruhe, Schonkost und Erholung. Während ihres Klinikaufenthalts hatte Francesca sich wieder gefasst. Man ließ sie nie allein, und alle bemühten sich, sie mit harmlosem Geplauder abzulenken. Das Wiedersehen mit Sara, die im Wechsel mit Kasem die Nächte in der Klinik verbrachte, hatte sie sehr berührt.

Niemand erwähnte die Entführung, aber sie wollte mehr erfahren und fragte nach. Man versicherte ihr, dass keiner ihrer Häscher auf freiem Fuß sei, doch es beunruhigte sie, dass sie weiterhin von Abenabó und Kader bewacht wurde. Kamal knurrte nur, wenn sie ihn darauf ansprach, und wurde noch wortkarger als sonst. Er legte ein sonderbares Verhalten an den Tag, das ihr Angst machte. Da war etwas in seinem Blick, das sie nicht von ihm kannte. Trauer vielleicht? Ja, Trauer und Schmerz; schließlich hatte auch er sein Kind verloren. An einem der wenigen Abende, die sie für sich allein hatten, hatte Francesca ihn schließlich gefragt, warum er so schweigsam und in sich gekehrt sei.

»Ich kann nicht mit der Schuld leben«, hatte er gesagt.

Jacques Méchin klopfte an der Tür und gab Bescheid, dass al-Zaki soeben die Entlassungspapiere unterzeichnet habe. Als Francesca die Klinik verließ, wurde sie von zwei Wagen mit bis an die Zähne bewaffneten Leibwächtern eskortiert. Abdullah hatte seinem Neffen den besten Schutz für das Mädchen versprochen – unter der Bedingung, dass sie sofort das Land verließ, sobald sie wieder völlig hergestellt sei. Saud und sein Minister Tariki waren nach wie vor straffrei und auf freiem Fuß, und Kamal schwor sich, dass er nicht eher ruhen würde, bis sie verfemt und verachtet im Exil saßen, während man ihn selbst zum Herrscher proklamierte. Sobald sie aus der Politik verschwunden wären, könnte ihnen leicht etwas zustoßen. Fürs Erste hielt ihn diese Aussicht aufrecht.

Mit Ausnahme von Sara und Kasem kannte niemand von den Botschaftsangestellten die wahren Gründe für Francescas Verschwinden. Trotz der gedrückten Stimmung – die politische Lage in Argentinien war unsicher und verhieß nichts Gutes – veranstalteten sie eine kleine Willkommensfeier.

Nach allem, was sie erlebt hatte, war Francesca dankbar für die tägliche Routine in der Botschaft. Sie stürzte sich in Akten, Sitzungsprotokolle, Berichte und alles, was den Schmerz darüber betäubte, dass ihr Bauch nichts als eine leere Hülle war. Aber man ließ sie nicht viel machen, weil sie die meiste Zeit liegen musste. Die Stunden, die sie allein im Bett verbrachte, waren eine Qual für sie. Kamal kam sie jeden Tag besuchen und brachte ihr jedes Mal weiße Kamelien mit, die überall im Zimmer standen, aber auf Francesca wirkte er abweisend und kühl. Sie waren nur selten allein, und in diesen raren Momenten behauptete Kamal, dass es nur die Müdigkeit sei.

»Weshalb hast du in der Klinik zu mir gesagt, du könntest nicht mit der Schuld leben? Gibst du dir etwa die Schuld an der Entführung?«

