2. Kapitel

In der nächsten Nacht ging Francesca trotz der Einwände ihrer Mutter erneut zum Schwimmbecken. Es war ein Nervenkitzel, den sie seit Kindertagen Jahr für Jahr wiederholte. Anfangs hatte sie es getan, um sich gegen Señora Celias Autorität aufzulehnen. Mittlerweile lockten sie der Zauber der Nacht und die Ruhe, die sie dabei fand. Bevor sie schwimmen ging, verbrachte sie einige Minuten damit, das silbern spiegelnde Mondlicht auf dem Wasser zu betrachten. Myriaden von Glühwürmchen schwebten in den Büschen, ein Schauspiel, das sie gut kannte und das sie stets aufs Neue faszinierte. Das ferne Quaken der Frösche vermischte sich mit den Schreien der Käuzchen. Auch die Kröten waren unterwegs und wagten sich bis in die Nähe des Schwimmbeckens vor. Francesca ekelte sich zwar vor ihnen, störte sie aber nicht, denn Don Cívico hatte ihr erklärt, wie nützlich sie bei der Schädlingsbekämpfung waren.

Das Wasser hatte sich im Laufe des heißen Tages angenehm erwärmt. Sie ging vom Flachen aus immer tiefer, um schließlich ganz unterzutauchen und sich mit geschlossenen Augen treiben zu lassen. Als sie wieder auftauchte, rauschte es in ihrem Kopf, und es dauerte ein paar Sekunden, bis sie die nächtlichen Geräusche wieder wahrnahm. Dann zog sie ihre Bahnen, wobei sie sich immer wieder auf den Rücken drehte, um den Himmel zu betrachten, der ihr wie eine riesige dunkle Kuppel erschien. Sie tauchte erneut quer durch den Pool, und als sie in der Nähe der Leiter wieder an die Oberfläche kam, entdeckte sie dort zwei Füße, die auf sie warteten. Sie sah an der Gestalt hoch, die dort stand, und blickte in die Augen von Señor Aldo. Außer Atem von der Anstrengung und mit rasendem Herzen brachte sie kein Wort heraus.

»Hallo«, sagte Aldo. Francesca konnte nicht erkennen, ob es sarkastisch oder freundlich gemeint war.

»Was wollen Sie hier?«, fragte sie. Die Frage klang unverschämter, als sie es beabsichtigt hatte.

»Das sollte ich dich fragen, findest du nicht?«

»Entschuldigen Sie«, sagte Francesca und stieg aus dem Pool.

Aldo sah ihr hinterher, als sie an ihm vorbeiging, um ihren Bademantel zu holen. Aus der Nähe sah sie noch schöner aus. Francesca zog sich an, schlüpfte in die Pantoffeln und wollte zum Park gehen. Aldo stellte sich ihr in den Weg, bevor sie die Treppe erreichte.

»Wo willst du denn hin?«, fragte er.

»Wissen Sie, Señor«, antwortete Francesca, »vielleicht entlässt Ihre Mutter ja jetzt meine Mutter und ich kann sie endlich mit zu mir nehmen.«

»Was redest du da?«

Die Falten auf Francescas Stirn verschwanden. Aldo lächelte sie an.

»Dachtest du, ich würde es meiner Mutter sagen? Da irrst du dich … Francesca – so heißt du doch, oder?«

»Ja, Francesca de Gecco.«

»Ich bin Aldo, Sofías Bruder.«

»Ich weiß.«

»Ja, natürlich.«

»Gute Nacht«, sagte Francesca und versuchte an ihm vorbeizuschlüpfen.

»Warte!«, rief er und fasste sie am Arm. »Warum gehst du?«

»Es war eine Dummheit, Señor. Ich verspreche, dass es nicht wieder vorkommt. Es ist wirklich nett von Ihnen, dass sie mich nicht bei Señora Celia verpetzen. Ich werde den Pool nicht mehr benutzen, ich verspreche es. Gute Nacht.« Sie versuchte, sich loszumachen, aber Aldo hielt sie fest.

