3. Kapitel

An diesem Januartag diktierte Alfredo Visconti seiner Sekretärin Nora einen Brief und sagte ihr dann, dass sie gehen könne. Die Frau warf ihm einen kurzen Blick zu, nahm die Notizen und verließ den Raum. Alfredo lehnte sich im Sessel zurück und legte die Füße auf den Schreibtisch. Er dachte an die Ereignisse im Land, die er bestens kannte und über die er seit so vielen Jahren berichtete. Als Herausgeber von »El Principal«, der auflagenstärksten Tageszeitung der Provinz Córdoba, kannte er seine Möglichkeiten, die über die reine Berichterstattung hinausgingen. Er war meinungsbildend und etablierte eigene Ansichten. In Journalistenkreisen – nicht nur in Córdoba, sondern auch in Buenos Aires und den umliegenden Provinzen – war Alfredo geachtet und bewundert, nicht nur wegen seiner Intelligenz und seinem Spürsinn, sondern auch wegen seiner wertvollen Kontakte, die sich schon oft als entscheidend erwiesen hatten. So etwa 1951, als er mehrmals bei »La Prensa« angerufen hatte, einer Zeitung in Buenos Aires, die dem Perón-Regime ausgesprochen kritisch gegenüberstand, um die Kollegen zu warnen, dass ihnen schlimme Repressalien drohten.

»Was redest du denn da, Fredo?«, hatte Gonzalo Paz, der Verleger, belustigt entgegnet.

»Seht euch vor«, hatte Alfredo ihm geraten. »Die Peronisten machen keine halben Sachen. Sie haben andere Gesetze, Gonzalo. Evita Perón hat euch im Visier und wird nicht eher Ruhe geben, bis ihr im wahrsten Sinne des Wortes zerschlagen seid. Ich weiß es aus sicherer Quelle, glaub mir.«

Einige Wochen später, Anfang März, brannte es in dem historischen Gebäude von »La Prensa« an der Avenida de Mayo, bis in den Keller voller Papier und anderer Materialien. Die traditionsreiche Zeitung der in Buenos Aires hochangesehenen Familie Paz, laut Evita Duarte der Inbegriff oligarchischer Vaterlandsverräter, wurde vollständig zerstört. Die Zeitung musste ihre Druckerpressen anhalten und ihre Pforten schließen. Einen Monat später verpasste ihr ein Gesetz, das ihre Enteignung beschloss, den Gnadenstoß.

Alfredo schwang mit dem Sessel herum und betrachtete das Ölgemälde, das hinter seinem Schreibtisch hing: die Villa Visconti im norditalienischen Aostatal, einen Steinwurf von Frankreich und der Schweiz entfernt. Mit dieser Villa verband er die schönsten Erinnerungen an seine Kindheit und Jugend. Die erhabene Landschaft bildete eine eindrucksvolle Kulisse für diesen Palazzo, der über Generationen den Viscontis gehört hatte, einer der ältesten Familien der Gegend. Meisterhaft hatte der Maler die majestätischen Alpen, den strahlendblauen Himmel und das satte Grün rund um sein Elternhaus auf die Leinwand gebannt.

Er seufzte. Die Art und Weise, wie sein Vater Giovanni Visconti alles verloren hatte, sogar die Ehre, war seine schmerzlichste Erinnerung, die er trotz der vielen Jahre, die seitdem vergangen waren, weder vergessen noch verzeihen konnte. Nach dem Tod seiner Frau, an die sich Alfredo kaum erinnerte, war Giovanni in seiner Verzweiflung zuerst dem Alkohol und später dem Spiel verfallen. Er verschwendete das Vermögen ohne Rücksicht auf seine Kinder oder seinen guten Namen. Die Freunde der Familie luden sie nicht mehr ein, sie wechselten die Straßenseite und sahen auf sie herab.