Kamal verneinte und wechselte das Thema, und Francesca traute sich nicht, weiter in ihn zu dringen. Eines Abends kam Kamal in Begleitung seiner Mutter und seiner Schwester Fatima. Francesca wusste, dass Fatima an dem Morgen dabeigewesen war, als sie wieder zu sich gekommen war, aber sie hatte keine Erinnerung daran. Jetzt saßen sie sich nach so langer Zeit wieder gegenüber, in dem Wissen, dass die religiösen und kulturellen Unterschiede, die in Dschidda zwischen ihnen gestanden hatten, nach wie vor existierten. Fadila legte ihre abaya ab und sah sie lange an. Dann reichte sie ihr einen Olivenzweig, küsste sie auf die Stirn und schenkte ihr eine goldene, mit Rubinen besetzte Brosche, die ihrer Großmutter mütterlicherseits gehört hatte. Fatima, fröhlich wie immer, überschüttete sie mit Komplimenten und beteuerte, sie sei zwar ein bisschen dünn, aber nach wie vor die schönste Frau, die sie je gesehen habe. Sie bestellte ihr Grüße von den anderen Mädchen und überreichte ihr ein Taschentuch, das die kleine Yashira bestickt hatte. Dann tranken sie Tee und unterhielten sich wie alte Freundinnen. Fatima hielt sich nicht an die Anweisungen ihrer Mutter und löcherte Francesca mit Fragen über die westliche Lebensweise. Sie staunte angesichts der Vorstellung, ohne Schleier, ohne männliche Begleitung und mit unverhüllten Knöcheln auf die Straße zu gehen, Auto zu fahren und ganz allein mit einem Buch im Café zu sitzen. Dass die Frauen arbeiteten und ihr eigenes Geld verdienten, machte sie völlig fassungslos. Nach langer Zeit sah Francesca Kamal zum ersten Mal wieder lächeln.

Die nächtliche Stille machte ihr zu schaffen, denn dann kehrten das Gefühl der Einsamkeit und die Panik aus der Zelle in Petra zurück. Sie schlief unruhig und wachte bald atemlos und schweißgebadet wieder auf. Wenn doch nur Kamal neben ihr läge! Sie sehnte sich danach, sich in seine Arme zu schmiegen und ihren Kopf an seine Brust zu lehnen. Sie brauchte die Sicherheit seines Körpers, die Ruhe und die Freude, die sie nur bei ihm empfand. Sie fühlte sich fürchterlich einsam, auch wenn Kamal bei ihr war. Die Hochzeit hatte er nicht mehr angesprochen, und sie hatte nicht den geeigneten Moment gefunden, ihn danach zu fragen. Manchmal, wenn sich ihre Blicke begegneten, sah er verlegen weg. Sie war wütend auf sich, weil sie sich Sorgen machte, aber da war dieser seltsame Ausdruck in seinen Augen, der nicht wieder verschwunden war und mit jedem Tag stärker wurde.

Durch Saras Pflege und die Ruhe kam Francesca wieder zu Kräften. An einem sonnigen Nachmittag Ende April befand Dr. al-Zaki, der sie häufig in der Botschaft besuchte, dass sie völlig wiederhergestellt sei, und empfahl ihr lediglich, mit einer erneuten Schwangerschaft zwei Jahre zu warten. Francesca errötete und sah zu Kamal hinüber, doch der stand da und rauchte, den Blick auf die Landschaft draußen gerichtet.

Al-Zaki verabschiedete sich, und Sara begleitete ihn zur Tür. Francesca trat zu Kamal und sagte, dass sie einen Spaziergang durch den Park machen wolle. Ein kühler Wind strich über ihre Wangen, und sie dachte, dass der Schmerz bald vorüber sein würde. Kamal hielt ihre Hand, und das war alles, was zählte.

»Ich bin froh, dass al-Zaki deinen Gesundheitszustand so gut beurteilt«, sagte Kamal und deutete auf eine Bank in einigen Schritten Entfernung. »Setzen wir uns. Ich muss dir etwas sagen.«

Die vornehme Blässe von Francescas Gesicht, die ihre Augen und ihr Haar noch dunkler wirken ließ, erschien ihm unwiderstehlich. Sie war so wunderschön, und er hatte große Lust, sie zu küssen. ›Ich darf es nicht‹, sagte er sich und sah weg.