»Du kannst den Pool jeden Abend nutzen. Es würde mich sogar freuen, wenn du herkämst. Du scheinst es sehr zu genießen. Ich habe dich beobachtet.«

»Machen Sie sich über mich lustig?«

»Nein! Wie kommst du denn darauf?«, fuhr Aldo auf, um dann, weniger heftig, hinzuzusetzen: »Ich frage mich, wie man dich bei mir zu Haus behandelt hat, dass du eine höfliche Einladung als Beleidigung auffasst.«

»Ich bin die Tochter der Köchin, Señor. Man behandelt mich so, wie es mir zusteht. Jetzt lassen Sie mich bitte gehen, meine Mutter wird sich Sorgen machen.«

»Kommst du morgen wieder?«

»Ich sagte es doch schon, nein.«

»Ich befehle es dir«, scherzte Aldo und musste grinsen, als er Francescas Gesicht sah. »Komm morgen wieder. Niemand wird es erfahren, und du kannst den Pool so lange nutzen, wie du willst. Ich verspreche es dir.«

Francesca spürte, wie der Druck an ihrem Arm nachließ. Aldo ließ ihr galant den Vortritt in den Park. Als sie in ihr Zimmer kam, wartete ihre besorgte Mutter auf sie und wollte ihr wieder einmal eine Standpauke wegen ihrer Waghalsigkeit halten.

»Wo warst du so lange?«, wollte sie wissen, kurz davor, die Beherrschung zu verlieren.

»Das Wasser war herrlich, und ich bin ein bisschen länger geschwommen, das ist alles«, log sie.

***

Am nächsten Tag konnte sie es kaum erwarten, wieder schwimmen zu gehen. Diesmal war es aber nicht wegen des warmen Wassers und der lauen Nacht. Obwohl sie versuchte, ihre Ungeduld zu bezähmen, hoffte sie, dass Aldo da sein würde.

Als sie ihrer Mutter dabei half, das Essen im Vorraum anzurichten, traute sie sich nicht, einen Blick ins Speisezimmer zu werfen. Aber sie lauschte den Stimmen und stellte fest, dass Aldo sehr einsilbig war. Danach spielte die Familie Canasta auf der Veranda und zog sich später als sonst zur Nachtruhe zurück. Als das letzte Licht im Haupthaus erlosch, ging Francesca zum Pool.

Aldo war schon dort und hatte sogar ein Bad genommen. Jetzt lag er auf den Steinplatten, die Hände hinterm Kopf verschränkt, und betrachtete den Himmel. Als er sie kommen hörte, sprang er auf und ging ihr entgegen, um sie mit einem Lächeln zu begrüßen.

»Der Gedanke, im Mondschein zu schwimmen, erschien mir verlockend«, sagte er, um das Eis zu brechen. »Stört es dich, dass ich hergekommen bin?«

»Aber Señor, was sagen Sie da? Es ist Ihr Pool.«

»Nenn mich nicht Señor, dann fühle ich mich so alt. Nenn mich Aldo.«

»Aber so darf ich Sie sicherlich nur nennen, wenn wir allein sind«, bemerkte Francesca und bereute die Spitze gleich wieder.

»Es tut mir leid, dass du so eine Abneigung gegen meine Familie hast. Ich weiß, meine Mutter kann sehr hart sein, wenn sie will.«

Dann sagten sie lange nichts mehr. Jeder saß für sich da, so als ob er alleine wäre, obwohl die Gegenwart des anderen ihn nervös machte. Schließlich brach Aldo das Schweigen. Er machte eine Bemerkung darüber, wie schön die Bäume seien, und Francesca nickte. Angesichts dieser knappen Antwort fühlte er sich bemüßigt, weiterzureden, und erklärte, dass diese Eukalyptusbäume vor fast hundert Jahren von dem ersten Besitzer von Arroyo Seco, einem gewissen Pedro de Ávila, gepflanzt worden seien. Aldo gestand ein, dass er nicht viel über die Geschichte seiner eigenen Estancia wusste. Daraufhin erzählte ihm Francesca, was sie von Don Cívico erfahren hatte.

Sie trafen sich Abend für Abend. Die verlegene Unsicherheit vom Anfang wandelte sich zu einer Vertrautheit, wie man sie sonst nur unter alten Freunden kannte. Die Gespräche zogen sich bis tief in die Nacht hinein. Keiner von beiden gab es offen zu, aber es fiel ihnen jedes Mal schwerer, sich zu trennen. Wenn es nach ihnen gegangen wäre, hätte die Nacht ewig dauern können – nur sie, der Pool und die Dunkelheit, die sie vor jenen verbarg, die ihre Freundschaft niemals gutheißen würden.