Ruiniert und moralisch zerstört, beging Giovanni Selbstmord. Seine Söhne Alfredo und Pietro, zwei verängstigte, unerfahrene junge Burschen, veräußerten, was noch an Besitz übrig war, und verließen die Stadt. In Genua schifften sie sich auf der Stella del Mare ein und ließen Italien erleichtert hinter sich. Alfredo kam als Vierundzwanzigjähriger nach Argentinien und ließ sich in Córdoba nieder. Pietro, der ein aufregenderes, mondäneres Leben bevorzugte, entschied sich für Buenos Aires, wo er drei Jahre später an einer rätselhaften Halsentzündung starb. Der Tod seines Bruders war ein harter Schlag für Alfredo, über den er nicht hinweggekommen wäre, hätte es damals nicht die kleine Francesca gegeben.

Er hatte den Sizilianer Vincenzo de Gecco an Deck der Stella del Mare kennengelernt und war überrascht von dessen Besonnenheit und Klugheit. Auch die Entschlossenheit und Willensstärke, mit denen er der Welt zu trotzen gedachte, zogen ihn an. Genau wie er war Vincenzo aus seinem Heimatort Santo Stefano di Camastro geflohen, einem kleinen Örtchen im Norden Siziliens am Tyrrhenischen Meer. Nichts anderes als Fischer sollte er werden, das erwartete man von ihm. Es gab Konflikte; unter anderem war die Familie nicht mit seiner Verlobten Antonina D’Angelo einverstanden, die aus einem Nachbardorf stammte, das seit ewigen Zeiten mit Santo Stefano verfeindet war. Das Mädchen, eine neunzehnjährige Waise, die von einer alten Tante aufgezogen wurde, zögerte nicht, noch in derselben Nacht mit ihrem Geliebten nach Palermo durchzubrennen, von wo sie nach Genua weiterreisten, nachdem sie geheiratet hatten. Dort nahmen sie das erste Schiff nach Argentinien, einem Land, von dem sie so viel gehört hatten.

Alfredo war sicher, dass Vincenzo niemals eine Schule abgeschlossen hatte. Trotzdem war er sehr wissbegierig und las alles, was ihm in die Finger kam. Vincenzo suchte Anschluss an Fredo, wie er ihn nannte, als er feststellte, dass dieser so gebildet und vornehm war, wie er es immer gerne gewesen wäre. Später in Córdoba verbanden sie der Schmerz des Entwurzeltseins und die Sehnsucht nach der Heimat.

Die Frau seines Freundes lernte Alfredo erst einige Tage später kennen. Das Mädchen litt unter starker Übelkeit und verbrachte die erste Zeit bei Tee und Zwieback auf ihrer Pritsche in der Kabine.

»Der Seegang und ihre Schwangerschaft machen ihr zu schaffen«, erklärte Vincenzo.

Irgendwann ging Alfredo zur Zeit der Mittagsruhe an Deck, um die Einsamkeit zu genießen. Gedankenverloren blickte er zum Horizont, den Kopf voller Fragen, und da sah er sie an der Reling stehen. Ihr blasses Gesicht betonte ihre roten Lippen und die schwarzen Augenbrauen. Ihre zarten Gesichtszüge passten wunderbar zum Rest ihres zierlichen, gut geformten Körpers. Er beschloss, sie anzusprechen, doch dann blieb er wie angewurzelt stehen, als er sah, wie Vincenzo zu ihr trat und sie um die Hüfte fasste. Das Mädchen drehte sich um und schlang die Arme um seinen Hals.


Alfredo sprang aus dem Sessel auf und lief im Kreis. Oh, wie sehr er Antonina liebte! Zwanzig Jahre hatten nichts an dieser Liebe ändern können, die eine doppelte Qual für ihn gewesen war: wegen des Verrats, den sie bedeutete, und wegen Antoninas Gleichgültigkeit, die nur Augen für ihren Mann hatte. Auch nach Vincenzos Tod, sechs Jahre nach ihrer Ankunft in Córdoba, hatte es Alfredo nicht gewagt, ihr seine Gefühle zu gestehen, die ihn verzehrten, denn es war offensichtlich, dass Vincenzos Dahinscheiden nichts an der Liebe geändert hatte, die Antonina für ihn empfand.