»Ich will, dass du Saudi-Arabien verlässt, jetzt, wo du wieder ganz gesund bist. Du bist hier nicht sicher. In spätestens zwei Tagen wirst du abreisen.« Und als Francesca ihn nur ansah, ohne etwas zu sagen, setzte er hinzu: »Du sollst mich vergessen und alles, was du meinetwegen erlebt hast. Irgendwann wirst du vielleicht an mich zurückdenken und mir verzeihen, was ich dir angetan habe.«

»Was redest du denn da, Kamal? Du machst mir Angst. Hast du den Verstand verloren?«

»Ja, und zwar seit dem Abend, als ich dich kennengelernt habe und deine Schönheit mir den Kopf verdreht hat. Seit jenem Tag hat die Unvernunft mich beherrscht und mein ganzes Handeln bestimmt, und ich habe einen Fehler nach dem anderen gemacht. Ich erinnere mich noch an den Tag auf meinem Anwesen in Dschidda, als Sadun mir sagte, dass Mauricio und du angekommen wärt. Mir war bewusst, dass deine Anwesenheit in meinem Haus eine gefährliche Linie überschritt, von der es kein Zurück mehr gab. Als ich dir später zusah, wie du schliefst, fand in meinem Inneren ein heftiger Widerstreit zwischen meinen Gefühlen und meinem Verstand statt. Dann hast du die Augen geöffnet, hast etwas gemurmelt und bist wieder eingeschlafen, und das genügte, um die Stimme des Verstands zum Schweigen zu bringen und ein weiteres Mal deinem Zauber zu erliegen, der eine solche Macht über mich ausübt.«

»Ich erinnere mich vage. Ich dachte, es wäre ein Traum gewesen.«

»Du bist eine starke Frau, und ich bin sicher, dass du den Albtraum der Entführung und alles andere vergessen wirst. Ich möchte, dass du dein altes Leben wieder aufnimmst und über das Erlebte hinwegkommst«, sagte er, und es klang wie ein Befehl.

Francesca sah ihn fassungslos an. Sie begriff, dass Kamal sie wegschickte, aber sie weigerte sich, es zu akzeptieren.

»Wir gehen zusammen, oder?«

»Nein. Du fährst alleine, und wir werden uns nie wiedersehen.«

»Und unsere Hochzeit? Unsere Pläne?«

»Du bist jung, die ganze Zukunft liegt noch vor dir. Du brauchst mich nicht, um glücklich zu sein. Im Gegenteil, mit mir würdest du unglücklich, und das könnte ich nicht ertragen. Ich habe dir schon zu sehr wehgetan. Unsere Wege müssen sich trennen.«

»Niemals!«, entgegnete Francesca und sprang auf. »Ich will nicht ohne dich leben. Du hast mir nicht wehgetan, sondern mich glücklich gemacht. Du sagst das nur, weil du dir die Schuld an der Entführung und der Sache mit dem Baby gibst. Du bist ungerecht und hart zu dir selbst.«

»Ich kann gar nicht hart genug mit mir sein! Unser Kind ist durch meinen Egoismus, meinen Starrsinn und meine Verblendung gestorben, und beinahe wärst auch du gestorben – nicht zu sprechen von dem, was dir deine Entführer angetan haben. Glaubst du, es sei leicht für mich, mit dieser Schuld zu leben, die mich fast auffrisst? Ich muss dich fortschicken. Du musst weggehen! Wir werden uns nie wiedersehen«, sagte er erneut und wandte sich um.

Francesca hielt ihn zurück, schlang die Arme um ihn und sah ihn verzweifelt an. Kamal drückte sie fest und küsste sie mehrmals aufs Haar. Er war am Boden zerstört.