Francesca fiel auf, dass Aldo ein trauriger junger Mann war. Als sie sich ein Herz fasste und es ihm sagte, war er überrascht. Darüber habe er sich noch nie Gedanken gemacht, sagte er. Ja, er sei ein melancholischer Mensch und eher menschenscheu, das liege in der Familie. Aber traurig?

»Also, ich wäre auch traurig, wenn meine Mutter so wäre wie Ihre«, bemerkte Francesca, ohne dass es unverschämt klingen sollte.

Aldo war sprachlos. Statt sich zu verteidigen, stieß er ein kurzes Lachen aus, das Francesca als Missbilligung ihrer Bemerkung interpretierte. Doch dann räumte er ein, dass seine Mutter tatsächlich äußerst schroff und herablassend sei.

»Deine Mutter hingegen«, fuhr er fort, »ist eine wunderbare Frau. Das findet zumindest Sofía, die große Zuneigung für sie empfindet. Ich beneide dich um sie«, gab er schließlich zu.

»Ich liebe meine Mutter über alles, auch wenn sie streng und sehr direkt ist. Als sie Witwe wurde, war ich sechs Jahre alt. Sie war alleine in einem Land, das sie nicht kannte, und sprach kaum spanisch. Aber sie gab nicht auf und machte ihren Weg. Natürlich hatte sie Freunde, die ihr halfen. Pater Salvatore, den meine Mutter noch aus Sizilien kannte, besorgte ihr die Stellung hier im Haus. Vor allem aber mein Onkel Fredo. Er hat uns am meisten unterstützt.«

»Ein Bruder deines Vaters?«

»Nein. Eigentlich sind wir gar nicht verwandt. Meine Eltern und Onkel Fredo lernten sich auf dem Schiff kennen, mit dem sie aus Italien kamen. Sie wurden Freunde, und als ich zur Welt kam, wurde er mein Patenonkel. Nach meiner Mutter ist er der Mensch, den ich am meisten liebe.«

***

An diesem Abend tollten sie im Wasser herum wie kleine Kinder. Danach waren sie außer Atem und voller Lebensfreude, von einem bislang unbekannten Glücksgefühl erfüllt. Sie lachten über Nichtigkeiten, redeten unsinniges Zeug und wünschten im Stillen, die Zeit würde stillstehen. Für beide war der Morgen unerträglich geworden, der Auftakt für lange Stunden, die nicht vergehen wollten.

»Ich habe Hunger«, sagte Aldo und streckte sich neben Francesca aus. »Sofía hat mir erzählt, dass du genauso gut kochst wie deine Mutter. Lass uns in die Küche gehen und du machst uns was zu essen – was hältst du davon?«

Der Vorschlag überrumpelte sie. Am Pool, weit weg vom Haupthaus und hinter Büschen verborgen, waren sie vor der Außenwelt geschützt. Sie hatte ein mulmiges Gefühl bei dem Gedanken, diese Umgebung zu verlassen und sich auf verbotenes Terrain zu begeben.

»Was hast du?«, fragte Aldo zärtlich. »Wenn du keine Lust hast, gehen wir nicht.«

»Das ist es nicht. Wenn uns jemand sieht … Na ja, er könnte falsche Schlüsse ziehen.«

»Niemand wird uns sehen. Alle schlafen«, versicherte Aldo und reichte ihr die Hand. »Gehen wir.«

In der Küche wärmte Francesca das Abendessen auf und bereitete einen Salat aus Tomaten und Oliven, den sie mit Olivenöl, Oregano, schwarzem Pfeffer und Salz anmachte. Es machte sie nervös, dass Aldo sie so aufmerksam beobachtete, während sie alles zubereitete. Ohne aufzublicken, erledigte sie mechanisch ihre Handgriffe und tat geschäftig und konzentriert.