Es kam ihm vor, als hätte er Francescas Stimme im Vorzimmer gehört. Doch dann schüttelte er den Kopf: Er musste sich getäuscht haben, denn es dauerte noch Tage, bis sie vom Land zurückkommen sollte. »Francesca«, sagte er zu sich selbst, »was wäre ohne deine Zuneigung aus mir geworden?« Ihretwegen war er in Córdoba geblieben, obwohl er wusste, dass das Geld und die Macht des Landes in Buenos Aires saßen. Pietro, der sich gut in der Hauptstadt eingelebt hatte, hatte ihn gedrängt, doch zu ihm zu ziehen. Es wäre vernünftig gewesen, auf den Vorschlag seines Bruders einzugehen und sich Jahre freiwilliger Qualen in der Nähe einer Frau zu ersparen, die er wie von Sinnen liebte und von der er doch nichts anderes als Freundschaft bekam. Francesca aber, die auf die Welt gekommen war, um seine Dunkelheit zu erhellen, und die ihm jedes Mal ein Lächeln entlockte, war sein Lebensinhalt geworden. Seit er sie zum ersten Mal in den Armen gehalten hatte, war etwas zwischen ihnen, das ebenso stark war wie Blutsbande. Fredo war es leid, um Zuneigung zu betteln und sie doch nie zu bekommen. Daher genoss er es, dass die Beziehung zu seinem Patenkind auf Gegenseitigkeit beruhte.

Francesca begrüßte Nora, die Sekretärin ihres Onkels und seit einiger Zeit auch seine Geliebte. Irgendwann hatte sie ein Seidentuch und ein Paar Ohrringe in Fredos Wohnung gefunden und sich erinnert, sie schon einmal an Nora im Büro gesehen zu haben. Obwohl sie ein offenes Verhältnis zu ihrem Onkel hatte und sonst kein Blatt vor den Mund nahm, gelang es ihr nicht, ihn darauf anzusprechen. Anfangs ließ sie ihren Ärger an Nora aus, die sie eigentlich für hübsch, intelligent und sympathisch hielt. Sie grüßte sie mürrisch, leitete Nachrichten nicht weiter und versteckte Unterlagen und Akten. Bis sie Nora bitterlich weinend auf der Damentoilette entdeckte. Die Sekretärin erzählte ihr, das sie ein furchtbar wichtiges Schriftstück verlegt habe, das Herr Visconti seit dem Morgen verlange.

»Ich habe es gestern abgelegt, bevor ich gegangen bin«, schluchzte sie. »Wenn das Papier nicht auftaucht, bringt er mich um, und ich verliere meine Arbeit.«

Francesca ging rasch zu ihrem Schreibtisch, nahm das erwähnte Schriftstück aus der Schublade und legte es an seinen Platz zurück, wo sie es unter andere Papiere schob. Nora erschien mit roter Nase und verquollenen Augen. Auf Francescas Betreiben leerten sie Kisten, Aktenschränke und Mappen, bis sie das Dokument gefunden hatten. Nora war unglaublich froh und erleichtert. Sie umarmte Francesca, die versicherte, sie habe doch nichts Besonderes gemacht, außer alles noch einmal in Ruhe durchzusehen.

»Jetzt weiß ich, warum dein Onkel dich so gern hat«, versicherte sie aufrichtig.

Nun, schließlich hatte Onkel Fredo das Recht, sich zu verlieben, räumte Francesca widerwillig und immer noch eifersüchtig ein. Sie änderte ihr Verhalten Nora gegenüber, grüßte sie jetzt freundlich und unterhielt sich manchmal sogar mit ihr. Aber sosehr sie sich auch bemühte, die Sekretärin zu mögen – sie sah, dass Fredo nicht glücklich war. Seine Augen waren immer noch traurig, sein Gang mühsam schleppend.