»Komm schon, Francesca«, sagte er und schob sie von sich, »du wirst sehen, es ist besser so. Irgendwann wirst du mir dankbar sein, dass ich dich weggeschickt habe, und unsere gemeinsame Zeit wird dir in der Erinnerung wie eine verrückte, gedankenlose Liebelei vorkommen.«

»Wie kannst du unsere Liebe eine verrückte, gedankenlose Liebelei nennen? Ich liebe dich! Du bist alles für mich!«

»Nur Allah vermag deine Liebe zu begreifen, nach allem, was du meinetwegen erlitten hast. Wie kannst du sagen, dass du mich liebst, nachdem ich dich rücksichtslos aus deiner Welt gerissen und den Grausamkeiten meiner Welt ausgesetzt habe? Du warst schwach und verletzlich, und ich war nicht in der Lage, dich zu beschützen. Nein, Francesca, ich will nicht mit dem Gedanken leben, dass ich mit jeder Sekunde, die ich dich hier zurückhalte, dein Leben in Gefahr bringe!«

»Und ich sage dir, dass ich lieber sterbe, als mich von dir zu trennen! Ich werde so oder so sterben, aus Liebe zu dir.«

»Niemand stirbt aus Liebe«, sagte Kamal, aber in seiner Stimme schwang Zweifel mit.

»Wie kannst du so etwas zu mir sagen? Du bist grausam!«

Francesca schlug die Hände vors Gesicht und begann bitterlich zu weinen. Kamal wollte gehen, aber er hatte nicht die Kraft, sie in diesem Zustand zurückzulassen. Er drückte sie erneut an seine Brust, wohl wissend, dass seine Entscheidung am seidenen Faden hing. Ein einziger Kuss würde genügen, um seine Meinung zu ändern. Er löste sich von ihr und reichte ihr ein Taschentuch.

»Liebst du mich denn nicht mehr?«, wollte Francesca wissen. Er schwieg. »Und wenn du deine Liebe tausendmal leugnen würdest, Kamal al-Saud, ich würde dir nicht glauben. Deine Augen verraten dich. Was sie mir heute sagen, ist das genaue Gegenteil von dem, was deine Worte mir weismachen wollen.«

»Ich werde meine Meinung nicht ändern. In zwei Tagen reist du ab.«

»Du bist herzlos und stur. Vielleicht gibt es ja doch etwas, das du mehr liebst als alles andere: Saudi-Arabien. Dein Volk ist der Grund, warum du mich verlässt. Du weißt, dass deine Familie niemals einen König akzeptieren wird, der mit einer Frau aus dem Westen verheiratet ist – einer Ungläubigen!, denn nichts anderes bin ich für sie –, und du bist bereit, mich zu opfern, wenn du damit deine Herrschaft sichern kannst.«

»Sei still! Du weißt ja nicht, was du da sagst. Du bist ungerecht, und deine Worte verletzen mich zutiefst. Ja, ich schicke dich fort, und nur ich weiß, wie schwer mir das fällt. Ich will dir nicht weiter wehtun und irgendwie wiedergutmachen, was ich dir angetan habe. Ich weiß nicht, welcher Teufel mich an jenem Abend geritten hat, als ich beschloss, dich aus deiner Welt zu reißen und dich zu zwingen, in meiner zu leben. Wie kannst du glauben, dass du an der Seite eines Arabers leben könntest, mit völlig anderen Sitten und Gebräuchen, ohne die Freiheit, an die du gewöhnt bist? Denn nichts anderes bin ich, Francesca: ein Araber. Jetzt redest du so, aber der Tag wird kommen, an dem du mich hasst, und das könnte ich nicht ertragen. Es würde mich umbringen.«

Kamal ging und ließ sie mit einer Leere zurück, in der nur das Knirschen seiner Schritte auf dem Kies zu hören war. Er ging, sie hatte ihn verloren, sie hatte ihn nicht zurückhalten können. Francesca kannte ihn gut genug, um zu wissen, dass es endgültig war. Zwischen ihnen war alles aus, und nichts würde Kamals Meinung ändern. Merkte er denn nicht, dass er sie mit diesem Entschluss umbrachte? Sie ließ sich auf die Bank sinken. Dort saß sie, den Blick in die Kronen der Palmen gerichtet, bis sich die Nacht über den Park senkte und ein Wachmann sie bat, ins Haus zu gehen. Mit müden Schritten ging sie auf ihr Zimmer, schloss die Tür hinter sich und blickte sich um, ohne zu wissen, was sie tun sollte. Die Perlenkette, die Kamal ihr an jenem fernen, glücklichen Abend geschenkt hatte, lag in ihrem Kästchen. Sie nahm sie in die Hand und betrachtete sie lange, während so viele schöne Erinnerungen auf sie einstürmten. Wütend zerrte sie an der Kette, bis sie zerriss und die Perlen über den Parkettboden rollten und sich im ganzen Zimmer verteilten.