Aldo aß schweigend. Francesca brachte kaum zwei Stückchen Fleisch herunter. Stattdessen betrachtete sie den Mann, der ihr da gegenübersaß. Jung, gut aussehend, mit den Manieren eines Gentleman, blauen Augen und kurzem, dichtem blonden Haar. Was machte sie hier in der Küche mit dem Sohn des Gutsbesitzers? Und jede Nacht am Pool? Was erwartete sie sich davon? War sie verrückt geworden? Ja, sie war verrückt, verrückt vor Liebe zu Aldo. Aldo, Liebster, dachte sie und stand vom Tisch auf, damit ihre Augen sie nicht verrieten.

»Ich wasche das Geschirr ab. Nicht, dass meine Mutter Verdacht schöpft«, sagte sie und drehte ihm den Rücken zu.

»Warum? Hast du ihr nicht von unseren Treffen erzählt?«

»Sie würde es niemals gutheißen. Haben Sie etwa Ihrer Mutter davon erzählt?«

Aldo lachte leise auf. Er trank den letzten Schluck Wein aus, zündete sich eine Zigarette an und lehnte sich auf dem Stuhl zurück. Er rauchte langsam, sog den Geschmack des Tabaks auf, genoss die kühle, taufeuchte Luft, die durchs Fenster kam, und die schlichte Tatsache, hier zu sein. In einem plötzlichen Impuls stand er vom Tisch auf und schlang seine Arme um Francesca, die den Teller losließ, den sie gerade spülte. Er schob ihr Haar zur Seite und küsste sie auf den Nacken.

»Ich bin verrückt nach dir«, flüsterte er.

Francesca schloss die Augen und atmete tief durch, wie benommen von der zärtlichen Berührung, glücklich über das Geständnis. Ihr Körper, der schier überfloss vor bislang ungekannten Empfindungen, zwang sie, sich umzudrehen. Aldo zog sie an sich und küsste sie auf den Mund.

»Francesca, Liebling … Sag mir, dass du mich liebst«, bat er sie und vergrub sein Gesicht an ihrem Hals.

»Ja. Ja, ich liebe dich«, beteuerte sie, dann spürte sie erneut seine leidenschaftlichen Lippen auf den ihren.

***

Aldo brachte die fadenscheinigsten Ausreden vor, um den größten Teil des Tages abwesend zu sein. Abends schützte er Müdigkeit vor, um zu Bett gehen zu können, doch die Unruhe in seiner Stimme und in seinem ganzen Verhalten passte so gar nicht zu seiner angeblichen Erschöpfung.

Dolores vermutete, dass es eine andere gab. Aber wer sollte das sein, hier mitten auf dem Land? Die Tochter eines Landarbeiters vielleicht. In diesem Fall bräuchte sie sich keine Sorgen zu machen; er würde sie bald verlassen und zu ihr zurückkehren. Dennoch nagte der Verdacht an ihr, und sie vergoss nachts bittere Tränen. Schließlich hatte sie ihre Prinzipien und Überzeugungen beiseitegeschoben und sich ihm hingegeben, um auch seine niedersten Instinkte zu befriedigen. Warum suchte er bei einer anderen, was sie ihm schon gegeben hatte?

Während der Mittagsruhe sattelte Francesca Rex und wartete ein Stück hinter den Ställen auf Aldo. Gemeinsam – er saß auf seinem Fuchs – ritten sie zu traumhaften Plätzen, an denen sie in den Sommern zuvor nicht gewesen war. Die Nachmittage vergingen viel zu schnell, und in Erwartung der Nacht am Pool trennten sie sich nur widerstrebend, unter leidenschaftlichen Küssen und innigen Liebesschwüren.

Aldo hielt zum ersten Mal im Leben das Glück in den Händen. Vergessen waren die Jahre, in denen er unglücklich gewesen war, ohne es zu wissen. Die Gefühlskälte seiner Mutter, die Gleichgültigkeit seines Vaters, die Schulzeit am La Salle und die Heimatlosigkeit in Paris, das alles zählte nicht mehr. Jetzt gab es Francesca, die so wirklich war wie das Unglück, das er so lange mit sich herumgeschleppt hatte, ohne sich dessen bewusst zu sein. Nun hatte er die Aussicht, glücklich zu werden, das Leben hatte sich gnädig gezeigt und ihm noch eine Chance gegeben.