Francesca betrat das Büro ihres Onkels, ohne vorher anzuklopfen. Überrascht sprang Fredo auf, lief auf sie zu und drückte sie an sich. Vor einiger Zeit hatte sie bemerkt, dass ein Leuchten auf dem Gesicht ihres Onkels erschien, wenn er sie sah, und seine normalerweise eintönige, müde Stimme sich aufhellte. Auch in Gegenwart ihrer Mutter fiel ihr diese Veränderung auf.

»Was für eine Überraschung!«, sagte der Mann zum wiederholten Male. »Es waren noch so viele Tage bis zu deiner Rückkehr!«

»Gar nicht so viele, Onkel. Nur eine Woche.«

»Für mich zu viele. Warum bist du überhaupt früher zurückgekommen? Haben dich deine Freunde auf dem Land schon gelangweilt?«

»Nein, natürlich nicht«, versicherte sie. »Señora Celia hat wie immer alles kaputtgemacht. Ich weiß nicht, was mal wieder in ihrem Kopf vorgeht, aber heute Morgen in aller Herrgottsfrühe hat sie uns gesagt, dass wir nach Córdoba zurückfahren sollen.«

»Aha, deine Mama ist also auch da«, sagte Fredo.

»Ja«, bestätigte Francesca und setzte hinzu: »Ich bin so enttäuscht! Ich konnte mich nicht mal von Jacinta und Cívico verabschieden. Ich hoffe, Sofía erzählt ihnen, was vorgefallen ist, sonst werden sie beleidigt sein. Und von Rex konnte ich mich auch nicht verabschieden!«

Für einen Moment war sie versucht, ihm von Aldo zu erzählen, doch dann ließ sie es bleiben und schwieg.

***

Es war acht Uhr morgens, und Aldo hatte schlechte Laune. Er hatte nur drei Stunden geschlafen, nachdem er sich lange im Bett herumgeworfen hatte, aufgewühlt von der Erinnerung an Francesca. Er begehrte sie. Er liebte sie. Das wusste er jetzt.

In Gedanken sah er Dolores vor sich. Wütend trat er einen Schuh weg. Er hätte sie niemals anrühren dürfen! Wie sollte er die Verlobung lösen, nachdem er mit ihr geschlafen hatte, einem so tiefgläubigen Mädchen? Es wäre ein Familienskandal. Seine Eltern, vor allem seine Mutter, wollten diese Verbindung mit den Sánchez Azúas unbedingt. Ihrer beider Vermögen zusammen, so sagte sie, wäre eines der größten im ganzen Land. Es würde nicht einfach werden, die reiche Erbin loszuwerden und die Tochter der Köchin zu heiraten. Aber er wusste, es gab für ihn keinen anderen Weg.

In diesem Aufruhr der Gefühle fiel Aldo wieder ein, dass Celia ihn hatte rufen lassen. Er zog sich fertig an und verließ das Schlafzimmer. Es war eine beunruhigende Vorstellung, mit seiner Mutter alleine zu sein. Von klein auf hatte sie ihm Angst eingeflößt. Jetzt, achtundzwanzig Jahre später, musste er sich beschämt eingestehen, dass sich daran nichts geändert hatte. Celia besaß die Gabe, ihn mit Blicken zu demütigen. Der verächtliche, harte Zug um ihren Mund ließ ihn verstummen. Traurig dachte er daran zurück, dass er lieber nach La Salle ins Internat gegangen war, als mit ihr zusammenzuleben. »Ich wäre traurig, wenn meine Mutter so wäre wie Ihre.« Francescas unbedarfte Ehrlichkeit entlockte ihm ein Lächeln. Es stimmt, dachte Aldo. Aber jetzt, wo ich dich habe, ist das alles bedeutungslos geworden, solange du bei mir bist. Er klopfte an die Tür.