»Perlen bringen Tränen!«, schluchzte sie.

Sara fand sie auf dem Boden kauernd, den Rücken an die Wand gelehnt. Sie sammelte die Perlen ein und half ihr, aufzustehen. Francesca ließ sich willenlos ausziehen und das Nachthemd überstreifen. Saras Dienstfertigkeit und ihre sanften Hände erinnerten sie an Zobeida und die Tage in der Oase von Scheich al-Kassib.

Francesca legte sich ins Bett, und Sara deckte sie zu. Sie dachte an ihre Mutter und wünschte, sie wäre bei ihr. Sie brauchte sie so sehr. Es wäre gut, nach Argentinien zurückzukehren. Nein, sagte sie sich dann, noch besser wäre es, die Augen zu schließen und nie mehr aufzuwachen.

***

Jacques Méchin wusste, dass er Kamal auf dem Anwesen in Dschidda finden würde. Kamal suchte immer dort Zuflucht, wenn er nachdenken wollte. Während er durch die Wüste zum Roten Meer fuhr, rief er sich das letzte Gespräch mit Kamal in Erinnerung.

»Ich werde sie verlassen, Jacques.«

»Warum? Liebst du sie nicht mehr?«

»Doch, das weißt du genau.«

»Warum dann?«

»Du hattest recht. An meiner Seite wäre sie in ständiger Lebensgefahr. Sie würde niemals glücklich werden, und ich hätte keine Ruhe mehr. Ich will Francesca nicht noch einmal in Gefahr bringen, auch wenn es ist, als risse man mir einen Arm ab. Außerdem ist bei dem, was die Zukunft für mich bereithält, kein Platz für Francesca.«

»Ehrlich gesagt bin ich mir gar nicht mehr sicher, ob es so klug ist, dich von dem Mädchen zu trennen, wie ich dir damals geraten habe. Die Rache macht dich blind. Der Verdacht, dass es Saud war, der das Komplott gegen Francesca geschmiedet hat, raubt dir schier den Verstand, und an die Stelle der Liebe, die du für sie empfindest, tritt der Hass auf deinen Bruder.«

»Du weißt genau, dass es nicht nur ein Verdacht ist. Saud und Tariki wollen mich loswerden. Sie haben ihr Spiel gespielt und versucht, mich auszuschalten. Jetzt bin ich an der Reihe, und du kannst dir sicher sein, dass ich den richtigen Spielzug machen werde. Es wird eine saubere Sache sein.«

»Und was bleibt dir, wenn du Saud vernichtet hast?«

»Das weiß ich nicht, und es interessiert mich auch nicht. Ich weiß nur, dass ich nicht in Frieden leben kann, bis ich ihn vernichtet habe. Es wird ein langsamer, qualvoller Tod sein – ich werde ihn nach und nach zerstückeln, wie er es mit mir versucht hat und mit dem, was ich am meisten liebe.«

Am frühen Nachmittag hielt Jacques vor dem Anwesen in Dschidda. Sadun empfing ihn, aufrichtig erfreut, ihn zu sehen.