Francesca hingegen fragte sich, wie sie den Martínez Olazábals gegenübertreten sollte, wenn sie nicht einmal den Mut aufbrachte, ihrer Mutter oder Sofía davon zu erzählen. »Sie werden mich nie akzeptieren«, dachte sie mutlos, Aldos Begeisterung zum Trotz. Für Señora Celia würde sie immer die Tochter der Köchin bleiben. Da zählte nicht, dass sie eine ebenso gute Ausbildung hatte wie Sofía und Enriqueta, kulturell gebildet war, weil sie seit Jahren unermüdlich las, und sich zu benehmen wusste – alles, was sie sehr wohl zu schätzen wüssten, wenn ihre Herkunft eine andere wäre. Und Aldo? Was dachte er? Er schwor ihr tausendmal, dass er sie über alles liebe und nur sie für ihn zähle, aber vernünftig, wie sie war, blieben ihr Zweifel, insbesondere wegen der unübersehbaren Gegenwart der offiziellen Verlobten Dolores Sánchez Azúa. Aldo sprach nie von ihr, und Francesca hätte sich eher die Zunge abgebissen, als ihn nach ihr zu fragen. Sie vermutete zwar, dass er sie nicht liebte – zumindest nicht so wie sie –, aber sie fürchtete sich vor der Erkenntnis, dass am Ende Dolores die Señora Martínez Olazábal sein würde und sie selbst die weggeworfene Geliebte in dieser Geschichte.

***

An diesem Abend war Enriqueta noch aufgewühlter als sonst. Wieder einmal hatte sie eine höchst unerfreuliche Diskussion mit ihrer Mutter gehabt. Sie war im dunklen Salon geblieben, wo sie auf dem Sofa lag und sich ein Glas Whisky nach dem anderen eingoss.

Etwas lief schief, sie spürte es. Das Leben erschien ihr wie eine bleierne Last. Sie sah keinen Sinn darin. Was bewegte die Leute dazu, morgens aufzustehen? Eine Zeitlang hatte sie sich für die Idee begeistert, Kunst zu studieren. Aber ihre Mutter hatte das stets abgelehnt, ungerührt von ihrem hartnäckigen Bitten und ihren Wutanfällen, die Enriquetas letztes Mittel waren, wenn sie gar nicht mehr weiterkam. Sie trug sich mit dem Gedanken, von zu Hause wegzulaufen, ließ es dann aber bleiben, weil sie nicht den Mut dazu aufbrachte. Sie resignierte und fügte sich lieber in ihr Schicksal, statt ganz allein in einer Welt zu stehen, die sie nicht kannte und auf die niemand sie vorbereitet hatte.

Sie beneidete Francesca um ihre Freiheit und um ihren Mut. Von klein auf hatte sie alle mit ihrer ungezwungenen, aufgeweckten Art für sich eingenommen. Esteban Martínez Olazábal schenkte ihr sogar mehr Aufmerksamkeit als seinen eigenen Kindern, die Privatlehrerin, Miss Duffy, gab ihr Englischunterricht und nahm sie in Schutz, wenn sie etwas ausgefressen hatte, und Sofía empfand eine Zuneigung zu ihr, die auch mit den Jahren nicht nachgelassen hatte. Und dann war da noch Alfredo Visconti, der berühmte Onkel Fredo, in den Enriqueta heimlich verliebt war, seit sie ein junges Mädchen war. Ihre Abneigung gegen die Tochter der Köchin war nichts, worauf sie stolz war, denn man musste sich nichts vormachen: Sie wäre gerne so gewesen wie Francesca. Doch leider war sie das genaue Gegenteil von ihr.

Während sie weiter ihren Gedanken nachhing, schenkte sie sich immer wieder Whisky nach, der allmählich ihre Sinne vernebelte. Durch ein Fenster fiel Licht von der Veranda auf das Hochzeitsfoto ihrer Eltern. Stocksteif und ernst standen sie nebeneinander, ohne sich zu berühren. Sie wirkten wie entfernte Bekannte. Enriqueta lächelte gequält.

Plötzlich hörte sie ein Geräusch. Sie stellte die Flasche beiseite und richtete sich mühsam auf. Aldo? Was wollte er um diese Uhrzeit im Salon? Und was hielt er da in der Hand? Ein Badetuch? Sie blieb still sitzen – es war eine unangenehme Vorstellung, von ihrem Bruder beim Trinken erwischt zu werden. Die Familie wusste zwar um ihr Laster, aber niemand sprach darüber.