»Ich möchte, dass du heute mit Dolores und ihrer Mutter nach Alta Gracia fährst«, befahl Celia, als ihr Sohn das Zimmer betrat. »Ihr übernachtet im Sierras, amüsiert euch im Casino und bleibt dort bis morgen.«

Aldo sah sie verblüfft an. Seit wann bestimmte seine Mutter über seine Freizeitaktivitäten? Er wollte widersprechen und trat einen Schritt vor. Celia schnitt ihm mit einem Blick das Wort ab.

»Du hast Dolores allein gelassen. Carmen hat es mir gestern erzählt. Sie war bestürzt.«

»Ich glaube, weder Sie noch Señora Carmen haben sich in meine Angelegenheiten mit Dolores einzumischen. Wir sind beide erwachsen und wissen, was wir wollen.«

Celia hob eine Augenbraue und lächelte sarkastisch.

»Ihr wisst also, was ihr wollt, ja? Und was willst du? Die Tochter der Köchin schwängern und einen Bastard mit ihr zeugen?«

Aldo wusste nicht, was er antworten sollte. Die plötzliche Angst, die seinen Körper durchströmte wie Gift, machte ihn wehrlos. Die Zuversicht, die er empfunden hatte, bevor er das Zimmer betrat, löste sich in Luft auf.

»Das Geturtel mit diesem Gör ist vorbei. Gleich morgen, wenn du aus Alta Gracia zurückkommst, wirst du die Hochzeit mit Dolores ankündigen. Spätestens nächsten Monat werdet ihr heiraten.«

»Wofür zum Teufel halten Sie sich, mir zu sagen, wen ich heiraten soll?«, begehrte Aldo auf.

Mit einer Behändigkeit, die man von einer Frau ihres Alters nicht erwartet hätte, stürzte sich Celia auf ihren Sohn und ohrfeigte ihn. Aldo sank auf einen Stuhl, legte den Kopf in die Hände und versuchte sich zu beruhigen.

»Hören Sie, Mama«, sagte er schließlich. »Ich erwarte gar nicht, dass Sie mich verstehen. Das haben Sie nicht getan, als ich ein Kind war, und jetzt, da ich ein Mann bin, erst recht nicht. Aber Sie sollen wissen, dass ich Francesca liebe und willens bin, sie zu heiraten, wenn sie mich nimmt.«

»Sie heiraten? Ein Martínez Olazábal und die Tochter ungebildeter, grobschlächtiger Einwanderer? Die Tochter der Köchin! Niemals, solange ich es verhindern kann!«

»Und wie wollen Sie mich daran hindern? Ich bin nicht mehr der zu Tode verängstigte Junge, den Sie nach Belieben herumkommandieren können. Ich bin ein erwachsener Mann und werde tun, wonach mir der Sinn steht. Ich heirate Francesca und basta.«

»Ein Mann?«, ätzte Celia. »Ein Mann, der nicht arbeitet, sondern von dem monatlichen Scheck seiner Eltern lebt? Das ist ein Mann für dich? Glaub bloß nicht, dass du noch einen Centavo aus meiner Tasche erhältst, wenn du dich mit diesem Flittchen einlässt.«

»Nenn sie nicht so! Das lasse ich nicht zu!«

»Sei doch nicht dumm, Aldo«, versuchte es Celia in versöhnlicherem Ton. »Wenn du bei Francesca das schnelle Vergnügen gesucht hast – in Ordnung, das verstehe ich.«

»Sie wissen ja nicht, was Sie da reden. Zwischen mir und Francesca ist nie etwas gelaufen. Sie ist eine Dame.«

Celia konnte ihre Überraschung nicht verhehlen. Aber wenn es so war, musste die Sache ernst sein.

»Umso besser«, flüchtete sie sich in Sarkasmus, »dann bleibt uns wenigstens die Schmach eines Bastards erspart.«

Aldo beschloss, lieber das Zimmer zu verlassen. Noch eine Beleidigung, und er konnte für nichts mehr garantieren. Doch bevor er gehen konnte, schleuderte ihm seine Mutter entgegen: »Entweder du heiratest Dolores, oder du kannst dich von dem Luxusleben und dem Müßiggang verabschieden, die du gewöhnt bist.«

»Das ist mir völlig egal. All das bedeutet mir nichts«, versicherte Aldo und kehrte seiner Mutter den Rücken zu.