»Herzlich willkommen, Monsieur Méchin! Der Herr Kamal wird glücklich sein, Sie zu sehen. Wissen Sie, ich mache mir Sorgen um den Herrn. Er sieht sehr schlecht aus. Er ist wortkarg und verschlossen wie immer, aber sein Herz ist traurig. Er isst praktisch nichts. Das Licht in seinem Zimmer brennt bis spät in die Nacht, und wenn er es dann endlich ausmacht, höre ich ihn bis zum Morgengrauen im Zimmer auf und ab gehen. Manchmal schaue ich aus meinem Fenster und sehe ihn im Garten stehen und rauchen, den Blick in den Himmel gerichtet. Er raucht viel, wo er doch immer ein mäßiger Raucher war. Sie werden es nicht glauben, aber er weigert sich, Besuch von seiner Mutter und den Mädchen zu empfangen. Und Sie wissen doch, wie gerne er sie immer um sich hatte! Tagsüber reitet er auf Pegasus aus, diesem verrückten Pferd, und bleibt stundenlang verschwunden. Manchmal mache ich mir Sorgen, wenn er erst nachts völlig erschöpft zurückkommt. Was ist nur mit meinem Herrn los, Monsieur Méchin? Wir dachten, wir würden ihn nach der Hochzeit mit der Argentinierin wiedersehen, aber kein Zeichen von ihr, und ich traue mich nicht, zu fragen.«

»Die Argentinierin ist in ihre Heimat zurückgekehrt, Sadun. Jetzt bring mich zu Kamal, ich muss ihn unbedingt sehen.«

Er fand ihn in seinem Arbeitszimmer, den Koran in der einen, seine masbaha in der anderen Hand. Als Kamal ihn in der Tür stehen sah, ging er ihm entgegen und umarmte ihn.

»Was machst du denn hier? Ich weiß doch, dass du Dschidda nicht magst.«

»Ich habe nichts mehr von dir gehört, seit du Riad vor zwei Wochen verlassen hast. Ich wollte dich sehen. Ich habe dich vermisst.«

Die aufrichtige Antwort des sonst so zurückhaltenden Franzosen klang sonderbar in Kamals Ohren, und er lächelte.

»Du bist gefühlsduselig geworden«, sagte er und bat Sadun, etwas zu essen und zu trinken zu bringen.

Sie unterhielten sich über dies und das. Kamal war bemüht, sich von seiner witzigen Seite zu zeigen, aber Méchin kannte ihn zu gut, um nicht zu merken, wie aufgewühlt er war. Er wirkte eingefallen und hager, hatte sich seit Tagen nicht rasiert und brauchte einen neuen Haarschnitt.

»Eigentlich bin ich hergekommen, weil ich wissen will, wie es dir geht.«

Kamal ließ die Maske aufgesetzter Heiterkeit fallen und richtete seinen Blick auf Méchin, der trotz ihrer langjährigen Vertrautheit den Zorn des Prinzen fürchtete. Kamal wurde nicht wütend und wirkte auch nicht unangenehm berührt, aber er gab keine Antwort. Schließlich stand er auf, ging ein paar Schritte und fragte dann: »Hast du sie gesehen, bevor sie abgereist ist?«

»Warum willst du dich quälen? Was bringt es dir, von ihr zu hören? Du wirst nur noch mehr leiden.«

»Hast du sie gesehen?«, fragte Kamal noch einmal, ruhig, aber bestimmt.

»Ja.«

»Wie ging es ihr?«

»Sie war am Boden zerstört.«

Kamal, der Méchin den Rücken zuwandte, umklammerte sein Glas und schloss die Augen. Ein Schlag in die Magengrube hätte ihm nicht so wehgetan wie dieser Satz.

»Sie liebt dich aus tiefstem Herzen.«

»Weshalb sagst du das so vorwurfsvoll?«, erregte sich Kamal. »Hattest nicht du mir geraten, sie zu verlassen?«

»Vielleicht habe ich mich geirrt«, gestand Jacques ein und blickte zu Boden.

»Alle scheinen sich geirrt zu haben. Du, meine Mutter, mein Onkel Abdullah, das ganze saudische Volk, der Koran. Aber den größten Fehler habe ich gemacht, weil ich sie weggeschickt und zugelassen habe, dass man sich in mein Leben einmischt. Sie hat mir vertraut, sie hat sich mir hingegeben und viel durchgemacht meinetwegen, und ich habe sie verstoßen wie einen Gegenstand, den man nicht mehr haben will. Ich bin schuld, dass es ihr schlechtgeht, wo es doch in Wahrheit nichts Wichtigeres für mich gibt als sie.«

Méchin trat zu ihm und reichte ihm einen Umschlag. Kamal sah ihn überrascht an.