Aldo öffnete leise die Verandatür und trat nach draußen. Was wollte er im Garten? Er war doch vorhin erst von einem Spaziergang mit Dolores gekommen. Das Ganze kam ihr merkwürdig vor, und sie beschloss, ihm zu folgen. Als sie aufstand, merkte sie, dass der Alkohol zu wirken begonnen hatte, aber sie konnte sich noch auf den Beinen halten. Von der Veranda aus sah sie, wie ihr Bruder zwischen den Büschen in Richtung Schwimmbad verschwand. Warum ging er mitten in der Nacht zum Pool? Er war nie gerne geschwommen, nicht mal als Kind, sondern war lieber auf seinem Zimmer geblieben und hatte gelesen.

Enriqueta ging durch den Park zu der Treppe, die zum Pool führte. Als sie die letzte Stufe erreichte, musste sie sich am Geländer festhalten, so erschüttert war sie von dem, was sie sah: Aldo stand dort, engumschlungen mit Francesca, die er küsste und die den Kuss ebenso leidenschaftlich erwiderte. Der Whisky schien ihr die Sinne vernebelt zu haben. Sie halluzinierte, eine andere Erklärung gab es nicht. Sie rieb sich die Augen, aber die Szene war weiterhin klar und deutlich zu sehen. Francescas aufreizendes Lachen dröhnte ihr in den Ohren, und Aldos entflammter Blick passte so gar nicht zu dem Bild des scheuen und schweigsamen Jungen, das sie seit jeher von ihm hatte. Der letzte Martínez Olazábal war dem Zauber von Francesca de Gecco verfallen, der Tochter der Köchin!

Im ersten Moment war sie versucht, sich bemerkbar zu machen, doch dann kam ihr der boshafte Gedanke, die Angelegenheit in die Hände ihrer Mutter zu legen. Und so hielt sie den Mund und ging leise zum Haus zurück.

***

Als sie die tiefen Atemzüge ihrer Mutter hörte, verließ sie der Mut, und sie überlegte, sie lieber doch nicht zu wecken. Aber dann gab sie sich einen Ruck und rief nach ihr.

»Was ist los, Enriqueta?« Celias Stimme klang ungehalten, und das Mädchen trat einen Schritt zurück. »Du riechst nach Alkohol! Du bist ja betrunken! Geh!«

Enriquetas Blick verschwamm, aber sie wäre lieber gestorben, als vor ihrer Mutter zu weinen. Das hatte Celia ihr schon als Kind nicht gestattet, und erst recht nicht jetzt mit ihren vierundzwanzig Jahren.

»Ich muss Ihnen etwas Wichtiges sagen«, erklärte sie, und die Sicherheit ihrer eigenen Stimme machte ihr Mut. »Sie werden es nicht bereuen, mich anzuhören.«

»Hat das nicht Zeit bis morgen? Es ist halb fünf in der Nacht!«, murrte Celia mit einem Blick auf den Wecker.

»Es ist sehr wichtig«, betonte Enriqueta. Ihr verschwörerischer Ton weckte Celias Neugier.

»Dann erzähl endlich und lass mich weiterschlafen.«

Enriqueta schilderte haarklein, wie sie Aldo und Francesca am Pool beobachtet hatte. Bei einigen Details blickte sie mit gespielter Verlegenheit zu Boden und tat, als ob ihre Stimme versagte. Ihre Mutter drängte sie mit krankhafter Neugier, doch weiterzuerzählen.

»Und was machen wir jetzt, Mama?«, fragte sie, als sie mit ihrem Bericht zu Ende war.

»Du machst gar nichts«, stellte Celia klar. »Geh ins Bad und wasch dich, um diesen Whiskygestank loszuwerden, dann leg dich hin und schlaf ein bisschen. Du siehst aus wie ein Gespenst.«

»Aber Mama …«

»Und besser, du hältst den Mund über diese Angelegenheit. Wenn irgendjemand davon erfährt, bekommst du’s mit mir zu tun.«

Mit weinerlich verzerrtem Gesicht schlich Enriqueta aus dem Zimmer ihrer Mutter. Sie hatte auf ein freundliches Wort, ein Danke gehofft, und Celias Verachtung hatte sie tief verletzt. Als sie in ihrem Zimmer war, begann sie zu schluchzen.