»Wir werden ja sehen, ob es dir nichts ausmacht, wie ein Sklave zu schuften und für einen Hungerlohn an der Uni zu unterrichten. Denn mit dem Philosophiestudium, für das du dich entschieden hast«, bemerkte sie abschätzig, »wirst du nichts anderes anfangen können. Dann ist Schluss mit den Europareisen, der Mitgliedschaft im Jockey Club, den Maßanzügen aus London und den italienischen Schuhen. Du wirst dir ein schäbiges Zimmer mieten und jeden Tag Eintopf essen müssen. Aber den kann dir ja deine Francesca immer kochen.«

Aldo ging hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.

***

Als Vincenzo starb, bot Alfredo Antonina an, für sie und das Kind zu sorgen. Doch die junge Witwe war zu stolz und drohte sogar damit, die Freundschaft zu beenden, wenn er noch einmal davon anfing. Daraufhin schlug Fredo vor, wenigstens Francesca unterstützen zu dürfen, da sie ja immerhin sein Patenkind sei. Nach langem Hin und Her erreichte er schließlich, dass Antonina ihm erlaubte, für die Ausbildung des Mädchens aufzukommen.

Von klein auf erhielt Francesca von ihrem Onkel geistige Anregung und begeisterte sich fürs Lesen und jede Form von Kunst. Als Liebhaber der großen Klassiker der Literatur bestückte Fredo die Bibliothek seines Patenkindes mit Shakespeare, Cervantes, Dante, Goethe und anderen mehr. Francesca wiederum schwärmte für die Brontë-Schwestern und Jane Austen und fand es bedauerlich, dass sie so jung gestorben waren und nur ein schmales Werk hinterlassen hatten. Stolz und Vorurteil hatte sie dreimal gelesen, einmal davon mit Miss Duffys Hilfe auf Englisch. Neben Jane Eyre mit dem faszinierenden Edward Rochester als geheimnisvollem Geliebtem gehörte es zu ihren Lieblingsbüchern.

Die Liebe zur Oper und zu Beethoven entstand wie von selbst, und Alfredo, der glücklich war, eine so gelehrige Schülerin gefunden zu haben, die seinen Ausführungen über Kavatinen, Allegros, Soprane, Tenöre und Dirigenten jederzeit gerne lauschte, vermittelte ihr alles, was er wusste. Sie gingen häufig zu den Vorstellungen im Teatro San Martín und träumten von einem – immer wieder auf später verschobenen – Besuch im Teatro Colón, das laut Fredo die beste Akustik der Welt hatte. Francesca träumte seit Jahren von diesem Opernbesuch in der Hauptstadt, aber ihre Mutter weigerte sich, sie fahren zu lassen.

Die Auswahl der Schule, die sein Patenkind besuchen sollte, stellte für Fredo kein großes Problem dar: Er entschied sich einfach für die beste, die Sagrado Corazón, die von französischen Nonnen geleitet wurde und für ihre Strenge bekannt war. Fredo machte sich eigentlich nicht viel aus Religion und Benimmregeln, die Francesca in ihren zwölf Schuljahren natürlich dennoch verinnerlichte. Ihm ging es vielmehr darum, dass sie Französisch lernte, eine Sprache, die das Mädchen schließlich fließend beherrschte. Miss Duffy, die Privatlehrerin der Martínez Olazábals, hatte sich bereit erklärt, Francesca in ihrer Freizeit gegen eine lächerlich geringe Summe Englischunterricht zu erteilen.