»Was ist das?«

»Ein Brief. Francesca hat mich gebeten, ihn dir zu geben, als ich sie das letzte Mal sah. Das war vor einer Woche, vor ihrem Rückflug nach Argentinien.«

Kamal wusste genau, dass Francesca vor einer Woche abgereist war. Sie hatte Saudi-Arabien und seiner Welt für immer den Rücken gekehrt und eine Leere in ihm hinterlassen, von der er nicht wusste, wie er damit zurechtkommen sollte. Francesca war gegangen, er würde sie nicht wiedersehen. Ohne sie hatte sein Leben keinen Sinn mehr, und weder seine Rache an Saud noch seine Zukunft als Herrscher konnten das wettmachen. Es wurde ganz still um ihn herum, und er hörte nicht, wie Jacques Méchin eine Entschuldigung murmelte und den Raum verließ. Erst später, als er in seinem Schlafzimmer allein war, traute er sich, den Umschlag zu öffnen.

Riad, der 10. Mai 1962

 

Mein geliebter Kamal,

ich weiß nicht, wie ich diesen Brief anfangen soll, denn mir kommt nichts anderes in den Sinn als: Ich liebe dich so sehr. Ich kann mich nicht damit abfinden, was gerade mit uns passiert, ich begreife nicht, wie unser beider Leben, von denen ich dachte, dass sie für immer miteinander verbunden seien, plötzlich unterschiedliche Richtungen nehmen. Ich kann es einfach nicht glauben.

Warum hast du mich verlassen, Kamal? Ich verstehe deine Entscheidung nicht. Du liebst mich noch, das weiß ich. Wenn ich morgens aufwache, versuche ich mir einzureden, dass alles nur ein böser Traum ist. Gleich wirst du durch die Tür kommen, mich anlächeln, wie nur du lächeln kannst, deine Augen werden vor Glück funkeln, und dann wirst du mich in deine Arme nehmen, um mich weit fortzubringen.

Du fehlst mir so sehr. Warum bestehst du auf dieser grausamen Folter? Ich sehne mich nach deinen Händen auf meiner Haut, deinem Mund auf meinem, nach den Vollmondnächten in der Wüste und unseren beiden Körpern im warmen Sand. Warum hast du mir das Paradies gezeigt, um mich jetzt in die finsterste Hölle zu stoßen?

Ich will ehrlich zu dir sein. Ich möchte nicht für mich behalten, was ich empfinde, und eines Tages bereuen, dir diese Dinge nicht gesagt zu haben. Ich frage mich, ob es mir gelingen wird. Ich war so glücklich mit dir, und es ist ein schrecklicher Gedanke, dass ich nie mehr glücklich sein werde. Warum sollte ich glauben, dich für immer verloren zu haben? Ich kann mich nicht damit abfinden, Kamal. Komm zu mir zurück. Du weißt, dass ich auf dich warte, mein ganzes Leben lang werde ich auf dich warten.

Bevor ich diesen Brief beende, möchte ich dir noch eines sagen: Wenn du mich von dir fernhältst, um mein Leben zu beschützen, wenn du es tust, weil du befürchtest, mir könnte wegen deiner Familie etwas Schlimmes zustoßen, dann sterbe ich lieber, als zu wissen, dass ich dich nie wiedersehen werde. Denn bis es so weit sein sollte, werde ich mit dir glücklich sein und nicht so am Boden zerstört wie jetzt. Lass mich selbst mein Schicksal wählen.

Ich liebe dich.

Dein für immer,

Francesca

 

P.S.: Ich möchte, dass du Rex behältst und jedes Mal, wenn du ihn siehst, an den Abend in der Oase zurückdenkst.

Kamal ließ sich aufs Bett fallen, den Brief auf der nackten Brust. Das Herz schlug ihm bis zum Hals, und heiße Tränen rannen über seine Wangen.

»Francesca …«, murmelte er. »Mein Liebling.«