Celia ließ Enriquetas Kummer kalt. Sie dachte über das nach, was sie soeben erfahren hatte. Ihre Pläne waren in Gefahr, und die hatten einen Namen: Dolores. Wenn Aldo ein Frauenheld gewesen wäre, hätte er gewusst, dass sein Interesse für die Tochter der Köchin bald erkalten würde. Aber da sie die sensible Art ihres Ältesten kannte, hielt sie es durchaus für möglich, dass er sich in so ein dahergelaufenes Ding verlieben und vergessen würde, was er seinem Namen schuldig war.

»Dieser dummer Junge! Geht wie ein Idiot diesem Miststück in die Fänge.«

Blinde Wut übermannte sie. Sie hätte Francesca am liebsten geschlagen, wenn sie vor ihr gestanden hätte.

***

»Francesca, steh auf«, befahl Antonina. »Los, aus den Federn mit dir«, versuchte sie es dann in sanfterem Ton.

Antonina wusste, dass ihre Tochter erst spät ins Bett gegangen war. Jede Nacht dauerten ihre Ausflüge länger. Andererseits, wer sollte sie um diese Uhrzeit schon sehen? Sie schien es so zu genießen: das Landleben, die Ausritte auf Rex, die Nächte am Pool. Sie sah sie liebevoll an. Francescas Lebensfreude hielt sie aufrecht und gab auch ihr selbst wieder Lust am Leben, was seit dem Tod ihres Mannes Vincenzo nicht selbstverständlich war.

»Willst du wohl endlich aufwachen?«

»Cosa c’è, mamma?«, fragte Francesca ungehalten, noch halb im Schlaf. »So früh!«, beschwerte sie sich dann mit einem Blick auf die Uhr.

»Señora Celia hat beschlossen, dass wir zwei nach Córdoba zurückfahren, jetzt gleich. Der Chauffeur wartet mit dem Wagen auf uns.«

Francesca setzte sich verwirrt auf die Bettkante.

»Wir sollen nach Córdoba zurück? Warum? Der Sommer ist noch nicht zu Ende.«

»Ich weiß es nicht, Francesca. Vor ein paar Minuten war die Señora hier, um es mir zu sagen. Soweit ich verstanden habe, fahren nur wir beide, der Rest der Familie bleibt hier. Paloma wird sich an meiner Stelle um die Küche kümmern.«

»Ich will hier nicht weg«, murrte Francesca, der die Konsequenzen dieser Entscheidung sofort klar waren. »Ich habe noch ein paar Tage Urlaub, bevor ich wieder zur Zeitung muss. Weshalb sollte ich zurückfahren?«

»Das hier ist kein Hotel, sondern die Arbeitsstelle deiner Mutter. Du bist hier, weil Señor Esteban es erlaubt, wenn du mir dafür in der Küche hilfst. Du bist alt genug, um das zu verstehen.«

Antonina mochte das Landleben, aber sie wollte auch in die Stadt zurück, um ihre Freunde wiederzusehen: Rosalía, Ponce, den Gärtner, und Félix, den Butler. Außerdem störte in letzter Zeit eine bohrende Sehnsucht ihre sonst so ruhigen und friedlichen Tage in Arroyo Seco, wenn sie an Fredo dachte.

Francesca zog sich murrend an und stopfte wütend ihre Kleider in den Koffer. Señora Celia hatte ein seltenes Talent, alles Schöne zu zerstören. Durch den überstürzten Aufbruch konnte sie sich nicht von Cívico und Jacinta verabschieden und würde erst nächstes Jahr wieder auf Rex ausreiten können. Die Wut wich einer Traurigkeit, die ihr die Tränen in die Augen trieb, als ihr klar wurde, dass sie Aldo wochenlang nicht sehen würde – im besten Fall, denn wenn er nach Buenos Aires zurückkehrte, ohne vorher in Córdoba vorbeizuschauen, stand in den Sternen, wann sie ihn wiedersehen würde.

Francesca setzte sich aufs Bett und biss die Zähne zusammen, um nicht zu weinen.