»Ich nehme das Geld, Señor Visconti«, hatte die Irin gesagt, »weil Antonina mit Sicherheit etwas dagegen hätte, wenn ich es unentgeltlich machen würde. Aber wissen Sie, ich mag das Mädchen so gern, dass ich sie mit Freuden auch umsonst unterrichten würde.«

Mit ihrer Mutter sprach Francesca den schwerverständlichen sizilianischen Dialekt, der allerdings eine gute Grundlage war, um Italienisch zu lernen, das Fredo ihr beibrachte.

Alfredo sah zu Francesca hinüber, die gerade mit der Korrektur eines Artikels beschäftigt war, und stellte voller Stolz fest, dass sie bestens geraten war. »Sie ist wie mein eigen Fleisch und Blut«, dachte er.

»Ich dachte, du wärst in einer Besprechung mit dem Chefredakteur«, sagte das Mädchen, als es aufblickte und ihn vor sich stehen sah.

»Ich bin eben zurückgekommen«, antwortete Fredo, »und als ich gesehen habe, wie konzentriert du arbeitest, fand ich, dass du dir einen freien Nachmittag verdient hast.«

Francesca willigte ein. Letzte Nacht hatte sie kein Auge zugetan. Sie war müde und ausgelaugt. Der Februar neigte sich dem Ende zu – vor einem Monat waren sie und ihre Mutter aus Arroyo Seco abgereist –, und sie hatte immer noch keine Nachricht von Aldo. Sie verging fast vor Sehnsucht danach, von ihm zu hören und ihn zu sehen. Sie schlief schlecht, hatte keinen Appetit und musste sich zusammenreißen, um sich auf der Arbeit zu konzentrieren. Von Rosalía wusste sie, dass Aldo, Dolores und Señora Carmen noch auf der Estancia waren und offensichtlich nicht daran dachten, nach Buenos Aires zurückzukehren. Einerseits beruhigte sie das, weil er auf diese Weise nach wie vor in der Nähe war. Aber die bedrohliche Gegenwart von Dolores machte ihr sehr zu schaffen.

Das Verlagsgebäude von El Principal am Boulevard Chacabuco war nur ein paar Straßen vom Stadtpalais der Martínez Olazábals entfernt, wie die Leute in Córdoba die beeindruckende Villa im französischen Stil nannten. Sie befand sich gegenüber der Plaza España, im Herzen des Stadtviertels Nueva Córdoba, und nahm einen ganzen Häuserblock ein. Sie lag inmitten einer Parkanlage mit Springbrunnen und Marmorstatuen und war von einem drei Meter hohen schmiedeeisernen Zaun umgeben, den Estebans Großvater extra aus Frankreich hatte kommen lassen.

Als Angehörige des Personals war es Francesca untersagt, das Palais durch den Vordereingang an der Avenida Hipólito Irigoyen zu betreten. Sie musste den am Boulevard Chacabuco benutzen. Sie überquerte die Calle Derqui, und als sie fast den Eingang erreicht hatte, sah sie überrascht, wie ein roter Sportwagen mit quietschenden Reifen vom Anwesen auf die Straße einbog. Ihr Herz machte einen Satz, als sie Aldo hinter dem Lenkrad erkannte. Das letzte Stück rannte sie.

»Aldo!«, rief sie, aber der Wagen hielt nicht an.

Francesca sah ihm hinterher, bis Ponce, der Gärtner, zu ihr kam und ihr sagte, dass ihre Mutter drinnen auf sie warte. Sie ging in die Küche, wo Janet, die alte Hausdame, Anweisungen erteilte und das Personal herumscheuchte. Rosalía tuschelte kichernd mit Antonina, und Timoteo, der Chauffeur, stellte fest, dass es »das gesellschaftliche Ereignis des Jahres« werden würde.

»Was ist los, Timoteo? Weshalb sind alle so aufgeregt?«, erkundigte sich Francesca.

Als Janet das mitbekam, sagte sie mit wie immer überheblicher Miene: »Hast du’s noch nicht gehört? In drei Wochen steht uns eine Feier ins Haus: Der junge Herr Aldo heiratet Fräulein Sánchez Azúa.«